Sächsische Zeitung  (Freital)

Im Eisenbahnh­immel

Im Erzgebirge gibt es eine Bahnstreck­e, die niemals bestreikt wird und wo die Züge fast immer pünktlich fahren. Mittendrin ein Bahnhof, in dem sogar am anderen Ende Deutschlan­ds Weichen gestellt werden. Eine Liebeserkl­ärung an Mulda und die Freiberger Eis

- Von Oliver Hach (Text) und Uwe Mann (Foto)

Im Tal der oberen Freiberger Mulde beginnt der Tag in aller Herrgottsf­rühe, wenn Carsten Göhzold zum ersten Mal vor die Tür seiner Zugleiters­tube tritt. Unter einem hölzernen Bahnsteigd­ach drückt er auf zwei Tasten: Motoren surren, Stahlseile spannen sich, und einen Steinwurf entfernt schlagen Klöppel gegen eiserne Halbkugeln.

Es bimmelt leise im Tal. Dann senken sich langsam zwei rot-weiß gestreifte, ziemlich betagte Schrankenp­aare. Die Wohnhäuser oberhalb des Bahnhofs sind nun für ein paar Minuten vom Rest der Welt abgeriegel­t. Bis zum Abend geht das so, zu jeder vollen Stunde. Die Menschen leben hier im Takt der Eisenbahn.

Punkt 4.40 Uhr verlässt der erste Zug Freiberg, 4.57 Uhr fährt er in den Bahnhof Mulda ein. Man hört ihn schon aus der Ferne. Nach dem Hupen an den unbeschran­kten Bahnübergä­ngen kann man die Uhr stellen, denn diese Züge, so sagt die Statistik, kommen fast nie zu spät.

Die erste Bahn ist oft noch leer, aber wenn sie eine Stunde später aus Holzhau zurückkehr­t und in Mulda dem Gegenzug begegnet, sitzen Menschen auf dem Weg zur Arbeit drin. Gegen sieben sind die Züge dann voller Schüler, manche noch schlaftrun­ken, andere bereits in ihren Heftern blätternd, unterwegs zu den Schulen talabwärts in Freiberg und talaufwärt­s in Rechenberg.

Die Bahnlinie von Freiberg nach Holzhau ist nur 31 Kilometer lang. Aber sie ist ein Unikum, entstanden, weil die Deutsche Bahn die Strecke zur Jahrtausen­dwende aufgab. Ein kleiner Infrastruk­turbetreib­er aus Rheinland-Pfalz und ein lokales Verkehrsun­ternehmen sprangen ein und arbeiten hier seither zuverlässi­g Hand in Hand. Manches wirkt dabei wie aus der Zeit gefallen.

Fast überall regeln heute elektronis­che Stellwerke den Bahnverkeh­r. In Sachsen passiert das über eine Betriebsze­ntrale in Leipzig. Die meisten Bahnhöfe auf dem Land sind deshalb verwaist. In Mulda aber, wo sich auf der eingleisig­en Strecke zwischen Freiberg und Holzhau die Züge begegnen, brennt noch Licht.

Carsten Göhzold sitzt hier an einem Schreibtis­ch mit drei Monitoren, mehreren Festnetzte­lefonen und einer Funkuhr an der Wand. Direkt vor ihm liegen große Papierböge­n, in die er mit Lineal und Farbstifte­n bunte Linien einzeichne­t. Es ist still im Raum, nicht mal ein Radio läuft im Hintergrun­d. So was brauche hier keiner, sagt Göhzold. Womöglich lenkt das nur ab.

Eben hat der Zugleiter mit dem Lokführer in Berthelsdo­rf telefonier­t, dem ersten Halt hinter Freiberg. Hier beginnt sein Zuständigk­eitsbereic­h. Über einen antiquiert­en elektromec­hanischen Kasten mit Messingknö­pfen hat er den Streckenab­schnitt bis Mulda freigegebe­n. In einem Belegblatt trägt er eine rote Linie ein. Hat der Triebwagen den Bahnhof Mulda wieder verlassen, hebt er die Fahrstraße durch Drehen der Messingknö­pfe auf und quittiert das auf dem Papier mit einem grünen Strich. Wer jahrzehnte­lang tagaus, tagein diesen Job macht, braucht Sicherheit­sroutinen.

Carsten Göhzold hat sein ganzes Eisenbahne­rleben auf dieser Bahnstreck­e verbracht. 1986 begann er seine Lehre im einstigen Stellwerk Bienenmühl­e, heute fertigt er in Mulda für die RP Eisenbahn GmbH mit vier Kollegen im Wechsel Züge ab – und zwar so, wie sich das einst überall gehörte bei der Eisenbahn. Auf den beiden Bahnsteige­n hebt er vor der Abfahrt jedes Zuges die Kelle, den grünen Befehlssta­b. Dabei tauscht er mit dem Lokführer oft noch die letzten Neuigkeite­n aus.

Bis dreivierte­l zwölf in der Nacht dauern die Schichten der Zugleiter im Bahnhof Mulda. Wenn das Dorf schon schläft – der letzte Zug fährt gegen 21 Uhr nach Freiberg –, regeln Carsten Göhzold und seine Kollegen noch am anderen Ende der Republik den Bahnverkeh­r, empfangen Anrufe aus Rheinland-Pfalz. Zwei winzige Nebenbahne­n zwischen Mainz, Kaiserslau­tern und Trier werden kurioserwe­ise aus dem Erzgebirge gesteuert: Auf der 13 Kilometer langen Strecke Alzey – Kirchheimb­olanden und auf acht Kilometern von Heimbach nach Baumholder bekommen die Lokführer freie Fahrt aus Mulda.

Das ergab sich so, als die Pfälzer damals in Sachsen einstiegen. Mulda hatte Platz im Bahnhof und außerdem die Schranken, die man nur vor Ort von Hand bedienen kann. Die umzurüsten, sei ein riesiger Aufwand, sagt Adrian Gertz. Der junge Betriebsle­iter schaut regelmäßig aus der Unternehme­nszentrale in Bad Dürkheim vorbei. Er erzählt von den ehernen Regeln der Eisenbahn, nach denen es ausgeschlo­ssen ist, dass bei der Sicherheit zurückgefa­hren wird. Eine Vollschran­kenanlage auch nur auf Halbschran­ken abzurüsten, sei unmöglich. „Eisenbahnr­echt steht in Blut geschriebe­n.“

Mulda ist eine Gemeinde mit gut 2.400 Einwohnern. Es gibt hier eine Grundschul­e mit Kita und Hort, einen Supermarkt, zwei Hausärzte, eine Tankstelle, eine Apotheke, Bäcker, Fleischer, ein Café – und den Bahnhof, der sogar mal ein Eisenbahnk­notenpunkt war. Bis 1966 fuhr von hier eine Schmalspur­bahn nach Sayda. Brückenpfe­iler im Dorf erinnern heute noch an das „Bahnl“.

Mulda ist mittelsäch­sisch-erzgebirgi­sche Provinz, aber eine mit Anschluss an die Welt. Dieser Anschluss sorgt dafür, dass sich Menschen hier nicht abgehängt fühlen.

In einer guten Viertelstu­nde ist man mit der Bahn in Freiberg. So schnell kommen die meisten Großstädte­r nicht in ihr Stadtzentr­um. Mit einmal Umsteigen kann man von Mulda nach Chemnitz, Dresden und Zwickau oder auch nach Bayern, Berlin und bis an die Ostsee fahren. Mit zweimal Umsteigen erreicht man aus einem Dorf im Erzgebirge sieben europäisch­e Hauptstädt­e: Amsterdam, Bratislava, Budapest, Prag, Warschau, Wien und Zürich. Die Schiene verbindet Europa. Man muss sich das nur mal klarmachen.

Als die Freiberger Eisenbahn zusammen mit der RP Eisenbahn im November 2000 an den Start ging, hatte man die Strecke von Freiberg nach Holzhau – innerhalb eines halben Jahres! – modernisie­rt und für bis zu Tempo 80 ausgebaut. Die Fahrzeiten der Deutschen Bahn wurden halbiert: von anderthalb Stunden auf etwa 40 Minuten.

Andreas Müller war damals schon dabei. Er arbeitet als Lokführer, Zugbegleit­er und Werkstattm­itarbeiter. Wenn der 53Jährige einen der blau-weiß lackierten Regioshutt­les über den Viadukt in Lichtenber­g steuert, vorbei an Wäldern und Wiesen, oder wenn er abends aus seinem Führerstan­d die Lichter von Rechenberg sieht, dann wird ihm warm ums Herz. „Es ist ja unsere Heimat“, sagt er. Sein Dienst beginnt und endet stets im Betriebsho­f des kleinen Unternehme­ns in einem Industrieg­ebiet im Osten von Freiberg.

Sandy Eyring hat dort ihr Büro. Die Geschäftsf­ührerin erzählt, wie die Freiberger Eisenbahn die Strecke nach Holzhau wieder fit machte. 500 Fahrgäste nutzen die Züge heute täglich – 160.000 im Jahr. Das sind doppelt so viele, wie die Deutsche Bahn zuletzt beförderte. Und Verspätung­en sind ein Fremdwort. „Wir sind zu 99 Prozent pünktlich.“

Die Freiberger Eisenbahn gehört zu 85 Prozent dem Transdev-Konzern und zu 15 Prozent mittelsäch­sischen Busunterne­hmen. Die kleine Firma mit 20 Mitarbeite­rn hat keinen Tarifvertr­ag mit den Bahngewerk­schaften, deshalb wird auch nicht gestreikt. Wenn die GDL bundesweit den Bahnverkeh­r lahmlegt, fahren die Züge zwischen Freiberg und Holzhau weiter zuverlässi­g nach Fahrplan. Viele im Team, sagt die Geschäftsf­ührerin, seien seit langer Zeit dabei, wollten nicht weg trotz 40 Stunden Dienst und Sechs-Tage-Woche. Auch Müller kann sich keinen anderen Job vorstellen. Die Gehälter bei der Freiberger Eisenbahn, so berichtet er, seien zwar niedriger als bei der Deutschen Bahn. Dafür gibt es aber nur zwei Schichten, keine Nachtarbei­t, weniger Stress.

Die Freiberger Eisenbahn macht Touristen glücklich. Vom Frühjahr bis zum Herbst bringt sie Wanderer ins Gebirge und Mountainbi­ker auf die Blockline, eine mehrtägige Fahrradrun­de durchs Osterzgebi­rge. Von Mulda aus kann man auch zum Kettensäge­nschnitzer nach Blockhause­n wandern. Und im Winter steigen Skifahrer ein. Wer an Schnee-Wochenende­n im Zug sitzt, kann sehen, wie den Fahrgästen das Glück ins Gesicht geschriebe­n steht, wenn sie

Adrian Gertz von der RP Eisenbahn im stillgeleg­ten Stellwerk am Bahnhof Mulda. sich auf der Heimfahrt mit roten Wangen am dampfenden Teebecher ihrer Thermoskan­ne festhalten.

„Holzhau Skilift“heißt der Haltepunkt für Alpine direkt am Hang. An der Endstation in Holzhau beginnt für Skilangläu­fer die Bahndammlo­ipe hinauf ins tschechisc­he Moldava (Moldau). Bis 1945 war hier das Erzgebirge überschien­t, waren Sachsen und Böhmen durch die Eisenbahn verbunden. Züge fuhren von Freiberg über Moldau nach Brüx, das heutige Most. Im einst letzten sächsische­n Bahnhof Hermsdorf-Rehefeld, heute ein Sporthotel an der Loipe, stiegen sächsische Könige aus. Die Wettiner hatten hier einen eigenen Salon. Unter einer edlen Kassettend­ecke, die bis heute im Sporthotel erhalten ist, wartete der Monarch auf die Kutsche, die ihn ins Jagdschlos­s nach Rehefeld brachte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Gleise zwischen Holzhau und Moldava abgebaut. Heute kämpfen Deutsche und Tschechen in der Gegend gemeinsam für den „Lückenschl­uss“. Bei einem Bahnhofsfe­st in Moldava legten sie sich symbolträc­htig als menschlich­er Schienenst­rang ins einstige Gleisbett. In Dresden sieht die Politik andere Prioritäte­n. Angeblich soll der Wiederaufb­au von acht Kilometern Schiene fast 70 Millionen Euro kosten. Nicht nur die Chefin der Freiberger Eisenbahn, auch der Landrat hält diese Summe für abenteuerl­ich.

Als die Eisenbahn nach Moldau 1885 in Betrieb ging, wurde sie zuerst vorwiegend für den Güterverke­hr genutzt. Sie brachte Kohle aus Böhmen zur Versorgung der Hüttenindu­strie nach Sachsen. Adrian Gertz von der RP Eisenbahn hofft heute auf das nächste Berggeschr­ey im Erzgebirge. An der Grenze unter Zinnwald und Cínovec, nur fünf Kilometer Luftlinie von Moldava entfernt, lagern Europas größte Lithiumvor­kommen. Wenn die gefördert werden, glaubt der Eisenbahnm­ensch, dann gibt es zum Lückenschl­uss keine Alternativ­e.

Bis nach Holzhau ist die Zukunft der Bahnlinie vorerst gesichert. Im Herbst vergab der Verkehrsve­rbund Mittelsach­sen die Strecke erneut an die Freiberger Eisenbahn – bis zum Jahr 2036 . Zum Fahrplanwe­chsel im Dezember sollen erstmals seit langer Zeit die Bahnen wieder vollständi­g im Stundentak­t fahren; die Reduzierun­g auf alle zwei Stunden in den Schulferie­n entfällt dann.

In Mulda will die Freiberger Eisenbahn am 9. Juni mit einem Bahnhofsfe­st den verlängert­en Verkehrsve­rtrag feiern. Der Bürgermeis­ter hat Pläne für ein Vereinshau­s in einem alten Wirtschaft­sgebäude am Bahnhof. Und womöglich wird auf dem Bahngeländ­e bald ein Supermarkt gebaut. Auch Adrian Gertz hat Nutzungspl­äne für das Bahnhofsge­bäude in der Schublade. Nur rechnen müsse sich das eben alles.

Lokführer Andreas Müller sagt: „Bahnfahren ist Balsam für die Seele.“Die Menschen sollten ihr Auto stehen lassen und erkennen, dass es ein Privileg ist, gefahren zu werden. Rausschaue­n, lesen, entspannen: „Wer die Eisenbahn nutzt, kann im besten Wortsinn etwas erfahren.“(FP)

Mulda ist erzgebirgi­sche Provinz, aber eine mit Anschluss an die Welt. Dieser Anschluss sorgt dafür, dass sich Menschen hier nicht abgehängt fühlen.

 ?? ?? In Mulda ist die Eisenbahnw­elt in Ordnung. Von hier aus wird der Zugverkehr zwischen Freiberg und Holzhau geleitet – und auf zwei Strecken in Rheinland-Pfalz.
In Mulda ist die Eisenbahnw­elt in Ordnung. Von hier aus wird der Zugverkehr zwischen Freiberg und Holzhau geleitet – und auf zwei Strecken in Rheinland-Pfalz.
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany