Sächsische Zeitung (Dresdner Meißner Land)
Hat das Land die Lust auf Arbeit verloren?
Vier-Tage-Woche, Homeoffice, Work-Life-Balance – viele Menschen machen im Job halblang. Warum eigentlich? Wirtschaftspsychologe Ingo Hamm hat Antworten.
Herr Hamm, in Deutschland arbeiten Menschen immer weniger, die Produktivität sinkt. Haben wir keine Lust mehr zu arbeiten?
Ja. Das Phänomen begegnet uns überall. Wir reden über Work-Life-Balance, innere Kündigungen und den Vorruhestand. Junge Leute wollen noch nicht arbeiten, Ältere möchten gerne früher aufhören.
Woran liegt das?
Wir stecken in einer Identitäts- und Wirksamkeitskrise. Menschen erleben nicht mehr, dass das, was sie tun, etwas bewirkt. Das bezieht sich sowohl auf das Privat- als auch auf das Arbeitsleben.
Anders gesagt: Es soll nicht egal sein, ob ich da bin oder nicht?
Die Menschen suchen nach Identität. Und Identität resultiert daraus, dass ich etwas tue und Dinge bewege, das muss nicht die Weltrettung sein, es können auch kleine Sachen sein. Ich baue ein Baumhaus für die Kinder, ich male ein Bild, ich schreibe ein Protokoll für die Arbeit oder ich repariere eine Toilette. Identität ergibt sich darüber hinaus aus einem Zugehörigkeitsgefühl. Ich fühle mich verbunden mit den Menschen um mich herum, im Privaten und bei der Arbeit, mit der Gesellschaft, dem Land. Hier ist leider vieles verloren gegangen.
Richtet Homeoffice Schaden an?
Ich befürchte, ja. Das Homeoffice bietet Flexibilität, aber sie ist teuer erkauft. In der neuen Arbeitswelt, der New Work, haben sich Strukturen aufgelöst. Feste Arbeitsplätze und feste Teamstrukturen werden aufgegeben, eigentlich will man auch keine Führung mehr. Aber diese vermeintliche Freiheit führt zu professioneller Einsamkeit. Wir sind frei, aber auch verloren. Ich muss mir meine Strukturen selbst schaffen.
Aber haben wir nicht gelernt, wie Homeoffice funktioniert?
Das Homeoffice killt Kreativität. Um als Team gut zu sein, muss man sich persönlich treffen und nicht über Kacheln kommunizieren. Online-Besprechungen sind eine Scheinnähe. Wir hinterlassen kaum noch Fußabdrücke am Arbeitsplatz.
Ist die Sehnsucht nach der Vier-TageWoche ein Versuch, sich von der Arbeit freizumachen? Oder werden wir einfach satt und faul?
Wer vom Vorruhestand träumt oder von einem langen Urlaub mit dem Wohnmobil, ist nicht faul. Die Menschen suchen nach ihrem Wirksamkeitserlebnis, und oft finden sie es im Privaten. Viele Leute engagieren sich im Ehrenamt oder treiben Sport. Die tun etwas, aber sie verwirklichen sich außerhalb des Jobs.
Trifft das auf die Jungen eher zu als auf die Älteren?
Auch die Jungen wollen arbeiten, aber sie fragen stärker nach dem Sinn.
Die Arbeitnehmergeneration, die am wirtschaftlichen Wohlstand mitgearbeitet hat, hat sich die Sinnfrage nicht gestellt. Die jetzige Rentnergeneration und die Boomer haben einfach gearbeitet. Was ist heute anders?
Früher gab es viel weniger Automatisierung und Digitalisierung. Die Menschen haben angepackt, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie haben gesehen, was sie mit ihren Händen bewirken konnten. Und Arbeit und Privatleben waren klar getrennt. Heute gibt es Arbeitgeber, die wollen, dass ihre Mitarbeiter nicht 100, sondern 120 Prozent geben.
Ist die Generation Z reflektierter als die Boomer, wenn es um Inhalte und den Wert der Arbeit geht?
Es gibt keine Mentalitätsunterschiede zwischen den Generationen. Die Alten haben stets gesagt, dass die Jungen zu wenig arbeiten, das war immer so. Manche von ihnen sind vielleicht auch neidisch. Die Jungen sind wählerischer, weil sie es sich leisten können. Arbeitgeber haben Probleme, Personal zu bekommen, und bieten jungen Bewerbern allerlei Extras, die Ältere nicht haben. Chefinnen und Chefs dürfen sich dann aber nicht beschweren, wenn die Jungen als Erstes fragen, was das Unternehmen ihnen zu bieten hat.
Welche Art von Job macht besonders unglücklich?
Die moderne Form der Fließbandarbeit macht unglücklich: Jobs mit hochgradiger Automatisierung, kleine, sich stets wiederholende Aufgaben. Das kann etwa ein Job in der Verwaltung sein, bei dem ich nur Formulare verwalte. Auch wenn jemand dauerhaft unter strenger Kontrolle steht, ist das ein Problem. Und es gibt noch einen dritten Punkt: Wenn jemand eine Arbeit macht, die nicht der eigentlichen Kompetenz entspricht, führt das ins Unglück.
Und dann? Soll man sich arrangieren?
Wenn ich mit dem Job halbwegs klarkomme, geht das.
Wer sollte sich nicht arrangieren, wer müsste etwas ändern?
Wenn ich mich jeden Morgen mit Widerwillen zur Arbeit schleppe, weiß ich, dass etwas nicht stimmt. Und dann muss ich herausfinden, ob das externe Ursachen hat – ein schlechter Chef, ein schwieriges Projekt, Umstrukturierungen im Unternehmen – oder in der Arbeit selbst begründet ist. Reden Sie mit Kollegen, machen Sie einen Berufsberatungstest im Internet oder lassen Sie sich von einem Karriereberater helfen, wenn Sie unsicher sind, was die Ursache des Übels ist. Notfalls müssen Sie sich einen neuen Job suchen.