Ein Ostdeutscher erkundet den Westen
Der Dresdner Schriftsteller Ingo Schulze entdeckt im Ruhrgebiet vertraute und neue Muster.
Lange genug hat der Westen den Osten betrachtet wie ein Käferforscher ein seltsames Krabbeltier. Ingo Schulze dreht den Spieß um. Der aus Dresden stammende Schriftsteller reist ins Ruhrgebiet. Ein halbes Jahr lang lebt er in einer Doppelhaushälfte in Mülheim. Eine Stiftung finanziert das Stipendium. Bei seinen Recherchen folgt der Autor dem Zufall: „Wenn mich jemand einlud, bin ich hingegangen.“So lässt er sich die Funktionsweise einer Kläranlage erklären und das Klanggeheimnis eines Orchesters, spricht mit einem Polizeipräsidenten über die Macht arabischer Clans und folgt einem Bauklempner durch Gelsenkirchen. Er ist in einer Grundschule zu Gast, die mithilfe moderner Musik Strukturen des Alltags vermittelt, denn die Mehrzahl der Kinder spricht nicht oder kaum Deutsch. Von einem umtriebigen Lokalpolitiker lernt er etwas über die politischen Strömungen bei den Jusos. Mit einem Leipziger, der im Sommer 1989 über Ungarn in den Westen floh, trifft sich Ingo Schulze beim Fußball. „Die Grandiosität der Arena hat ihr Gegenstück in den Männertoiletten“, notiert er nach einem Besuch bei Borussia Dortmund. Dass Arenen ihren Namen verkaufen, kritisiert er als ideelle Enteignung jener, die durch ihr Kommen den Betrieb finanzieren.
Das Thema Fußball nimmt viel Raum ein in dem Buch „Zu Gast im Westen“. Dem Autor scheint seine Begeisterung selbst nicht ganz geheuer zu sein. Er fragt sich, warum er sich „diese Ansammlung von verzogenen, durch irrsinnig viel Geld gefährdeten Jungs“nicht aus dem Herzen reißen könne. In der Kindheit sei es ihm absurd vorgekommen, dass Spieler verkauft wurden wie etwa 1973 Günter Netzer nach Madrid. „Wahrscheinlich erfuhr ich davon aus der Sächsischen Zeitung, die solche Spielerverkäufe mit Sicherheit angeprangert hatte.“
Ein Thema interessiert den 61-jährigen Schriftsteller mehr als Fußball: Aufstieg und Abstieg einer Region. Der Aufstieg ist ohne Krupp nicht zu denken. „Bei uns“, schreibt Ingo Schulze mit Blick auf den DDR-Geschichtsunterricht, „bei uns“sei der Name der Inbegriff von Kapitalismus gewesen. Er erinnert an den Fernseh-Mehrteiler „Krupp und Krause“, recherchiert die Familienhistorie und fühlt sich unangenehm berührt, dass der Konzertsaal der Essener Philharmonie nach Alfried Krupp benannt ist: Der Fabrikant war schon 1931 Fördermitglied der SS, beteiligte sich als Waffenproduzent am deutschen Angriffskrieg, beutete Zehntausende Zwangsarbeiter aus, darunter KZ-Häftlinge. Die Firma Krupp wurde 1968 in eine Stiftung umgewandelt und finanzierte unter anderem den Neubau des Folkwang-Museums Essen. Berthold Beitz als Sachwalter des Vermögens gehörte zu den Pionieren der neuen Ostpolitik. Er holte die Ausstellung „Barock in Dresden“in die Villa Hügel. Nach dem Mauerfall vermittelte er Erich und Margot
Honecker eine Bleibe beim Pfarrer von Lobetal – und als Dank einen VW-Bus für die Kinder mit Handicap, die dort betreut werden.
Es sind die Widersprüche, die den Schriftsteller Ingo Schulze faszinieren und sein neues Buch prägen. Weil das Wissen um historische Zusammenhänge verloren geht, notiert er die Fakten umso genauer. Das gilt auch für die Umbrüche im Ruhrgebiet. Überrascht ist er zunächst vom Reichtum der Region: „gehobener Mittelstand“. Der Steinkohle sei ein Staatsbegräbnis zuteilgeworden. Er bewundert renaturierte Flächen und den größten Binnenhafen Europas, wo vorher ein Stahlwerk stand. Anderswo aber sieht er verfallende Häuser, Problemimmobilien. Als nach der Schließung von Zechen und Stahlwerken Tausende Fachkräfte mit ihren Familien abwanderten, kamen neue Bewohner: Bulgaren und Rumänen, darunter viele Roma. Integration
könne man nicht Kommune und Nachbarschaft überlassen, schreibt Schulze.
Immer wieder vergleicht er die Eindrücke aus dem Westen mit Erfahrungen aus dem Osten. In der DDR sei nach 1989 nicht nur ein Industriezweig nach dem anderen flöten gegangen, sondern ein gesellschaftliches System. Der Wechsel sei viel radikaler gewesen. Anders als im Ruhrgebiet sei die körperliche Arbeit abgewertet worden. Viele Männer hätten sich doppelt beschädigt gefühlt: Plötzlich sollten sie den „Ernährer der Familie“spielen, eine ihnen fremde Rolle, die sie aber ohne Arbeit nicht ausfüllen konnten – und die ihnen obendrein von Zugereisten streitig gemacht wurde. „Die Mehrheit der Männer schien weder beruflich noch privat konkurrenzfähig zu sein.“
Ingo Schulze wandelte sich in dieser Zeit vom Revolutionär, der von einem besseren Sozialismus träumte, zum Zeitungsunternehmer. Das sei mit einem Verlust von Würde und Souveränität verbunden gewesen, schreibt er. Der Umbruch im Osten wird noch lange sein Thema bleiben – und Dresden ein wichtiger Bezugsort. Das wird ihm offenbar im Ruhrgebiet stärker bewusst. In der Fremde sieht man das Eigene schärfer. Schulze erinnert sich an eine „Poetensprechstunde“im Kügelgenhaus auf der Hauptstraße, wo er als Elftklässler dem Lyrikexperten Hannes Würtz von der Jungen Welt eine Mappe mit Gedichten gab. Christian Hauschild taucht aus den Untiefen der Erinnerung auf, Musiklehrer an der Kreuzschule und Chordirektor, und der Musikwissenschaftler Peter Zacher. Durch ihn lernte Schulze den Komponisten Mikis Theodorakis kennen.
Die Lektionen in Heimatkunde fügen sich in die Episoden aus dem Ruhrgebiet ein. Ingo Schulze betrachtet sein Forschungsfeld neugierig und unvoreingenommen, verantwortungsbewusst und akribisch. Bei allem bleibt ihm eine gewisse Skepsis. Sie gilt auch der eigenen Beobachtung. Und noch eines unterscheidet den Autor von manchen westlichen Käferforschern. Es ist jene Haltung, die er dem Maler Wilhelm von Kügelgen zuschreibt: „warmherzige Uneitelkeit“.