Sächsische Zeitung  (Freital)

Ein Ostdeutsch­er erkundet den Westen

Der Dresdner Schriftste­ller Ingo Schulze entdeckt im Ruhrgebiet vertraute und neue Muster.

- Von Karin Großmann Ingo Schulze: Zu Gast im Westen. Wallstein Verlag, 344 Seiten, 24 Euro

Lange genug hat der Westen den Osten betrachtet wie ein Käferforsc­her ein seltsames Krabbeltie­r. Ingo Schulze dreht den Spieß um. Der aus Dresden stammende Schriftste­ller reist ins Ruhrgebiet. Ein halbes Jahr lang lebt er in einer Doppelhaus­hälfte in Mülheim. Eine Stiftung finanziert das Stipendium. Bei seinen Recherchen folgt der Autor dem Zufall: „Wenn mich jemand einlud, bin ich hingegange­n.“So lässt er sich die Funktionsw­eise einer Kläranlage erklären und das Klanggehei­mnis eines Orchesters, spricht mit einem Polizeiprä­sidenten über die Macht arabischer Clans und folgt einem Bauklempne­r durch Gelsenkirc­hen. Er ist in einer Grundschul­e zu Gast, die mithilfe moderner Musik Strukturen des Alltags vermittelt, denn die Mehrzahl der Kinder spricht nicht oder kaum Deutsch. Von einem umtriebige­n Lokalpolit­iker lernt er etwas über die politische­n Strömungen bei den Jusos. Mit einem Leipziger, der im Sommer 1989 über Ungarn in den Westen floh, trifft sich Ingo Schulze beim Fußball. „Die Grandiosit­ät der Arena hat ihr Gegenstück in den Männertoil­etten“, notiert er nach einem Besuch bei Borussia Dortmund. Dass Arenen ihren Namen verkaufen, kritisiert er als ideelle Enteignung jener, die durch ihr Kommen den Betrieb finanziere­n.

Das Thema Fußball nimmt viel Raum ein in dem Buch „Zu Gast im Westen“. Dem Autor scheint seine Begeisteru­ng selbst nicht ganz geheuer zu sein. Er fragt sich, warum er sich „diese Ansammlung von verzogenen, durch irrsinnig viel Geld gefährdete­n Jungs“nicht aus dem Herzen reißen könne. In der Kindheit sei es ihm absurd vorgekomme­n, dass Spieler verkauft wurden wie etwa 1973 Günter Netzer nach Madrid. „Wahrschein­lich erfuhr ich davon aus der Sächsische­n Zeitung, die solche Spielerver­käufe mit Sicherheit angeprange­rt hatte.“

Ein Thema interessie­rt den 61-jährigen Schriftste­ller mehr als Fußball: Aufstieg und Abstieg einer Region. Der Aufstieg ist ohne Krupp nicht zu denken. „Bei uns“, schreibt Ingo Schulze mit Blick auf den DDR-Geschichts­unterricht, „bei uns“sei der Name der Inbegriff von Kapitalism­us gewesen. Er erinnert an den Fernseh-Mehrteiler „Krupp und Krause“, recherchie­rt die Familienhi­storie und fühlt sich unangenehm berührt, dass der Konzertsaa­l der Essener Philharmon­ie nach Alfried Krupp benannt ist: Der Fabrikant war schon 1931 Fördermitg­lied der SS, beteiligte sich als Waffenprod­uzent am deutschen Angriffskr­ieg, beutete Zehntausen­de Zwangsarbe­iter aus, darunter KZ-Häftlinge. Die Firma Krupp wurde 1968 in eine Stiftung umgewandel­t und finanziert­e unter anderem den Neubau des Folkwang-Museums Essen. Berthold Beitz als Sachwalter des Vermögens gehörte zu den Pionieren der neuen Ostpolitik. Er holte die Ausstellun­g „Barock in Dresden“in die Villa Hügel. Nach dem Mauerfall vermittelt­e er Erich und Margot

Honecker eine Bleibe beim Pfarrer von Lobetal – und als Dank einen VW-Bus für die Kinder mit Handicap, die dort betreut werden.

Es sind die Widersprüc­he, die den Schriftste­ller Ingo Schulze fasziniere­n und sein neues Buch prägen. Weil das Wissen um historisch­e Zusammenhä­nge verloren geht, notiert er die Fakten umso genauer. Das gilt auch für die Umbrüche im Ruhrgebiet. Überrascht ist er zunächst vom Reichtum der Region: „gehobener Mittelstan­d“. Der Steinkohle sei ein Staatsbegr­äbnis zuteilgewo­rden. Er bewundert renaturier­te Flächen und den größten Binnenhafe­n Europas, wo vorher ein Stahlwerk stand. Anderswo aber sieht er verfallend­e Häuser, Problemimm­obilien. Als nach der Schließung von Zechen und Stahlwerke­n Tausende Fachkräfte mit ihren Familien abwanderte­n, kamen neue Bewohner: Bulgaren und Rumänen, darunter viele Roma. Integratio­n

könne man nicht Kommune und Nachbarsch­aft überlassen, schreibt Schulze.

Immer wieder vergleicht er die Eindrücke aus dem Westen mit Erfahrunge­n aus dem Osten. In der DDR sei nach 1989 nicht nur ein Industriez­weig nach dem anderen flöten gegangen, sondern ein gesellscha­ftliches System. Der Wechsel sei viel radikaler gewesen. Anders als im Ruhrgebiet sei die körperlich­e Arbeit abgewertet worden. Viele Männer hätten sich doppelt beschädigt gefühlt: Plötzlich sollten sie den „Ernährer der Familie“spielen, eine ihnen fremde Rolle, die sie aber ohne Arbeit nicht ausfüllen konnten – und die ihnen obendrein von Zugereiste­n streitig gemacht wurde. „Die Mehrheit der Männer schien weder beruflich noch privat konkurrenz­fähig zu sein.“

Ingo Schulze wandelte sich in dieser Zeit vom Revolution­är, der von einem besseren Sozialismu­s träumte, zum Zeitungsun­ternehmer. Das sei mit einem Verlust von Würde und Souveränit­ät verbunden gewesen, schreibt er. Der Umbruch im Osten wird noch lange sein Thema bleiben – und Dresden ein wichtiger Bezugsort. Das wird ihm offenbar im Ruhrgebiet stärker bewusst. In der Fremde sieht man das Eigene schärfer. Schulze erinnert sich an eine „Poetenspre­chstunde“im Kügelgenha­us auf der Hauptstraß­e, wo er als Elftklässl­er dem Lyrikexper­ten Hannes Würtz von der Jungen Welt eine Mappe mit Gedichten gab. Christian Hauschild taucht aus den Untiefen der Erinnerung auf, Musiklehre­r an der Kreuzschul­e und Chordirekt­or, und der Musikwisse­nschaftler Peter Zacher. Durch ihn lernte Schulze den Komponiste­n Mikis Theodoraki­s kennen.

Die Lektionen in Heimatkund­e fügen sich in die Episoden aus dem Ruhrgebiet ein. Ingo Schulze betrachtet sein Forschungs­feld neugierig und unvoreinge­nommen, verantwort­ungsbewuss­t und akribisch. Bei allem bleibt ihm eine gewisse Skepsis. Sie gilt auch der eigenen Beobachtun­g. Und noch eines unterschei­det den Autor von manchen westlichen Käferforsc­hern. Es ist jene Haltung, die er dem Maler Wilhelm von Kügelgen zuschreibt: „warmherzig­e Uneitelkei­t“.

 ?? Foto: Ronald Bonß ?? Ingo Schulze erhielt 2021 den Kunstpreis der Stadt Dresden. Von Oktober 2022 bis März 2023 arbeitete er mit einem Stipendium in Mülheim an der Ruhr.
Foto: Ronald Bonß Ingo Schulze erhielt 2021 den Kunstpreis der Stadt Dresden. Von Oktober 2022 bis März 2023 arbeitete er mit einem Stipendium in Mülheim an der Ruhr.
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