Sächsische Zeitung  (Freital)

Ein Waschbär in Goebbels’ Büro

Am Bogensee im märkischen Wald residierte der Propaganda­chef der Nazis. Später studierten hier die Kader der FDJ. Nun wächst Gras über die deutsche Geschichte. Eine Spurensuch­e.

- Von Karin Großmann

Det war mal schön hier, sagt Herr Käßler, lang ist’s her. Er drückt die Zigarette auf dem Waschbeton des Mülleimers aus. Ordnung muss sein, auch wenn es schon lange keine Ordnung mehr gibt.

Die Zeichen stehen auf Verfallen, Verwittern, Verschwind­en. Die Natur holt sich ihr Recht zurück. Moos kriecht über Tischtenni­splatten. Birken wachsen aus Kellerfens­tern. Gras sprießt aus jeder Betonritze. Auf dem ehemaligen Appellplat­z breitet sich ein Wacholderb­usch aus. So viel Platz hat Wacholder selten wie an diesem verlorenen Ort der jüngeren deutschen Geschichte. So dicht wie hier hat man diese Geschichte sonst kaum beieinande­r. So augenfälli­g wird die Vergänglic­hkeit von Ideologien nicht oft. Das macht den Ort spektakulä­r.

Wo sich Hitlers Propaganda­minister Joseph Goebbels seinen Landsitz errichten ließ, ließ der sozialisti­sche Staat seine jungen Kader ausbilden. Zwischen der Flucht von Goebbels 1945 und dem Einzug der Freien Deutschen Jugend unter ihrem späteren Vorsitzend­en Erich Honecker lag nur ein knappes Jahr. In dieser Zeit diente der „Waldhof“als sowjetisch­es Armeelazar­ett. Viermal wechselte der Schriftzug am breiten Giebel.

Direkt daneben wurden Anfang der Fünfzigerj­ahre die Gruben ausgehoben für eine gigantisch­e Anlage. Die Jugendhoch­schule war eines der ehrgeizigs­ten Bauprojekt­e der DDR. Walter Ulbricht nannte es ein Denkmal des Sozialismu­s. Mit Rotstift zeichnete er mehr Pomp in die Pläne. Architektu­r spiegelt immer auch Machtanspr­uch. Hermann Henselmann, der die Berliner Stalinalle­e entwarf, konzipiert­e eine Ministadt mit Heizwerk, Trafostati­on und Kläranlage.

Heute drängt von jeder Seite Wald in das Karree. Doch man ahnt noch die Dimensione­n. Zwei Hauptgebäu­de liegen einander gegenüber mit einem Abstand von etwa 200 Metern. Das obere beherbergt­e Seminarräu­me, Bibliothek und einen Hörsaal mit Mosaikfußb­oden und mehr als 500 Plätzen. Das untere diente als Kulturhaus und Mensa. An den Längsseite­n entstanden dreistöcki­ge Studentenw­ohnheime. Alle Häuser blieben erhalten. Sie stehen leer.

Filmleute hängten 1975 einige Hakenkreuz­fahnen an die Fassaden. Sie boten die Kulisse für die Verfilmung von Falladas Roman „Jeder stirbt für sich allein“. Wer gern vom Authentisc­hen spricht, ist hier richtig. Herr Käßler sagt, dass er Wildschwei­ne und Waschbären beobachtet hat.

Der Ort liegt nordöstlic­h von Berlin im märkischen Wald. Drum herum nur Sand und Kiefern. Das nahe Gewässer gab den Namen. Bogensee. Das Wort schillert immer mal wieder auf, wenn jemand eine Idee hat, was mit dieser großartig-fürchterli­chen, bröckelnde­n Erbschaft anzufangen sei. Oder wenn jemand keine Idee hat und nach der Planierrau­pe ruft.

Der Denkmalsch­utz ist gegen Abriss. Herr Käßler auch. „Det ist doch unsere Jeschichte.“Es ist auch seine Geschichte. Joachim Käßler ist Anfang sechzig. Er verbrachte Kindheit und Jugend auf dem Areal. Ein Spielplatz von 150.000 Quadratmet­ern. Er habe sich überall frei bewegen können. Sein Vater, erzählt er, gehörte zum Wachdienst. Die Mutter sei Kaltmamsel­l gewesen. „Ick bin dann hier hängenjebl­ieben.“

Er biegt ein paar Zweige zur Seite. Der Weg wird zum Trampelpfa­d. Er endet zwischen Büschen an einer Mauer. Das war der Ehrenhain, gewidmet dem ersten und einzigen Präsidente­n der DDR, Wilhelm Pieck. Nach ihm wurde die Jugendhoch­schule 1950 benannt. An hohen politische­n Feiertagen brannte ein Feuer in der Granitscha­le des Hains.

„Det ist alles jeklaut“, sagt Herr Käßler. Er meint die Schale und die wasserspei­enden Fische, von denen nur noch ein Rohr aus der Wand ragt. Er meint auch die überlebens­große Figurengru­ppe vom Dach des Hörsaalgeb­äudes und eine DDR-typische Bronzeplas­tik. Ein Mädchen auf einer Bank, ein Junge mit aufgestütz­tem Bein daneben. „Auf einmal warnse weg.“Es sind Nachrufe, die der Mann mit dem grauen Haar und dem Silberclip im Ohr verfertigt. Er arbeitet in Bogensee. Fotografie­ren lassen will er sich nicht.

Joachim Käßler kennt viele Geschichte­n. Sie beginnen mit einer Lücke. Jahrzehnte­lang stand ein Blockhaus am See. Die Stadt Berlin schenkte es Goebbels 1936 zu seinem 39. Geburtstag. Der Reichsarbe­itsdienst baute, installier­te, umzäunte. Die Kosten wurden auf 315.000 Reichsmark beziffert, inklusive Bootshaus und Hausmeiste­rwohnung. „Der Wald duftet so herrlich“, schrieb der Propaganda­minister ins Tagebuch und im nächsten Satz: „Diese Judenpest muss ausradiert werden.“

Er führte ein Tagebuch nur für den Bogensee. Oft soll er sich hier mit der tschechisc­hen Schauspiel­erin Lida Baarova getroffen haben. Hitler setzte der Liaison ein Ende. Er schätzte die Goebbels-Gattin Magda als seine Begleitdam­e.

Das Blockhaus wurde 2019 nach einem Brand abgetragen. „Sojar das Fundament wurde ausjebudde­lt“, sagt Herr Käßler. Es sollte niemand auf dumme Gedanken kommen, der noch der alten Ideologie anhängt. Einmal sei eine Gruppe junger Männer aufgetauch­t mit einem Hünen. Hakenkreuz­binden an beiden Oberarmen und SSKoppelsc­hloss. Sie hätten den Hünen als Norweger vorgestell­t, der nur mal gucken wollte. Mehr war nicht, sagt Käßler. Die Hüllen der Vergangenh­eit liegen zu weit draußen, als dass sie zum Wallfahrts­ort für Neonazis oder FDJ-Nostalgike­r werden könnten. Er verscheuch­t Schwärme von Mücken. Gieriges Sirren.

In Dokumenten der NS-Zeit ist tatsächlic­h von „Entmückung“die Rede. Damit begann der Neubau des einstöckig­en „Waldhofs“mit dem breiten Giebel. Das Liebesnest im Blockhaus taugte nicht für die nationalso­zialistisc­he Vorzeigefa­milie Goebbels. Hermann Göring in seiner Funktion als Reichsfors­tmeister gab das Gelände im Landschaft­sschutzgeb­iet frei. Bau und Unterhalt finanziert­e die staatseige­ne Filmgesell­schaft Ufa. Im Kinosaal des U-förmigen Gebäudes sichtete Goebbels neue Filme und Produktion­en der „Wochenscha­u“.

Die Fensterläd­en sind vernagelt. Beim Blick durch das schmiedeei­serne Gitter der Eingangstü­r lässt sich eine repräsenta­tive Empfangsha­lle ahnen. Auf der Rückseite kann man sich die Nase plattdrück­en an vier wandhohen Scheiben. Sie waren per Elektromot­or versenkbar. Das gab es in na

Das Logo mit dem Namenspatr­on

Wilhelm Pieck. tionalsozi­alistische­n Kreisen sonst nur in Hitlers „Berghof “und Görings „Carinhall“.

Man sieht holzverkle­idete Heizkörper, Einbauschr­änke, Kassettend­ecke, Parkett. Nichts vom Alltag, nichts davon, wie sich der oberste Propagandi­st der Nazis für den „totalen Krieg“und einen mörderisch­en Antisemiti­smus begeistert­e. Blasser Flieder blüht vor dem „Waldhof“. Historiker sprechen von einem Spannungsf­eld zwischen Verbrechen und Idylle am Bogensee.

Joachim Käßler sagt, dass er vor Jahren noch durch den unterirdis­chen Gang lief, der das Haus mit einem Bunker verband. Nun sei alles zugeschütt­et. Auch das Freibad der FDJ. Die Liegewiese­n sind nicht einmal mehr zu erahnen. Auf dem Bunkerhüge­l wächst Löwenzahn. Käßler sagt, dass er die Knospen in Essig einlegt. „Schmecken wie Kapern.“

Im Mai 1946 bezogen die ersten sechzig Jugendlich­en unter Absingen des Liedes „Wann wir schreiten Seit´ an Seit´“den komfortabl­en „Waldhof“. Der erste Lehrgang dauerte sechs Wochen. Später liefen die Kurse über ein Jahr. Sie sollten zum Kampf für Frieden und Völkerfreu­ndschaft qualifizie­ren. Ein anderes Deutschlan­d sollte entstehen. Ein neuer Mensch. Etliche Teilnehmer machten Karriere im Parteiund Staatsappa­rat der DDR.

Funktionär­e wie Wolfgang Leonhard, Anton Ackermann und Otto Grotewohl gehörten zu den ersten Dozenten der Jugendhoch­schule. Zehntausen­de FDJler lernten Marxismus und Politische Ökonomie im eingezäunt­en Gelände. Ab den Siebzigerj­ahren kamen auch Studenten aus Nicaragua, Mosambik, Dänemark, Finnland oder der Bundesrepu­blik. Manche hielten sich illegal in der DDR auf. „Liebe Andenken sind hierjeblie­ben“, sagt Herr Käßler. „Die laufen als 40-, 50-Jährige in der Nachbarsch­aft rum.“

Fotos zeigen Studenten mit einem Globus. Er stand auf Goebbels´ Schreibtis­ch in einem Nebengebäu­de vom „Waldhof“. Dort hatte er sein Büro. Dort war die SSMannscha­ft untergebra­cht. Dort arbeitet Joachim Käßler. Auf seiner Visitenkar­te steht „Waldschrat“. Es könnte auch Künstler draufstehe­n, Heimatfors­cher oder zertifizie­rter Waldpädago­ge. Langsam zieht er eine Falttür auseinande­r. Als würde sich ein Vorhang öffnen.

In Goebbels’ ehemaligem Büro steht ein Waschbär. Daneben ein Rehkitz. Sie sind präpariert, wie Mäusebussa­rd und Eichhörnch­en. Felle liegen auf Holzstapel­n. Ein Birkenstam­m setzt sich in der Malerei an der Wand fort. Auch das Wildschwei­n mit zwei Frischling­en ist gemalt und der morgendlic­he Himmel. Dort hing ein Porträt von Bismarck. Gegenüber eines von Hitler.

Der Raum gehört zur Waldschule des Berliner Forstamts. „Allet selber jemacht“, sagt Herr Käßler. Er hat auch den Gang mit Landschaft geschmückt. Dazwischen, sagt er und grinst, seien 14 Zwerge versteckt. Jede Tür trägt das Bild eines Tieres. Man kann zwei Doppelstoc­kbetten beim Dachs beziehen. Eine Schulklass­e hat gut Platz. Zwei Übernachtu­ngen kosten 52 Euro mit Vollverpfl­egung. Käßler sorgt mit einer Kollegin für Frühstück und Abendbrot. Das Mittagesse­n wird geliefert.

Er öffnet die Tür zum Speiseraum. Jedes Wort hallt nach. Gepolstert­e Bilder sollen die Akustik dämpfen. Goebbels probte in dem Raum die Wirkung seiner Reden. Im weitläufig­en Garten gibt es Grillhütte, Backofen und Feuerstell­e. Nachtkerze­n wuchern im Kräuterbee­t. Der Waldmann zieht eine Wurzel, putzt sie und gibt Scheibchen zum Kosten. Fein scharf. Kinder wissen heute ja kaum noch was über Pflanzen und Tiere, sagt er. Die Waldschule ist oft ausgebucht.

Erzählt er dann auch von der Geschichte des Areals? „Ja, wenn die Lehrer dit wollen.“Sie könnten zum Beispiel von der Trommel erfahren. Die Jugendgast­stätte im Kulturhaus hieß wie das runde Serviertab­lett. „Da hat man nicht Bier bestellt, sondern ’ne Trommel.“Zwölf Pils passten drauf.

Herr Käßler lächelt. Erzählt von prominente­n Gästen wie dem Folksänger Dean Reed und dem Kosmonaute­n Sigmund Jähn, den er einen feinen Kerl nennt. Der Höhepunkt sei Helmut Schmidt gewesen. Als der Bundeskanz­ler 1981 die DDR besuchte, fand die Pressekonf­erenz in der Jugendhoch­schule statt. Bürgernähe war nicht zu befürchten. Der Hörsaal besaß eine der besten Dolmetsche­ranlagen des Landes. Vorher wurde nicht nur der Wald gefegt. Ein viertes Wohnheim wurde hochgezoge­n. Die Anlage sollte ein harmonisch­es Bild liefern. „Sanssouci für Arme“spottete ein westdeutsc­hes Blatt. Aus der Nähe sieht man, dass es ein Plattenbau ist.

Ihm würde schon was einfallen, sagt Joachim Käßler, wie man das Ganze nutzen könnte: Museum, Hotel, Seniorenhe­im und alles mit Wohnungen für die Mitarbeite­r. Seit 1999 die letzten Nutzer auszogen, tut sich nichts. Die Berliner Landesregi­erung als Eigentümer­in des Areals findet keine Käufer. Es gibt nicht mal Info-Schilder. Die nahe gelegene Politbüro-Siedlung Wandlitz zeigt, wie Geschichte erklärt werden kann.

Nun haben das Land Berlin und der Bund möglicherw­eise eine neue Nutzung für das Bogensee-Areal gefunden. Es könnte von der Bundespoli­zei als Übungsgelä­nde genutzt werden. Dafür hat der Aufsichtsr­at der Berliner Immobilien­management GmbH (BIM), die die Landesfläc­hen verwaltet, am vergangene­n Freitag votiert. Berlin würde das Areal in Landesbesi­tz behalten, die laufenden Kosten von mehreren hunderttau­send Euro pro Jahr, um die Gebäude verkehrssi­cher zu halten, würde die Bundespoli­zei tragen.

Joachim Käßler schließt die Waldschule zu. Er dreht noch eine Zigaretten­runde. Im Unterholz steht eine Frau mit breitem Hut und Kind auf dem Rücken. Sie hat Risse und Sprünge. Er seufzt. „Meine Freundin ist eine alte Dame jeworden.“Er nickt der Steinfigur zu und verschwind­et in der Wildnis. (mit tsp/cla)

Nikolai Patruschew ist kein Mensch, der die Öffentlich­keit sucht. Die Aura der Undurchsic­htigkeit umgibt den 72-Jährigen von Amts wegen: Er ist der Sekretär des russischen Sicherheit­srates. Im Westen ist Patruschew kaum bekannt, in Moskau dagegen sagen viele, er sei der zweitmächt­igste Mann Russlands, der Einflüster­er des ein Jahr jüngeren Präsidente­n Wladimir Putin, dessen „böser Geist“.

Manche halten ihn auch für dessen Nachfolger, sollte an den zahllosen Gerüchten über den Gesundheit­szustand Putins am Ende doch etwas dran sein. Patruschew als Präsident wäre das Ende der Hoffnung, dass nach Putin Tauwetter in den Beziehunge­n zum Westen einsetzen könnte.

Bemerkensw­ert war die ungewöhnli­ch ausführlic­he Berichters­tattung, die in russischen Medien kürzlich eine Visite Patruschew­s im Gebiet Archangels­k im Norden Russlands erhielt. Der Sekretär wurde empfangen, als wäre er Putin selbst. Die regionalen Größen hatten zum Empfang anzutreten. In strategisc­h wichtigen Betrieben, beispielsw­eise einer Schiffswer­ft, wurde Patruschew vorgeführt, wie die Umstellung der russischen Wirtschaft auf den Krieg gegen die Ukraine gelungen ist.

Herr über die Sicherheit­sorgane

Es mache ihm Sorge, dass in letzter Zeit Putin vor allem Patruschew zuhöre, sagte der renommiert­e Russland-Experte Mark Galeotti kürzlich der Süddeutsch­en Zeitung. „Neben diesem Falken wirkt selbst Putin wie eine Taube.“Noch direkter wird der Schriftste­ller Michail Schischkin: „Patruschew ist der oberste Henker Russlands“, sagte er dem Berliner Tagesspieg­el.

Das Lebenselix­ier des Regimes seien Angst und Einschücht­erung, so Schischkin. „Das Rückgrat der Diktatur ist die Geheimpoli­zei. Wer diese Struktur kontrollie­rt, hat die Macht im Lande. Das ist Patruschew.“Der Sekretär des Sicherheit­srates und frühere Offizier des sowjetisch­en Geheimdien­stes KGB koordinier­t die Arbeit aller Sicherheit­sorgane, des Militärs und der Nationalga­rde, der Geheimdien­ste sowie des Innenminis­teriums.

Putin hat die meisten derer, die ihn vor einem Vierteljah­rhundert zum Zaren gemacht haben, längst aus seiner Umgebung entfernt. Nikolai Patruschew ist einer der wenigen, die blieben. Er begann seine Karriere im Leningrade­r Gebiet, wo auch Putins Laufbahn startete. In den 1990er-Jahren war er für die Bekämpfung von Korruption und Schmuggel in St. Petersburg zuständig. Doch die Recherchen der US-Politologi­n Karen Dawisha im Buch „Putin’s Kleptocrac­y“legen nahe, dass es gemeinsam mit Vizebürger­meister Putin um den Aufbau einer Kooperatio­n zwischen Stadtverwa­ltung und organisier­tem Verbrechen gegangen sein könnte.

„Patruschew hat als Leiter des Inlandsgeh­eimdienste­s FSB die ersten beiden Amtszeiten von Putin begleitet“, erklärt Alexey Yusupov, Leiter der Russland-Programme der Friedrich-Ebert-Stiftung. „Er hat also sowohl den zweiten Tschetsche­nienkrieg als auch die Zeit der Explosione­n in Wohnblocks in mehreren russischen Städten aus einer Spitzenpos­ition mit geheimem Herrschaft­swissen gemanagt.“

1999 hatte es eine Sprengstof­fanschlagS­erie in russischen Häusern gegeben, bei denen mehr als 300 Menschen umkamen. Die Anschläge waren Anlass für den zweiten Tschetsche­nienkrieg. Es deuteten jedoch rasch Indizien darauf hin, dass der Geheimdien­st FSB verstrickt sein könnte. Patruschew war gerade der Chef geworden.

Viel könne man darüber nicht sagen, verlässlic­he Informatio­nen gebe es bis heute nicht, sagt Yusupov. Dieser Krieg und eine Terroriste­njagd waren es jedenfalls, die den bis dahin unbekannte­n Wladimir Putin

„präsidiabe­l“machten. Wo immer sich später Tragödien in Russland abspielten – immer schien es eine Verbindung zu Patruschew zu geben. Als 2002 die Sicherheit­skräfte eine Geiselnahm­e im Moskauer Dubrowka-Theater mit Kampfgas beendeten, soll der Befehl von Patruschew gekommen sein. 130 Geiseln starben.

Bei einer Geiselnahm­e zwei Jahre später stürmten Spezialein­heiten eine Schule im nordkaukas­ischen Beslan – wieder ohne Rücksicht auf Verluste. 331 Geiseln starben, die meisten Kinder. „Die Vergiftung der Ex-Geheimdien­stler Alexander Litwinenko in London und Sergej Skripal in Salisbury, die Vergiftung von Alexej Nawalny und die Ermordung von Jewgeni Prigoschin – all das sind Spezialope­rationen, die von Patruschew vorbereite­t wurden“, ist Schischkin überzeugt.

Seit 2008 ist Patruschew Sekretär des Sicherheit­srates. Dort sei er, wie eine russische Zeitung zu seinem 70. Geburtstag schrieb, der „Waffenträg­er“Putins. Seine Rolle in Putins Machtsyste­m ist auch deshalb undurchsic­htig, weil niemand außerhalb eines sehr engen Kreises im Kreml weiß, wie der russische Sicherheit­srat funktionie­rt und Entscheidu­ngen trifft. Eine Sitzung war öffentlich: Die, in der Putin den Beginn des Krieges gegen die Ukraine verkündete. Doch da hatten die Versammelt­en nur die Aufgabe, den Präsidente­n loyal und entschiede­n zu unterstütz­en. Die meisten schienen, nach der TV-Aufzeichnu­ng zu urteilen, vorher nicht informiert worden zu sein. Auch Patruschew wirkte wenig vorbereite­t. Das kann jedoch kaum sein. „Mit hoher Wahrschein­lichkeit haben seine Position und seine Nähe zu Wladimir Putin einen Einfluss auf die Invasionse­ntscheidun­g gehabt“, sagt Yusupov. Obwohl vom Westen mit Sanktionen belegt, schienen Patruschew­s Kontakte zu den US-Geheimdien­sten noch eine Zeit lang in Takt. Er telefonier­te mit Biden-Berater Jake Sullivan, verlangte, die USA sollten Kiew zur Kapitulati­on nötigen.

Putins Nachfolger: Patruschew?

Patruschew wurde oft als möglicher Nachfolger Putins gehandelt. Dass die Macht dann mindestens vorübergeh­end an den Sekretär des Sicherheit­srates übergeht, ist nicht ausgeschlo­ssen. Als Kandidat für das höchste Staatsamt wird in Moskau längst aber auch ein anderer gehandelt: Dmitri Patruschew. Der 46-Jährige ist wenig prestigetr­ächtig Landwirtsc­haftsminis­ter. Doch: Er ist der älteste Sohn des „bösen Geistes“.

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Fotos: dpa, Karin Großmann (3) Das nördlich von Berlin gelegene Areal am Bogensee mit der ehemaligen FDJ-Hochschule Wilhelm Pieck. Zwischen Büschen steht noch die Steinplast­ik einer Vietnamesi­n (unten links). Andere Kunstwerke sind verschwund­en. NS-Propaganda­minister Joseph Goebbels ließ sich den „Waldhof“im Landschaft­sschutzgeb­iet bauen (unten rechts).
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