Im Eisenbahnhimmel
Im Erzgebirge gibt es eine Bahnstrecke, die niemals bestreikt wird und wo die Züge fast immer pünktlich fahren. Mittendrin ein Bahnhof, in dem sogar am anderen Ende Deutschlands Weichen gestellt werden. Eine Liebeserklärung an Mulda und die Freiberger Eis
Im Tal der oberen Freiberger Mulde beginnt der Tag in aller Herrgottsfrühe, wenn Carsten Göhzold zum ersten Mal vor die Tür seiner Zugleiterstube tritt. Unter einem hölzernen Bahnsteigdach drückt er auf zwei Tasten: Motoren surren, Stahlseile spannen sich, und einen Steinwurf entfernt schlagen Klöppel gegen eiserne Halbkugeln.
Es bimmelt leise im Tal. Dann senken sich langsam zwei rot-weiß gestreifte, ziemlich betagte Schrankenpaare. Die Wohnhäuser oberhalb des Bahnhofs sind nun für ein paar Minuten vom Rest der Welt abgeriegelt. Bis zum Abend geht das so, zu jeder vollen Stunde. Die Menschen leben hier im Takt der Eisenbahn.
Punkt 4.40 Uhr verlässt der erste Zug Freiberg, 4.57 Uhr fährt er in den Bahnhof Mulda ein. Man hört ihn schon aus der Ferne. Nach dem Hupen an den unbeschrankten Bahnübergängen kann man die Uhr stellen, denn diese Züge, so sagt die Statistik, kommen fast nie zu spät.
Die erste Bahn ist oft noch leer, aber wenn sie eine Stunde später aus Holzhau zurückkehrt und in Mulda dem Gegenzug begegnet, sitzen Menschen auf dem Weg zur Arbeit drin. Gegen sieben sind die Züge dann voller Schüler, manche noch schlaftrunken, andere bereits in ihren Heftern blätternd, unterwegs zu den Schulen talabwärts in Freiberg und talaufwärts in Rechenberg.
Die Bahnlinie von Freiberg nach Holzhau ist nur 31 Kilometer lang. Aber sie ist ein Unikum, entstanden, weil die Deutsche Bahn die Strecke zur Jahrtausendwende aufgab. Ein kleiner Infrastrukturbetreiber aus Rheinland-Pfalz und ein lokales Verkehrsunternehmen sprangen ein und arbeiten hier seither zuverlässig Hand in Hand. Manches wirkt dabei wie aus der Zeit gefallen.
Fast überall regeln heute elektronische Stellwerke den Bahnverkehr. In Sachsen passiert das über eine Betriebszentrale in Leipzig. Die meisten Bahnhöfe auf dem Land sind deshalb verwaist. In Mulda aber, wo sich auf der eingleisigen Strecke zwischen Freiberg und Holzhau die Züge begegnen, brennt noch Licht.
Carsten Göhzold sitzt hier an einem Schreibtisch mit drei Monitoren, mehreren Festnetztelefonen und einer Funkuhr an der Wand. Direkt vor ihm liegen große Papierbögen, in die er mit Lineal und Farbstiften bunte Linien einzeichnet. Es ist still im Raum, nicht mal ein Radio läuft im Hintergrund. So was brauche hier keiner, sagt Göhzold. Womöglich lenkt das nur ab.
Eben hat der Zugleiter mit dem Lokführer in Berthelsdorf telefoniert, dem ersten Halt hinter Freiberg. Hier beginnt sein Zuständigkeitsbereich. Über einen antiquierten elektromechanischen Kasten mit Messingknöpfen hat er den Streckenabschnitt bis Mulda freigegeben. In einem Belegblatt trägt er eine rote Linie ein. Hat der Triebwagen den Bahnhof Mulda wieder verlassen, hebt er die Fahrstraße durch Drehen der Messingknöpfe auf und quittiert das auf dem Papier mit einem grünen Strich. Wer jahrzehntelang tagaus, tagein diesen Job macht, braucht Sicherheitsroutinen.
Carsten Göhzold hat sein ganzes Eisenbahnerleben auf dieser Bahnstrecke verbracht. 1986 begann er seine Lehre im einstigen Stellwerk Bienenmühle, heute fertigt er in Mulda für die RP Eisenbahn GmbH mit vier Kollegen im Wechsel Züge ab – und zwar so, wie sich das einst überall gehörte bei der Eisenbahn. Auf den beiden Bahnsteigen hebt er vor der Abfahrt jedes Zuges die Kelle, den grünen Befehlsstab. Dabei tauscht er mit dem Lokführer oft noch die letzten Neuigkeiten aus.
Bis dreiviertel zwölf in der Nacht dauern die Schichten der Zugleiter im Bahnhof Mulda. Wenn das Dorf schon schläft – der letzte Zug fährt gegen 21 Uhr nach Freiberg –, regeln Carsten Göhzold und seine Kollegen noch am anderen Ende der Republik den Bahnverkehr, empfangen Anrufe aus Rheinland-Pfalz. Zwei winzige Nebenbahnen zwischen Mainz, Kaiserslautern und Trier werden kurioserweise aus dem Erzgebirge gesteuert: Auf der 13 Kilometer langen Strecke Alzey – Kirchheimbolanden und auf acht Kilometern von Heimbach nach Baumholder bekommen die Lokführer freie Fahrt aus Mulda.
Das ergab sich so, als die Pfälzer damals in Sachsen einstiegen. Mulda hatte Platz im Bahnhof und außerdem die Schranken, die man nur vor Ort von Hand bedienen kann. Die umzurüsten, sei ein riesiger Aufwand, sagt Adrian Gertz. Der junge Betriebsleiter schaut regelmäßig aus der Unternehmenszentrale in Bad Dürkheim vorbei. Er erzählt von den ehernen Regeln der Eisenbahn, nach denen es ausgeschlossen ist, dass bei der Sicherheit zurückgefahren wird. Eine Vollschrankenanlage auch nur auf Halbschranken abzurüsten, sei unmöglich. „Eisenbahnrecht steht in Blut geschrieben.“
Mulda ist eine Gemeinde mit gut 2.400 Einwohnern. Es gibt hier eine Grundschule mit Kita und Hort, einen Supermarkt, zwei Hausärzte, eine Tankstelle, eine Apotheke, Bäcker, Fleischer, ein Café – und den Bahnhof, der sogar mal ein Eisenbahnknotenpunkt war. Bis 1966 fuhr von hier eine Schmalspurbahn nach Sayda. Brückenpfeiler im Dorf erinnern heute noch an das „Bahnl“.
Mulda ist mittelsächsisch-erzgebirgische Provinz, aber eine mit Anschluss an die Welt. Dieser Anschluss sorgt dafür, dass sich Menschen hier nicht abgehängt fühlen.
In einer guten Viertelstunde ist man mit der Bahn in Freiberg. So schnell kommen die meisten Großstädter nicht in ihr Stadtzentrum. Mit einmal Umsteigen kann man von Mulda nach Chemnitz, Dresden und Zwickau oder auch nach Bayern, Berlin und bis an die Ostsee fahren. Mit zweimal Umsteigen erreicht man aus einem Dorf im Erzgebirge sieben europäische Hauptstädte: Amsterdam, Bratislava, Budapest, Prag, Warschau, Wien und Zürich. Die Schiene verbindet Europa. Man muss sich das nur mal klarmachen.
Als die Freiberger Eisenbahn zusammen mit der RP Eisenbahn im November 2000 an den Start ging, hatte man die Strecke von Freiberg nach Holzhau – innerhalb eines halben Jahres! – modernisiert und für bis zu Tempo 80 ausgebaut. Die Fahrzeiten der Deutschen Bahn wurden halbiert: von anderthalb Stunden auf etwa 40 Minuten.
Andreas Müller war damals schon dabei. Er arbeitet als Lokführer, Zugbegleiter und Werkstattmitarbeiter. Wenn der 53Jährige einen der blau-weiß lackierten Regioshuttles über den Viadukt in Lichtenberg steuert, vorbei an Wäldern und Wiesen, oder wenn er abends aus seinem Führerstand die Lichter von Rechenberg sieht, dann wird ihm warm ums Herz. „Es ist ja unsere Heimat“, sagt er. Sein Dienst beginnt und endet stets im Betriebshof des kleinen Unternehmens in einem Industriegebiet im Osten von Freiberg.
Sandy Eyring hat dort ihr Büro. Die Geschäftsführerin erzählt, wie die Freiberger Eisenbahn die Strecke nach Holzhau wieder fit machte. 500 Fahrgäste nutzen die Züge heute täglich – 160.000 im Jahr. Das sind doppelt so viele, wie die Deutsche Bahn zuletzt beförderte. Und Verspätungen sind ein Fremdwort. „Wir sind zu 99 Prozent pünktlich.“
Die Freiberger Eisenbahn gehört zu 85 Prozent dem Transdev-Konzern und zu 15 Prozent mittelsächsischen Busunternehmen. Die kleine Firma mit 20 Mitarbeitern hat keinen Tarifvertrag mit den Bahngewerkschaften, deshalb wird auch nicht gestreikt. Wenn die GDL bundesweit den Bahnverkehr lahmlegt, fahren die Züge zwischen Freiberg und Holzhau weiter zuverlässig nach Fahrplan. Viele im Team, sagt die Geschäftsführerin, seien seit langer Zeit dabei, wollten nicht weg trotz 40 Stunden Dienst und Sechs-Tage-Woche. Auch Müller kann sich keinen anderen Job vorstellen. Die Gehälter bei der Freiberger Eisenbahn, so berichtet er, seien zwar niedriger als bei der Deutschen Bahn. Dafür gibt es aber nur zwei Schichten, keine Nachtarbeit, weniger Stress.
Die Freiberger Eisenbahn macht Touristen glücklich. Vom Frühjahr bis zum Herbst bringt sie Wanderer ins Gebirge und Mountainbiker auf die Blockline, eine mehrtägige Fahrradrunde durchs Osterzgebirge. Von Mulda aus kann man auch zum Kettensägenschnitzer nach Blockhausen wandern. Und im Winter steigen Skifahrer ein. Wer an Schnee-Wochenenden im Zug sitzt, kann sehen, wie den Fahrgästen das Glück ins Gesicht geschrieben steht, wenn sie
Adrian Gertz von der RP Eisenbahn im stillgelegten Stellwerk am Bahnhof Mulda. sich auf der Heimfahrt mit roten Wangen am dampfenden Teebecher ihrer Thermoskanne festhalten.
„Holzhau Skilift“heißt der Haltepunkt für Alpine direkt am Hang. An der Endstation in Holzhau beginnt für Skilangläufer die Bahndammloipe hinauf ins tschechische Moldava (Moldau). Bis 1945 war hier das Erzgebirge überschient, waren Sachsen und Böhmen durch die Eisenbahn verbunden. Züge fuhren von Freiberg über Moldau nach Brüx, das heutige Most. Im einst letzten sächsischen Bahnhof Hermsdorf-Rehefeld, heute ein Sporthotel an der Loipe, stiegen sächsische Könige aus. Die Wettiner hatten hier einen eigenen Salon. Unter einer edlen Kassettendecke, die bis heute im Sporthotel erhalten ist, wartete der Monarch auf die Kutsche, die ihn ins Jagdschloss nach Rehefeld brachte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Gleise zwischen Holzhau und Moldava abgebaut. Heute kämpfen Deutsche und Tschechen in der Gegend gemeinsam für den „Lückenschluss“. Bei einem Bahnhofsfest in Moldava legten sie sich symbolträchtig als menschlicher Schienenstrang ins einstige Gleisbett. In Dresden sieht die Politik andere Prioritäten. Angeblich soll der Wiederaufbau von acht Kilometern Schiene fast 70 Millionen Euro kosten. Nicht nur die Chefin der Freiberger Eisenbahn, auch der Landrat hält diese Summe für abenteuerlich.
Als die Eisenbahn nach Moldau 1885 in Betrieb ging, wurde sie zuerst vorwiegend für den Güterverkehr genutzt. Sie brachte Kohle aus Böhmen zur Versorgung der Hüttenindustrie nach Sachsen. Adrian Gertz von der RP Eisenbahn hofft heute auf das nächste Berggeschrey im Erzgebirge. An der Grenze unter Zinnwald und Cínovec, nur fünf Kilometer Luftlinie von Moldava entfernt, lagern Europas größte Lithiumvorkommen. Wenn die gefördert werden, glaubt der Eisenbahnmensch, dann gibt es zum Lückenschluss keine Alternative.
Bis nach Holzhau ist die Zukunft der Bahnlinie vorerst gesichert. Im Herbst vergab der Verkehrsverbund Mittelsachsen die Strecke erneut an die Freiberger Eisenbahn – bis zum Jahr 2036 . Zum Fahrplanwechsel im Dezember sollen erstmals seit langer Zeit die Bahnen wieder vollständig im Stundentakt fahren; die Reduzierung auf alle zwei Stunden in den Schulferien entfällt dann.
In Mulda will die Freiberger Eisenbahn am 9. Juni mit einem Bahnhofsfest den verlängerten Verkehrsvertrag feiern. Der Bürgermeister hat Pläne für ein Vereinshaus in einem alten Wirtschaftsgebäude am Bahnhof. Und womöglich wird auf dem Bahngelände bald ein Supermarkt gebaut. Auch Adrian Gertz hat Nutzungspläne für das Bahnhofsgebäude in der Schublade. Nur rechnen müsse sich das eben alles.
Lokführer Andreas Müller sagt: „Bahnfahren ist Balsam für die Seele.“Die Menschen sollten ihr Auto stehen lassen und erkennen, dass es ein Privileg ist, gefahren zu werden. Rausschauen, lesen, entspannen: „Wer die Eisenbahn nutzt, kann im besten Wortsinn etwas erfahren.“(FP)
Mulda ist erzgebirgische Provinz, aber eine mit Anschluss an die Welt. Dieser Anschluss sorgt dafür, dass sich Menschen hier nicht abgehängt fühlen.