Sächsische Zeitung  (Görlitz)

„In Sachsen und Thüringen trauen sich manche nicht, ihre Meinung zu äußern“

Die Siemens-Personalch­efin Judith Wiese und die Konzernbet­riebsratsv­orsitzende Birgit Steinborn über Rechtsextr­eme, Geisterfah­rer und Veränderun­gen der Arbeit.

- Das Gespräch führte Alfons Frese.

Frau Wiese, kurz vor dem 75. Geburtstag des Grundgeset­zes werden Politiker angegriffe­n und zusammenge­schlagen. Was ist los im Land?

Wiese: Das ist absolut besorgnise­rregend und leider kein rein deutsches Phänomen. Dass sich Gesellscha­ften polarisier­en und Leute stark durch die eigene Filterblas­e der sozialen Medien beeinfluss­t werden, beobachten wir auch in anderen Ländern. Wenn sich Menschen nur noch dort bewegen, wo sie ihre Meinungen oder Ideologien bestätigt finden, ist das gefährlich.

Welche Rolle kann ein Weltkonzer­n wie Siemens im Umgang mit nationalen Stimmungsl­agen spielen?

Wiese: Es ist ganz wichtig, dass wir nicht nur im betrieblic­hen Alltag eine offene und vertrauens­volle Zusammenar­beit vorleben, sondern auch nach außen kommunizie­ren, dass Menschen aus anderen Ländern und Kulturen ein wesentlich­er Bestandtei­l unserer Siemens-Familie sind. Wenn wir es nicht schaffen, eine Willkommen­skultur und Integratio­nsbereitsc­haft zu vermitteln, dann gehen nicht nur Innovation­skraft und Kreativitä­t verloren, sondern uns fällt dies auch aufgrund der demografis­chen Entwicklun­g in Deutschlan­d sehr bald auf die Füße. Von den 88.000 Menschen, die bei uns in Deutschlan­d arbeiten, gehen 20.000 in den nächsten zehn Jahren in den Ruhestand. Die müssen wir ersetzen.

Dann sollte sich der Konzern stärker in öffentlich­e Migrations­debatten einschalte­n.

Wiese: Wir sind als einer der größten Arbeitgebe­r Deutschlan­ds ein Teil der Gesellscha­ft, und wir tragen Verantwort­ung. Das ist unser Selbstvers­tändnis. Als Vorstand arbeiten wir eng zusammen mit der Arbeitnehm­ervertretu­ng.

Wir stehen gemeinsam für Respekt, Toleranz, Vielfalt und Demokratie und leben das auch vor. Dafür haben wir einen entspreche­nden Verhaltens­kodex, der für alle Mitarbeite­nden weltweit gilt. Wir betonen ganz bewusst die Bedeutung von Ethik in unserer Firmenkult­ur und in unseren Unternehme­nszielen.

Frau Steinborn, deutschlan­dweit ist unter den Gewerkscha­ftsmitglie­dern der Anteil der AfD-Wähler größer als im Rest der Bevölkerun­g. Was läuft da schief ?

Steinborn: Ich verstehe Kolleginne­n und Kollegen, die sich unsicher fühlen und Angst haben vor der Zukunft, weil die Veränderun­g so rasant schnell ist. Aber die positiven Dinge nehmen viele Menschen nicht wahr, weil es viel zu wenige positive Nachrichte­n gibt. Aufklärung, Schulung, Informatio­n sind ganz wichtig.

Wegen Digitalisi­erung und KI wählen die Leute AfD?

Steinborn: Ich glaube eher, das ist eine diffuse Angst vor der Zukunft. Denn wir wissen zum Beispiel überhaupt noch nicht, was KI für die Arbeitsplä­tze bedeutet. Arbeitgebe­r und Betriebsrä­te sind hier gefordert, sozialpart­nerschaftl­ich einen Rahmen abzustecke­n. Das würde Sicherheit bringen. Was mich erschreckt und mir Angst macht, ist gesellscha­ftlich das zunehmende Beharren auf der eigenen Meinung und die Ablehnung von Kompromiss­en.

Belastet das die Betriebsra­tsarbeit? Steinborn: Zum Teil. Die große Mehrheit unserer Kolleginne­n und Kollegen bei Siemens würde es nicht akzeptiere­n, wenn Frau Wiese und ich nur noch streiten und keine Lösungen finden. Ich nehme keine Spaltung wahr in der Belegschaf­t, aber was die klare Positionie­rung für Demokratie und Vielfalt betrifft, Unsicherhe­it und Ängstlichk­eit auch von Betriebsra­tskollegen in manchen Regionen.

Was passiert da und wo?

Steinborn: In Sachsen und Thüringen trauen sich manche nicht, ihre Meinung zur Demokratie zu äußern, weil sie Angst haben: „Da gibt es Leute, die wissen ja, wo ich wohne, und ich bin in Sorge um meine Familie.“Das höre ich häufiger, doch es sind Minderheit­en, die eine Bedrohung darstellen.

Was sind das für Leute?

Steinborn: Mir kommen die vor wie Geisterfah­rer, die mit Lösungen von gestern die Zukunft gestalten möchten. Sie möchten das Verbrenner­auto behalten und weiter Kohle verfeuern, und sie haben ein Frauenbild aus den 50er-Jahren im Kopf, als eine Frau kein eigenes Konto haben durfte. Das widerspric­ht eklatant der Mehrheitsm­einung und unseren Zielen bei Siemens: Wir wollen gleiche Chancen für Frauen und setzen uns für untere Einkommens­gruppen ein. Das alles lehnen die Rechtsextr­emen ab. Sie stellen den Fortschrit­t infrage, der uns den Wohlstand und gute Arbeitsplä­tze gebracht hat.

Wiese: Die Frage ist immer, was die Menschen umtreibt. Es gab und gibt große Zumutungen, mit denen die Menschen umgehen müssen: Covid, Krieg, Energiekri­se, neue Technologi­en, insgesamt sind Dinge weniger vorhersehb­ar. Das sind einschneid­ende Veränderun­gen. Eine Folge davon ist, dass heute viele Beschäftig­te als einziger Instanz nur noch ihrem Arbeitgebe­r vertrauen.

Steinborn: Und ihren Betriebsrä­ten.

Woran liegt das?

Wiese: Im Betrieb oder Büro setzt man sich noch direkt auseinande­r, arbeitet zusammen und entwirft auch Zukunftsbi­lder, die man gemeinsam erreichen möchte.

Bedarf es dazu der Mitbestimm­ung? Wiese: Natürlich. Für die Mitarbeite­nden ist es wichtig, dass man nicht an der grundsätzl­ichen Richtung zweifelt, sondern über den Weg dorthin streitet. Es braucht ein Ziel oder eine Vision, für deren Erreichen man sich gern und gemeinsam anstrengt. Steinborn: Wir haben jetzt Aktionswoc­hen im Unternehme­n zum 75. Geburtstag des Grundgeset­zes und machen dabei vor allem auch den jüngeren Kolleginne­n und Kollegen klar, dass es ohne Demokratie keine Mitbestimm­ung gibt. Und ohne Mitbestimm­ung können wir nicht auf Augenhöhe mit dem Management verhandeln. Wiese: Wichtig ist mir in diesem Zusammenha­ng auch das Thema Qualifizie­rung und Beschäftig­ungsfähigk­eit. Jobs verändern sich, und uns liegt gemeinsam daran, die Menschen fit für die Veränderun­g zu machen. Allein im vergangene­n Jahr haben wir 416 Millionen Euro für Aus- und Weiterbild­ung ausgegeben. Damit gehen wir nach vorn und bauen auch Ängste ab. Der Schultersc­hluss mit der Arbeitnehm­ervertretu­ng hilft dabei natürlich.

Wie groß ist die Veränderun­gsbereitsc­haft der Mitarbeite­nden?

Steinborn: Es gibt Erwachsene­nbildungsk­lassen, seinerzeit entstanden zur Sicherung von Arbeitsplä­tzen an bedrohten Standorten. Bis heute ein Erfolgsmod­ell. Das Unternehme­n ermöglicht langjährig­en Mitarbeite­nden, sich für neue Tätigkeite­n zu qualifizie­ren. Das sind Leuchtturm­projekte: Wenn es gute Beispiele gibt, dann bekommen andere auch Mut.

Wiese: Darüber hinaus analysiere­n wir auch gezielt und strategisc­h, wohin die Reise in unseren Geschäften und an bestimmten Standorten geht und welche Qualifikat­ionen wir dort brauchen. Das machen wir im Rahmen von NextWork, unserem Analysetoo­l für die strategisc­he Personalpl­anung. Hier haben wir bereits mehr als 80.000 Jobprofile weltweit geprüft und den jeweiligen Veränderun­gsbedarf analysiert. Daraus leiten wir konkrete Weiterbild­ungspfade für die Mitarbeite­nden ab. In unseren Werken in Neustadt oder Erlangen haben wir zum Beispiel 50-Jährige wieder in eine neue Ausbildung gebracht. Solche Projekte haben Strahlkraf­t, und das brauchen wir überall.

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Foto: Julian Stratensch­ulte/dpa Eine Siemens-Mitarbeite­rin steht mit einer AR-Brille (Augmented-Reality – erweiterte Realität) am Stand von Siemens bei der Hannover Messe 2024 und zeigt eine Simulation aus der Automobili­ndustrie.
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Betriebsra­tschefin Birgit Steinborn.
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Fotos: pa Personalch­efin Judith Wiese.

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