Steinmeiers Besuch in Görlitz: Ein Bad in der Menge sieht anders aus
Der Bundespräsident war in Görlitz und sah sich Lukas Rietzschels Theaterstück an. Bürger konnten mit ihm ins Gespräch kommen – wenn sie sich trauten.
Steinmeiers Besuch in Görlitz beginnt mit einem 750 Meter langen Spaziergang vom Hotel Tuchmacher in der Peterstraße zum Theater, dessen Gast der Bundespräsident an diesem Tag ist. Für Zaungäste ist das eine Überraschung. Sie können beobachten, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Unter- und den Obermarkt überquert, können miterleben, wie Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer ihm das Schlesische Museum nahelegt und den Schönhof als „spektakuläres“Renaissancegebäude preist, können ihn vor dem Theater fotografieren und später mit ihm das Stück „Das beispielhafte Leben des Samuel W.“im Görlitzer Theater anschauen. Deswegen ist Steinmeier nach Görlitz gekommen, die Stadt steht nur an zweiter Stelle.
Das ist schnell zu spüren. Vor der Vorstellung trägt sich Steinmeier ins Goldene Buch des Theaters ein, das seit 1940 bedeutende Persönlichkeiten versammelt, die das Theater besucht oder hier gastiert haben. Für einen Eintrag im Goldenen Buch der Stadt etwa, der häufig Teil von Besuchen Prominenter ist, hat das Bundespräsidialamt im Görlitzer Rathaus laut dessen Pressestelle nicht angefragt. So gibt es nun das Kuriosum, dass Steinmeiers Schriftzug im Theater-Gästebuch steht, aber nicht im Gästebuch der Stadt.
Nach diesem Eintrag verbringt der Bundespräsident 20 Minuten auf dem Balkon des Theaters – für einen „Austausch mit Besucherinnen und Besuchern“. Dass man sich hier „austauschen“kann, wissen allerdings nur wenige der 370 Besucher, von denen die meisten ganz regulär im Vorfeld Karten gekauft haben und am Abend unter strengen Sicherheitsvorkehrungen ins Theater gelassen werden. „Wir wussten gar nicht, dass heute so hoher Besuch da ist“, sagt eine Görlitzerin, „sondern haben unsere Karten schon sehr lange.“Wie so viele andere sei sie hier, um das von Lukas Rietzschel geschriebene und vom Zittauer Schauspieldirektor Ingo Putz inszenierte Stück zu sehen, über das schon so viel zu lesen war. Und das mittlerweile auch zu den renommierten Berliner Theatertagen Anfang Juni eingeladen wurde.
70 Besucher sind geladene Gäste, Mitarbeiter und Vertreter der Medien oder gehören zu Steinmeiers Sicherheitsteam. Für die hinteren Plätze im ersten und im gesamten zweiten Rang sind wie bei vielen Schauspielinszenierungen keine Tickets angeboten worden, weil man von da aus den hinteren Teil der Bühne nur schlecht einsehen kann. Andernfalls würde Steinmeier am Sonntag einen noch volleren Saal erleben. Seine respekteinflößenden Bodyguards sind jedoch eine Hürde, die man sich zu überwinden trauen muss, um mit Steinmeier einfach so ins Gespräch zu kommen. Auch sein Gespräch mit dem Ministerpräsidenten, dem Görlitzer Oberbürgermeister und dem Generalintendanten des Theaters will keiner stören.
Julia Schlüter, Geschäftsführerin der Rabryka, ergreift schließlich die Gelegenheit, Steinmeier von den Aktivitäten des Görlitzer Zentrums für Jugend- und Soziokultur zu berichten. Auch zwei Absolventinnen und zwei Schülerinnen des JoliotCurie-Gymnasiums sowie dessen stellvertretender Direktor Andreas Müller können mit dem Bundespräsidenten sprechen. Zum einen bittet Müller ihn um gutes Wetter am 8. Juni, wenn das Gymnasium eine „Matinee fürs gehathe – Daumen hoch für das Görlitzer Theater!“organisiert, bei der die Schulband und weitere musikalische Akteure auf dem Wilhelmsplatz Kultur für die Mitarbeiter des krisengeplagten Theaters bieten. Zum anderen erzählen die Studentinnen Hanna Müller und Weronika Vogel Steinmeier von ihrem Blog „Eastplaining.
Der Ostblog“, in dem sie Ostdeutsche verschiedener Generationen zu Wort kommen lassen, Vorurteile und Klischees relativieren und so ein Zeichen dagegen setzen, dass westdeutsch Sozialisierte ihnen den Osten erklären. Interessiert ist Steinmeier, von den Elftklässlern Johanna Hasse und Constantin Schütz mehr über die Podiumsdiskussionen mit Lokalpolitikern zu erfahren, die die Schüler des Joliot-Curie-Gymnasiums jeweils vor den Wahlen für ihre Mitschüler organisieren und moderieren.
Auf dem Theaterbalkon spricht ihn Agnieszka Bormann an, Kulturreferentin für Schlesien, und fragt, ob er das Schlesische Museum bereits besucht habe. „Ich war dort, aber noch nicht drin“, sagt Steinmeier – und dass er das eigentlich tun sollte: „Schließlich bin ich mütterlicherseits Schlesier.“Zunächst aber beginnt für ihn wie für alle anderen Besucher die Theatervorstellung, die der Bundespräsident zwischen Rietzschel und Intendant Daniel Morgenroth von der ersten Reihe im Parkett aus mitverfolgt – genau wie Ministerpräsident Kretschmer und OB Ursu.
Was er über das Stück denkt, für das der in Görlitz lebende Schriftsteller Rietzschel aus 100 biografischen Interviews mit Görlitzern und Oberlausitzern geschöpft hat und das fragt, warum sich manche Menschen radikalisieren, ist nicht zu erfahren. Nach der Aufführung spricht Steinmeier mit den Darstellern, aber hinter verschlossenen Türen. Überhaupt richtet er kein Wort, keine Ansprache an die Besucher oder die Öffentlichkeit, sondern postet später auf Instagram: „Zu den Dingen, auf die wir in Deutschland stolz sein können, gehört, dass großartige Kulturangebote nicht nur in den Metropolen stattfinden, sondern überall im Land. Zum Beispiel hier in Görlitz.“Die Botschaft des Rietzschel-Stückes sei klar: „Wir müssen miteinander reden, aber Gewalt zerstört Demokratie.“Diese Botschaft könne aktueller nicht sein in Zeiten, in denen geradezu täglich Angriffe auf politisch Verantwortliche bekannt würden.
Vermutlich auch deshalb und wegen des spärlichen Austausches mit Bürgern wirkt der Besuch des Bundespräsidenten in Görlitz distanzierter als angekündigt. Die Regeln beispielsweise für Medienvertreter, vor allem Fotografen und Kameraleute, die von Begegnungen zwischen Politik und Bevölkerung berichten könnten, sind sehr streng. Sie dürfen sich nur als Gruppe bewegen und müssen großen Abstand halten. Von dieser Distanz ist auf den Bildern, die später das Bundespräsidialamt veröffentlicht, nichts zu sehen. Dennoch bleibt Steinmeiers gute Botschaft, die sein Pressebüro postet: „Erfolgsgeschichten gibt es überall in unserem Land – zum Beispiel im sächsischen Görlitz.“