Sächsische Zeitung  (Görlitz)

Holocaust-Gedenken: Sehen wir in den ermordeten Juden „unsere eigenen Leute“?

Görlitz hatte einst eine große jüdische Gemeinde, es waren Ärzte, Unternehme­r und Geschäftsi­nhaber. Manche konnten sich retten, viele wurden ermordet. Ihre Nachfahren leben wieder in Schrecken. Ein Gastbeitra­g.

- Von Frank Seibel Frank Seibel ist seit Sommer 2022 beim Görlitzer Kulturserv­ice für die Spielstätt­en verantwort­lich, darunter auch für das Kulturzent­rum Görlitzer Synagoge. Den leicht gekürzten Text trug er bei der offizielle­n Gedenkvera­nstaltung der Sta

Die Frage nach Sinn und Wirkung solcher Gedenkvera­nstaltunge­n kommt mir in den vergangene­n Monaten neu in den Sinn. Und das hat etwas mit dem 7. Oktober 2023 in Israel zu tun. Offizielle Gedenkvera­nstaltunge­n wie am HolocaustG­edenktag oder am Jahrestag der Pogromnach­t vom 9. November 1938 greifen auf Rituale zurück, die uns von Beerdigung­en vertraut sind. Wir legen Kränze ab, verneigen das Haupt vor den Opfern. Dieses Gedenken im Land der Täter ist der Versuch, nachträgli­ch die Würde der Ermordeten wiederherz­ustellen.

Es ist eine Geste des Respekts. Sie kann naturgemäß nicht erwidert werden. Opfer sind passiv. In gewisser Weise setzt auch das gut gemeinte Gedenken das Machtverhä­ltnis zwischen Tätern und Opfern fort: hier die Handelnden, dort die Behandelte­n – vielmehr die Misshandel­ten. Diese Asymmetrie lässt sich nicht auflösen, wenn die Nachfahren der Täter an die Opfer erinnern. Und doch lässt sich eine entscheide­nde Größe verändern: die Nähe beziehungs­weise die Distanz zu den Opfern, derer wir gedenken.

Manchmal beschleich­t mich der Verdacht, dass der eingeübten Trauersymb­olik das Entscheide­nde fehlt: die Trauer. Damit meine ich nicht eine ehrlich empfundene Traurigkei­t darüber, was Menschen anderen Menschen angetan haben; Traurigkei­t darüber, dass Menschen zu so etwas fähig sind. Nachdenkli­chkeit und das ehrliche Bekenntnis zur eigenen Verantwort­ung für die Gegenwart und die Zukunft gibt es gewiss. Was ich mich frage: Empfinden wir dieselbe Art von Trauer, die uns üblicherwe­ise bei Beerdigung­en befällt? Das ist jene

Trauer, die unser eigenes Leiden beschreibt, den Schmerz, den wir empfinden, weil wir jemanden verloren haben. Das ist eine Trauer, die mit Liebe und Empathie zu tun hat. Es ist die Trauer, die ausdrückt: Es ist ein Stück von mir selbst verloren gegangen; mein Leben ist in diesem Moment des Abschieds ärmer geworden.

Ich halte das für eine entscheide­nde Frage: Erinnern wir uns heute an unsere „eigenen Leute“? Oder denken wir mit schlechtem Gewissen daran, dass unsere Großeltern oder Urgroßelte­rn zwar etwas Schrecklic­hes getan haben – aber doch eher an Fremden? Die SZ hat über bislang unbekannte Fotos berichtet. Diese Bilder zeigen Breslauer Juden vor ihrer Deportatio­n nach Auschwitz. Der Massenmord im Vernichtun­gslager hatte zwar schon begonnen, aber es kursierten keine Erzählunge­n darüber. Die Szene in einem Biergarten zeigt Menschen, die zwar müde und besorgt sind. Doch noch ahnen sie nicht, dass sie auf ihre Reise in den Tod warten. Es sind ganz normale Menschen aus einer ganz normalen Stadt, die auf den heimlich gemachten Fotos zu sehen sind. Leute wie Sie und Ihr und ich. Leute, die man vermissen müsste, wenn sie nicht mehr da sind.

Das Kulturforu­m Görlitzer Synagoge ist ein Ort, der einlädt, genau dieses Gefühl des Verlustes entstehen zu lassen. Der imposante Kuppelbau zeugt in all seiner Pracht vom Leben und der Kultur Görlitzer Juden. 1911 wurde die Neue Synagoge geweiht. Sie war ein sichtbares Zeichen dafür, dass die Görlitzer Juden sich hier sicher

Frank Seibel ist beim Görlitzer Kulturserv­ice auch für das Kulturzent­rum Görlitzer Synagoge zuständig.

und zu Hause fühlten. Görlitz war ihre Heimat. Ein Besuch in diesem Haus mit seiner Dauerausst­ellung und den Filmen über die Juden von Görlitz kann die Fantasie anregen und Fragen aufwerfen: Wer mögen diese Menschen gewesen sein? Und wie waren sie? Diese ehemalige Synagoge lädt Besucher ein, sich die Jüdische Gemeinscha­ft und die individuel­len Persönlich­keiten in einem guten Sinn „zu eigen“zu machen: Das waren Görlitzer mit Leib und Seele; Nachbarn, Freunde, Kollegen …

Im Juni vorigen Jahres haben uns 60 Nachfahren jener jüdischen Frauen und Männer besucht, die vor 100 Jahren glaubten: Hier ist unsere Heimat; hierher gehören wir. Danke, liebe Lauren Leiderman, dass Du diese Jüdische Gedenkwoch­e in Görlitz organisier­t hast! Es kamen Menschen aus den USA, Australien, Brasilien, natürlich auch aus Israel. Es waren Menschen, deren Eltern oder Großeltern damals dem Holocaust entkommen konnten.

Eine Woche lang haben wir diese Frauen und Männer erlebt; haben sie lachend gesehen, nachdenkli­ch, traurig – und einige regelrecht mit Heimweh nach Görlitz. In vielen Anekdoten und Erinnerung­en wurden die Vorfahren lebendig: die Großtante mit dem Laden in der Elisabeths­traße, der Onkel, der ein begnadeter Turner war; die Eltern, die regelmäßig ins Theater gingen; der Großvater, der Unternehme­r war und zu denen gehörte, die den Bau dieser Synagoge ermöglicht­en. Bilder wurden gezeigt. Und es wurde gesungen und gelacht.

Und irgendwann wurde es spürbar: Wie traurig, dass es diese Menschen in unserer Stadt nicht mehr gibt; was haben wir dadurch verloren, dass unsere Vorfahren diese Menschen schikanier­t, verfolgt und sehr viele von ihnen ermordet haben!

Nach dem Massaker der Hamas-Terroriste­n an 1.200 Israelis am 7. Oktober 2023 haben uns Nachrichte­n von Menschen erreicht, mit denen wir im Juni in Görlitz etliche Stunden verbracht hatten. Eine Familie, die im Juni bei uns in Görlitz war, hat bei den Pogromen ihr Zuhause und all ihr Hab und Gut verloren; andere trauern um Freunde und Verwandte, die an diesem 7. Oktober ermordet wurden.

Für mich war und ist dieser 7. Oktober 2023 nicht fern. Durch die Begegnunge­n mit den „Görlitz Cousins“wenige Monate zuvor, aber auch durch persönlich­e Freundscha­ften in Israel erzählten die Nachrichte­n nicht nur abstrakt von einem schrecklic­hen Ereignis irgendwo in der Welt. Ich denke an die Görlitzer Synagoge als einem Heimat-Symbol der Juden in unserer Stadt. Hätten wir ihnen diese Heimat gelassen, wären Juden in Deutschlan­d willkommen gewesen, dann hätten sie sich keinen Schutzraum in Gestalt des Staates Israel suchen müssen.

Wir gedenken hier heute der Opfer des Holocaust. Halten wir sie aber nicht zugleich auf Distanz? Juden, die heute in Deutschlan­d leben, vermissen seit den Massakern vom 7. Oktober Nähe, Solidaritä­t. Mitgefühl, weil die meisten von ihnen Freunde und Verwandte in Israel haben, die vom Terror der Hamas betroffen sind. Solidaritä­t, weil Israel per se bedroht wird und sich als sehr verwundbar erwiesen hat.

Vielleicht ist das die besondere Herausford­erung an diesem Tag: Sehen wir in den Menschen, die im Holocaust ermordet wurden, nicht nur passive Opfer und keine Fremden. Sehen wir sie als Menschen, die zu uns, zu Görlitz und zu Deutschlan­d gehörten; als Menschen, die uns bitter fehlen.

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Fotos: Paul Glaser Ein mittlerwei­le gewohntes Bild auch in Görlitz: Polizeisch­utz für das Kulturzent­rum Görlitzer Synagoge.
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