Ich war der Nabel der Welt
Der Schauspieler und „Tatort“Kommissar Jörg Hartmann erzählt, was man alles tut aus Liebe zur Kunst – und was man dabei verliert.
Die Fallhöhe könnte kaum größer sein. Als Student setzt Jörg Hartmann Himmel und Hölle in Bewegung, um an die Schaubühne in Berlin zu kommen. Mit einem Freund lauert er der Intendantin im Restaurant auf, verhandelt mit Bühnenpförtnern, sucht den Kontakt zu legendären Darstellern und hofft auf ein Empfehlungsschreiben. Wie viel Leidenschaft und Hoffnung investiert er in seinen Traum, wie viel Arbeit und Fleiß! Fliegt er aus einer Tür raus, marschiert er durch die nächste rein. „Ich war der Nabel der Welt“, jauchzt er nach dem ersten erfolgreichen Vorsprechen. „In uns brannte die Glut.“Nur mit dieser Unbedingtheit gelingt etwas, und in der Kunst erst recht.
Jörg Hartmann beschreibt den unbändigen Willen, für ein großes Ziel alles zu tun. Doch nach einigen Jahren, als er es tatsächlich geschafft hat und oben angekommen ist, kündigt er. Warum?
Das erzählt der 54-Jährige in seinem Buch „Der Lärm des Lebens“. Nun ist Jörg Hartmann nicht der erste Schauspieler und ebensowenig der erste „Tatort“-Kommissar, der seine Erfahrungen zu Papier bringt. Es gibt mehr oder weniger autobiografisch gefärbte Bücher von Ulrich Tukur, Matthias Brandt, Andrea Sawatzki, Christian Berkel, Axel Milberg, Matthias Matschke, Edgar Selge, Johann von Bülow, Samuel Finzi und Joachim Meyerhoff. Auch der Österreicher Robert Seethaler stand vor der Filmkamera und auf der Bühne, bevor er zum Bestsellerautor wurde. Doch gute Schauspieler schreiben nicht automatisch auch gute Bücher. Dass man sich in andere Menschen hineinversetzen kann, genügt nicht.
Jörg Hartmann, bekannt als schmallippiger „Tatort“-Kommissar, kann mehr. Allein schon, wie er in seiner Erzählung unterschiedliche Sprachfärbungen wiedergibt, ist gekonnt. Er verschränkt berufliche und familiäre Episoden zu einem Lebensbild, das nachdenklich stimmt. Denn es ist auch ein Bild vom Sterben. Es geht um nicht weniger als die empörende Endlichkeit der Existenz. Hartmann schildert die letzten Monate seines dementen Vaters. Immer wieder gehen die Gedanken dorthin zurück. Das Seniorenheim nennt er einen „hingerotzten Renditewürfel“, „eine Pappschachtel als Dankeschön an die Alten“. Selbst ein Kuhstall zeuge von größerem Schöpfungsehrgeiz. Dieser Ton zieht sich durch den Text in vielen Nuancen: sarkastisch, spöttisch, melancholisch, lakonisch, ironisch und bitterernst. Mit Sorge kommentiert Hartmann die politische Lage. Er fragt, wie die „globale Ökokatastrophe“ noch abzuwenden wäre, und kritisiert, ein „reger Regelhagel“in Deutschland ersticke jede Ambition im Keim.
Am kritischsten geht er mit sich selbst ins Gericht. Er habe sich in die Aufregungen des Theaters gestürzt, habe sich den Zwängen des Bühnenbetriebs untergeordnet, habe sich hetzen lassen von einem Gastspiel zum nächsten. Alles aus Liebe zur Kunst. „Ich war ein Theatersoldat, der immer funktioniert hatte.“Oft genug musste sich seine Frau allein um die beiden Kinder kümmern. Der Vater starb ohne ihn. Manche Verwandte in der Ruhrgebietsheimat sah er jahrelang nicht. Ein narzisstischer, fremdbestimmter, alles andere auffressender Beruf. Erst im Stillstand der CoronaZeit wurde das dem Schauspieler ganz bewusst. „Wir alle verdrängen die Fragen, die wehtun, die uns zwingen würden, unser Leben zu ändern.“Mit der Kündigung an der Schaubühne wollte Hartmann die Konsequenzen ziehen. Jetzt spielt er dort als Gast. Im Vorjahr war er in vier Filmen zu sehen. Im April hat er fast jeden zweiten Tag eine Lesung. Beifall ist eine Droge, von der man schwer loskommt.