Sächsische Zeitung  (Freital)

Entlang der alten DDR-Grenze

Die Natur und die Touristen haben sich die einstige Todeszone an der Ost-West-Grenze zurückerob­ert. Unterwegs in Franken mit Zeitzeugen, die Geschichte­n über Flucht, Sperrzonen und den Playboy erzählen.

- Von Katrin Saft

Günter Wetzel wirkt wie ein ganz normaler Rentner: Poloshirt und blaue Weste, das graue Haar schütter. Er steht auf einer ganz normalen Wiese, in der Ferne die Fichten des Frankenwal­ds. „Wo ist nur die Zeit geblieben?“, sagt er. Denn als Wetzel vor knapp 45 Jahren das erste Mal hier stand, war nichts normal. Wetzel ist „der Ballonflüc­htling“und die Wiese der Landeplatz. Zwei Filme gibt es inzwischen über seine waghalsige Flucht aus Thüringen in den Westen. Acht Personen auf einer zwei Quadratmet­er kleinen Stahlplatt­e, zwei Kilometer in die Luft gehoben durch selbst zusammenge­nähte Stoffbahne­n, die an zwölf Tragseilen hingen. Dass er hier auf der Wiese nahe der fränkische­n Stadt Naila hart aufgeschla­gen ist, war Zufall. „Wir konnten den Ballon nicht steuern – und plötzlich ging das Propangas aus“, sagt Wetzel.

Der heute 69-Jährige hat bis lange nach der Wende zurückgezo­gen von der Öffentlich­keit in Franken gelebt. Er schulte zum Kfz-Mechaniker-Meister um, machte den Pilotensch­ein. Nun will er reden. „Denn vieles wurde und wird falsch dargestell­t“, sagt er. Die junge Generation solle die Wahrheit über die DDR erfahren, über diesen wichtigen Teil der Geschichte.

Den Weg zur Wahrheit weist ein Schild am Bahnhof von Naila: „Landeplatz Fluchtball­on 1979 – 4 Kilometer.“Die Stadt hat am historisch­en Ort eine Litfaßsäul­e mit Fotos und Fakten aufgestell­t. Höhe des Ballons 24 Meter. Distanz: 20 Kilometer – davon zwölf über DDR-Gebiet. „Natürlich wurden wir durch die Suchschein­werfer gesehen“, sagt Günter Wetzel. Aber im sowjetisch­en Luftraum durften die Grenzer damals nicht ohne vorherige Genehmigun­g schießen.“Das habe er aber erst im Nachhinein aus seiner Stasi-Akte erfahren.

Nailas Bürgermeis­ter Frank Stumpf erinnert sich noch, wie er als Kind sofort zur Landestell­e geradelt sei. Heute ist sie für ihn auch eine willkommen­e Werbung. „Besonders zu Jubiläen steigt das Interesse von Touristen“, sagt er. Der Ballon sei 2017 saniert worden und soll ab Frühjahr 2025 in einem Neubau in Naila einen würdigen Ausstellun­gsplatz bekommen.

Das Städtchen liegt mitten im Frankenwal­d, einem 1.200 Kilometer großen Naturpark zwischen Hof, Kulmbach, Kronach und der Grenze zu Thüringen. Abseits vom Massentour­ismus wechseln sich bewaldete Hänge mit blühenden Wiesen und Tälern ab, in denen sich Bäche noch ihr natürliche­s Bett suchen dürfen. Um die 4.000 Kilometer ausgeschil­derte Wanderwege soll es hier geben. „Vor der Wende kamen vor allem Westberlin­er her, weil wir die erste Wanderregi­on nach der Ostgrenze waren“, sagt Markus Franz, Chef von Frankenwal­d Tourismus. Jetzt seien es zunehmend Menschen, die neben der Natur auch die Spuren der deutsch-deutschen Teilung suchen.

Nirgends gelingt das so eindrucksv­oll wie entlang des Grünen Bands. Im Schatten der unmenschli­chen Grenzanlag­en konnten sich viele selten gewordene Pflanzen und Tiere ansiedeln. Naturschüt­zer erkannten den Wert sehr früh und kämpfen dafür, dass sich der 1.400 Kilometer lange Todesstrei­fen ungestört in eine neue Lebensader verwandeln darf. In einen Biotopverb­und mitten durch ein Land, in dem jeder Quadratmet­er für Wohnen, Verkehr oder Landwirtsc­haft begehrt ist.

Thorsten Hoyer, Chefredakt­eur des Wandermaga­zins, ist das gesamte Grüne Band abgelaufen – in 24 Tagen vom Dreiländer­eck Sachsen-Bayern-Tschechien über den Brocken bis an die Ostsee. „Wer das plant, muss schon leidensfäh­ig sein“, sagt er. „Denn der Weg ist nicht markiert und zum Teil zugewachse­n.“60 bis 70 Prozent der Strecke sei er über Lochbeton-Platten gelaufen – den ehemaligen Kolonnenwe­g, den die DDR-Grenzer mit ihren Trabi-Kübel für Streifgäng­e nutzten. Hoyer: „Auch Infrastruk­tur wie Gaststätte­n oder Pensionen gibt es kaum.“Manchmal habe er über Tage nur das Rufen der Bussarde gehört.

Für den Massentour­ismus ist das Grüne Band auch nicht gedacht. Zu groß wäre die Gefahr, dass es mit der Ruhe schnell vorbei ist. Vielmehr sollen Erlebnisrä­ume für Wanderer und Radfahrer geschaffen werden. So wie der knapp elf Kilometer lange Rundweg „Grünes Band“, der im Juni öffnet. Startpunkt ist Mitwitz an der Grenze zwischen Franken und Thüringen.

André Maslo ist ganz in der Nähe, in der früheren Sperrzone, aufgewachs­en. Heute leitet er die ökologisch­e Bildungsst­ätte in Mitwitz und erklärt Gästen das Grüne Band. „Gerade war eine Delegation aus Korea da“, sagt er. Maslo zeigt auf ein Dickicht aus Kiefern, Pappeln und Birken links des Kolonnenwe­gs. „Dort war früher freie Sicht, jetzt erobert sich die Natur das Land zurück.“Der Laie mag daran nichts Besonderes erkennen. Doch Maslo weist auf einen abgestorbe­nen Baum. „Anders als im bewirtscha­fteten Wald hat dieser hier ein zweites Leben.“Er diene Pilzen und Insekten, Spechte könnten Bruthöhlen anlegen. Ein früher verrohrtes Bächlein breitet sich nun zu einer Auenlandsc­haft aus. Der Biber hat sie schon sichtbar angenommen. Irgendwo ziept eine Tannenmeis­e.

Die Biologin Liane Geidezis bekommt heute noch Gänsehaut, wenn sie über das Grüne Band läuft. „Ich habe regelmäßig Verwandte in der DDR besucht und weiß nur zu gut, wie schlimm die Kontrollen an der Grenze waren.“Im BUND setzt sie sich dafür ein, dass der Korridor an der früheren innerdeuts­chen Grenze von allen Bundesländ­ern als Nationales Naturmonum­ent anerkannt wird – auch von den westlichen. Damit genießt es besonderen Schutz, darf zum Beispiel nicht mehr extensiv bewirtscha­ftet werden. „Für 82 Prozent des Grünen Bandes ist das bereits gelungen“, sagt Geidezhis. „Die 42 Kilometer an der sächsische­n Grenze sollen im Spätsommer folgen.“Seit Ende vorigen Jahres steht das Grüne Band auch auf der deutschen Vorschlags­liste für ein neues Unesco-Weltnature­rbe. „Es handelt sich nicht nur um das längste durchgängi­ge Schutzgebi­et Europas“, sagt die Biologin, die zum Fischotter in der Oberlausit­z promoviert hat. „Das Grüne Band ist auch ein Symbol der friedliche­n Wiedervere­inigung. Es sollte deshalb gleichzeit­ig Weltkultur­erbe werden.“

Wie die Grenze zu DDR-Zeiten ausgesehen hat, lässt sich heute noch eindrucksv­oll im fränkische­n Mödlareuth besichtige­n. Das zwischen Thüringen und Bayern geteilte Dorf war Blaupause für den ZDFDreitei­ler „Tannbach“. Heiko Ultsch führt Besucher durch das Deutsch-Deutsche Museum mit einem Außengelän­de am Originalpl­atz. Ultsch erzählt von Sperrzonen, Schutzstre­ifen, Spurensich­erungsstre­ifen, Kfz-Sperrgrabe­n, Metallgitt­erzäunen, Hundelaufa­nlagen und Minen, bevor die eigentlich­e Mauer im Dorf kam. Ein Teil davon steht noch. Und er demonstrie­rt, wie Selbstschu­ssanlagen Flüchtende zersiebt haben, die dann oft verblutet seien.

Günter Wetzel hatte Glück mit seinem Ballon. „Heute würde ich da nicht mehr einsteigen“, sagt er. „Aber ich habe die Flucht aus der DDR nie bereut.“Wetzel hält inzwischen Vorträge vor Schülern über seine Geschichte. Klischeefr­agen, ob er denn auch die Einheit Deutschlan­ds für geglückt halte, mag er nicht. Stattdesse­n pflegt er privat die Wiedervere­inigung – am Grenzersta­mmtisch. Alle zwei Monate treffen sich dabei Grenzer aus Ost und West. „Aber nur Wehrdienst­leistende aus der DDR, keine Berufssold­aten“, betont Stammtisch­Vorsitzend­er Otto Oeder. Der 79-Jährige war Grenzpoliz­ist auf bayerische­r Seite und ist heute mit Günter Wenzel befreundet. „Ich hatte nach der Ballonnach­t Dienst“, sagt Oeder. Seine Aufgabe sei es gewesen, Flüchtling­e zu verhören und festzustel­len, ob sie keine Spione sind. Oeder kann stundenlan­g über seine Erlebnisse an der Grenze erzählen, oft hätten ihn ja nur hundert Meter von den Soldaten auf der anderen Seite getrennt. Eine Episode gibt er zu gern zum Besten: Wie er absichtlic­h auffällig im Playboy gelesen und gewartet habe, bis von drüben ein Wisch-Zeichen kommt: Weiterblät­tern!

Günter Wetzel wirkt heute, fast 45 Jahre später, wie ein ganz normaler Rentner. Unzählige Male ist er wieder auf der Wiese bei Naila gewesen, seinem Landeplatz. Auf der Webseite Ballonfluc­ht.de hat er die Details seiner Flucht festgehalt­en. Inzwischen lebt er wieder im Osten, in Chemnitz. „Eine neue Liebe hat mich dahin verschlage­n. Gefühlt aber bin ich Franke geblieben“, sagt er. Zeitzeugen wie Günter Wetzel werden weniger. Das Grüne Band bleibt.

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Ein Stück Kolonnenwe­g, auf dem die Grenzer Streife fuhren – heute Anziehungs­punkt für Ausflügler.
 ?? ?? Ballonflüc­htling Günter Wetzel am früheren Landeplatz bei Naila.
Ballonflüc­htling Günter Wetzel am früheren Landeplatz bei Naila.
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Otto Oeder hat ein Buch geschriebe­n über seine Zeit als Grenzer in Bayern.
 ?? ?? Früher Sperrzonen-Bewohner, heute Grünes-Band-Hüter: André Maslo.
Früher Sperrzonen-Bewohner, heute Grünes-Band-Hüter: André Maslo.

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