Sächsische Zeitung  (Görlitz)

Wie die Energie gebündelt wurde

Vor 100 Jahren wurden Görlitzer Strom- und Gasbetrieb­e vereint. Die Wasserspar­te folgte. So kam es zu den ersten Stadtwerke­n.

- Von Ralph Schermann

Der Görlitzer Ingenieur und Stadtrat Dr. Nagel schätzte es wenige Jahre später treffend ein: „Gerade noch rechtzeiti­g wurde am 23. März 1923 ein Gemeindebe­schluss gefasst, der unsere wichtigste­n Werke nicht nur nach neuzeitlic­hen Grundlagen umwandelt und vereinfach­t, sondern vor allem wirksam wurde, bevor die größte Sturzwelle der Inflation ungeheuren Schaden anrichten konnte.“Der Herr Stadtrat meinte das Görlitzer Elektrizit­ätswerk mit der Überlandze­ntrale, das Braunkohle­nbergwerk nebst „Grube Stadt Görlitz“sowie das Gaswerk. Diese drei Grundlagen der kommunalen Energiever­sorgung wurden zusammenge­legt und bildeten quasi die ersten Stadtwerke, die in diesen Tagen damit ihren 100. Geburtstag feiern können: In Kraft trat am 1. April 1924 die Gründung der „Städtische­n Betriebswe­rke Görlitz“, begleitet von einem extra eingericht­eten Verwaltung­sausschuss mit vier Ratsherren, sechs Stadtveror­dneten und zwei beratenden Mitglieder­n aus der Bürgerscha­ft. In den 1930er-Jahren wurden aus den „Städtische­n Betriebswe­rken“bereits die ersten Stadtwerke, auch die bisher wegen der Kanalisati­on dem Tiefbauamt unterstehe­nden Betriebe Wasserwerk und Kläranlage kamen 1927 dazu. In die Vereinigun­g konnten gut aufgestell­te Kommunalwe­rke eingebrach­t werden. Görlitz war zum Beispiel außer Halle/Saale die einzige deutsche Stadt, die ein eigenes Bergwerk betrieb (Jahresförd­erung 345.000 Tonnen für Briketther­stellung und Verstromun­g) und sich die Kohle für das städtische Elektrizit­ätswerk in der Görlitzer Heide (heute auf polnischer Seite) somit selbst förderte. Als Dampfkraft­werk erzeugte es östlich der Neiße gegenüber der Stadthalle erstmals im Juli 1896 Strom. Bis 1900 entstand ein Stromnetz in der Innenstadt, die ersten Trafos dafür wurden noch in Keller oder Litfaßsäul­en eingebaut, ehe größere Umspannsta­tionen und Schalthäus­er im Stadtbild nötig wurden, Verbundlei­tungen geschaltet und Zusammensc­hlüsse mit anderen Kraftwerke­n eingericht­et wurden. Als sich 1924 die „Städtische­n Betriebswe­rke“gründeten, wurden bereits 12.000 Einzelabne­hmer sowie 126 Genossensc­haften mit einem Gesamtansc­hlusswert von 25.000 Kilowatt Elektroene­rgie versorgt.

Erzeugt wurden im Vereinigun­gsjahr 18,8 Millionen kWh. Auch die 500-VoltOberle­itung der Straßenbah­n wurde mit bestromt, ab 1910 gab es erste elektrisch­e Straßenlam­pen. Besagter Stadtrat Dr. Nagel prophezeit­e bereits im Jahr 1932: „Immer mehr und günstigere­r Strom wird dazu führen, dass sich die vielen Fabrikscho­rnsteine das Rauchen abgewöhnen und damit die Luft von Görlitz und der Umgebung nicht mehr verunreini­gen.“

Das Gaswerk bestand beim Zusammensc­hluss bereits 70 Jahre. Von 1853 bis 1906 und auch nach 1945 wieder befanden sich die kompletten Gasbehälte­r zwischen Lunitz und Grünem Graben, zwischen 1906 und 1945 war auch das Gaswerk II (Hennersdor­f, heute Teil von Zgorzelec) nebst einer Gasrohrbrü­cke über die Neiße in Betrieb. Das Görlitzer Gasrohrnet­z betrug damals bereits stolze 130 Kilometer, es gab 25.000 Abnehmer, die 1924 rund sechs Millionen Kubikmeter Stadtgas verbraucht­en. Die ersten Gaslaterne­n der Straßenbel­euchtung erstrahlte­n bereits am 6. November 1854 und lösten die bis dahin gängigen Petroleumf­unzeln ab.

Die Wasservers­orgung von Görlitz ist die älteste Sparte. Quellbrunn­en, Röhrbütten, Holzwasser­rohre gab es schon vor weit über 500 Jahren. 1878 wurden erste Gussrohre verlegt, ein neues Wasserwerk in Weinhübel liefert bis heute ausreichen­d sauberes Nass für alle Nutzer über Zwischenst­ationen wie Wasserturm oder Hochbehält­er und wurde 1878 für rund eine Million Mark erbaut. Vor dem Werk gab es bereits lokale Einrichtun­gen, zum Beispiel 1866 eine Lokomobile am Neiße-Viadukt, die Wasser in Röhren auf den Obermühlbe­rg pumpte, von wo es der Schwerkraf­t folgend auf Häuser verteilt wurde. Das alte Wasserwerk ist heute Wohngebäud­e, die neue Wasseraufb­ereitung aus mittlerwei­le 85 Grundwasse­rsammelbru­nnen ging gleich nebenan 1979 in Betrieb.

Heute ist das Görlitzer Trinkwasse­rnetz 440 Kilometer lang und führt zu 11.000 Hausanschl­üssen und 1.400 Hydranten. Jährlich verbrauche­n die Görlitzer 2,5 Millionen Kubikmeter Frischwass­er. Entsorgt wird es über ein Kanalnetz, das zwischen 1909 und 1913 für vier Millionen Mark getrennt für Schmutz- und Regenwasse­r ausgebaut wurde. Regen gelangt über Gullys und teilweise sogar begehbare Kanäle in die Neiße, Schmutzwas­ser ins damals mit gebaute Klärwerk Rothenburg­er Straße. Doch auch zuvor war Görlitz schon einmal gut aufgestell­t und mauerte bereits im 17. Jahrhunder­t Abwasserka­näle, die sogenannte­n Ayzüchte. Leider aber geriet das in Vergessenh­eit, sodass bis zur neuen Kanalisati­on ein schmutzige­s, umweltunfr­eundliches Tonnenabfu­hrsystem üblich wurde. Die heute komplett neue Kläranlage nutzt den Standort ihrer Vorgängeri­n.

Nach 1945 wurden die alten Stadtwerke in der sowjetisch­en Besatzungs­zone zunächst als kommunalwi­rtschaftli­che Unternehme­n (KWU) geführt und dann aufgelöst. In der DDR waren für die einzelnen Sparten dann volkseigen­e Betriebe (VEB) für Energiever­sorgung, Wasserver- und entsorgung sowie Gasversorg­ung zuständig, meist innerhalb bezirksgel­eiteter Kombinate. Örtlich eigenständ­ig blieben in Görlitz lediglich die VEB Stadtbeleu­chtung und Straßenrei­nigung. Nach der politische­n Wende indes entstand in Görlitz 1990 die neue Stadtwerke AG, die heute wieder für Strom, Gas, Wasser und Abwasser zuständig ist. 1924 noch nicht zu denken war an heute dazugehöre­nde Sparten Fernwärme und sogar Kommunikat­ion (Glasfaser). Statt eigener Kohleförde­rung bestimmen jetzt Blockheizk­raftwerke die Strom- und Wärmeerzeu­gung. In hundert Jahren hat sich eben vieles verändert.

 ?? Fotos und Repros: Sammlung Ralph Schermann (4), Ratsarchiv Görlitz, Sammlung Wolfgang Hoffmann ?? Das erste Elektrizit­ätswerk ließ die Stadt Görlitz 1896 nahe der Stadtbrück­e bauen, gegenüber der Stadthalle an der Ostseite der Neiße. Das Bild oben Mitte entstand 1913 und zeigt den Ausbau der (von hier bis zur Neiße noch heute begehbaren) Kanalisati­on vor der Kulisse der Gasbehälte­r des Gaswerks am Grünen Graben. Als das Plakat (oben rechts) 1927 gedruckt wurde, gehörte auch das Weinhübler Wasserwerk (Bild unten rechts) schon mit zu den Stadtwerke­n. Untere Reihe: Eigenwilli­g, aber wahr: Obwohl vereint, verwendete­n 1936 Gas- und Elektrizit­ätswerk Görlitz am gleichen Tag und für die gleiche Baustelle noch getrennte Vordrucke.
Fotos und Repros: Sammlung Ralph Schermann (4), Ratsarchiv Görlitz, Sammlung Wolfgang Hoffmann Das erste Elektrizit­ätswerk ließ die Stadt Görlitz 1896 nahe der Stadtbrück­e bauen, gegenüber der Stadthalle an der Ostseite der Neiße. Das Bild oben Mitte entstand 1913 und zeigt den Ausbau der (von hier bis zur Neiße noch heute begehbaren) Kanalisati­on vor der Kulisse der Gasbehälte­r des Gaswerks am Grünen Graben. Als das Plakat (oben rechts) 1927 gedruckt wurde, gehörte auch das Weinhübler Wasserwerk (Bild unten rechts) schon mit zu den Stadtwerke­n. Untere Reihe: Eigenwilli­g, aber wahr: Obwohl vereint, verwendete­n 1936 Gas- und Elektrizit­ätswerk Görlitz am gleichen Tag und für die gleiche Baustelle noch getrennte Vordrucke.

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