Rammsteins Brandmarken
Etwa 60.000 Fans feierten die Band Rammstein am Mittwochabend auf der Festwiese in der Flutrinne in Dresden. Die halbe Stadt hörte ungewollt mit. Die Anschuldigungen gegen den Frontsänger spielten nur am Rande eine Rolle.
Aus den zwölf riesigen Boxentürmen fegt die Musik der Band Rammstein wie ein Orkan den rund 60.000 Besuchern entgegen. „Ich hab Dich!“, singt Till Lindemann mit seiner markanten tiefen Stimme. Zehntausende grölen die Textzeile zurück. Doch wer hatte denn nun wen? Vermutlich trifft beides zu. Das Publikum hat ihre Band zurück. Nach fast einem Jahr Konzertpause in Deutschland. Und Lindemann hat Zehntausende seiner Fans zurück – trotz aller Anschuldigungen, die es seit vorigem Jahr gab. Jedenfalls all diejenigen Fans, die sich an diesem Mittwochabend auf der Festwiese in der Dresdner Flutrinne mit der Band wie in alten Zeiten vergnügen.
Katja, Saskia, Frank und Mirko sind aus Thüringen und Oberfranken angereist. Wie so viele Fans tragen sie schwarze TShirts und warten, dass sich endlich die Tore zum Konzertgelände öffnen. Eine Gruppe junger Franzosen hat sogar schon frühmorgens 5.30 Uhr Stellung am Eingang bezogen. Erst zehn Stunden später werden die Eingänge geöffnet. Sie wollen aber unbedingt einen Platz nahe der Bühne haben, ihren Idolen ganz nahe sein.
Das hat sich offenbar auch Leon aus Berlin vorgenommen. Aus seiner Sicht auf die unbewiesenen Vorwürfe gegen Till Lindemann macht er keinen Hehl. Auf seinem weißen T-Shirt steht in großen schwarzen Buchstaben: „Fick mich Till!“Dass Leon mit seinem roten Vollbart und hoher Stirn in Lindemanns Beuteschema passt, darf eher bezweifelt werden. Es ist Leons trotzige Antwort auf die Anschuldigungen.
Es ging nach Medienberichten um ein Rekrutierungssystem, das dazu diente, dem Frontsänger junge Frauen zuzuführen. Ein Ermittlungsverfahren wegen möglicher sexueller Übergriffe und der Abgabe von Betäubungsmitteln wurde inzwischen eingestellt. Die Unschuldsvermutung gelte nun mal für jeden, auch für Lindemann, erklären einige Fans.
Von der Neustadt aus macht sich dagegen eine Demonstration von etwa 250 Protestierern auf den Weg zum Konzertgelände. Rammstein gehört für sie vor Gericht statt auf die Bühne, wie auf einem Banner zu lesen ist. Neben ein paar verbalen Scharmützeln von Demonstranten mit Rammstein-Fans bleibt es aber ruhig. Letztere lassen sich den Spaß an der Show nicht verderben. Minutiös war alles geplant. Das französische Duo Abélard erntete für seine ruhigen Klavier-Interpretationen einiger Rammstein-Songs als Vorband noch mäßigen Applaus.
Der brandet dann auf, als sich pünktlich 19.30 Uhr Rammstein den Besuchern präsentiert. Till Lindemann, inzwischen 61 Jahre alt, lässt sich mit seinen Bandkollegen zu den Klängen von Händels Feuerwerksmusik in einem offenen Aufzug von einem etwa 20 Meter hohen stählernen Turm auf die eher schmucklose Bühne hinabfahren. Die Massen toben schon, bevor auch nur einer der Musiker sein Instrument in der Hand hat. Schwarzer Rauch steigt von den Boxentürmen auf. Die Rauchschwaden ziehen der untergehenden Abendsonne entgegen.
Für den Georgier Giorgi Vinogradoff und seine beiden Freunde ist Dresden die Reise ihres Lebens. „25 Jahre lang träumte ich davon, mal ein Konzert von Rammstein zu erleben. Dieses Jahr passiert es endlich“, sagt der 40-Jährige. Lange hat er für dieses Erlebnis gespart. Und es sollte auf jeden Fall ein Konzert in Deutschland sein – wenn es doch eine deutsche Band ist.
Warum es hier Proteste gegen die Band gibt, können die drei nicht verstehen. Von russischen Freunden hatten sie mal davon gehört. In der Presse Georgiens war das jedoch kein Thema. Jetzt stehen die drei in der Feuerzone, wie der Bereich vor der Bühne genannt wird, und himmeln ihre Idole an. „Es war wirklich toll. Etwas Unglaubliches“, sagt der Georgier danach.
Der Ansturm auf die Tickets war riesig, trotz der Preise von 114 bis 149 Euro. An den zahlreichen Bierständen ist der Ansturm nicht ganz so groß. Ein Liter Bier kostet 13 Euro. Die gleiche Menge Mineralwasser gibt es für zehn Euro.
Am Freitag gönnt die Band sich und den Anwohnern einen Ruhetag. Erst am Sonnabend und Sonntag geht es weiter. Beide
Konzerte gelten seit Langem als ausverkauft. Man kann sich jedoch online auf eine Warteliste des offiziellen Ticketportals setzen lassen. Dort erfolgreich zu sein, ist gar nicht so unwahrscheinlich, wie ein Test am Donnerstagmorgen ergibt.
Das spielt Stefan aus Dresden so gar nicht in die Karten. Er steht am Mittwochabend im Strom der anreisenden Konzertbesucher und hält zwei Tickets in die Höhe, die er gern noch loswerden wollte. Auch nach über einer Stunde vergeblich. „Ich würde sie auch preiswerter abgeben und man kann sie hier direkt noch umschreiben lassen“, erklärt er. Denn das ist nötig. Die Tickets sind nicht nur personalisiert, sondern es wird am Eingang tatsächlich der Ausweis kontrolliert.
Teresa und ihre Volleyball-Freundinnen aus dem Sportinternat im Ostragehege können ganz ohne Tickets das Konzert verfolgen. Sie sitzen auf den Fensterbrettern ihrer Zimmer, lassen entspannt die Beine baumeln und gucken auf das ungewöhnliche Treiben zu ihren Füßen. „Das ist doch cool, mal so was in Dresden zu erleben“, sagt die 18Jährige. Ob sie das nach dem vierten Konzert auch noch so sieht, da ist sie sich noch nicht so sicher. Aber weil ja um 22 Uhr laut Auflagen der Stadt wieder Ruhe ist, „sollte das nicht so schlimm sein“, erklärt sie.
Was direkt auf der Bühne passiert, kann sie aus der Ferne nicht erkennen. Als eingefleischter Rammsteiner darf man sich nicht so leicht ekeln. So viel wird alsbald klar. Für viele Menschen sogar abstoßend dürfte sein, wenn sich jemand auf eine überdimensionale Kanone in Penisform setzt und weißen Schaum auf die Umstehenden spritzt. In einer x-beliebigen Fußgängerzone würde eine solche Aktion möglicherweise Fremdschämen auslösen. Vor Zehntausenden jubelnden Fans ist das ein Alleinstellungsmerkmal, das nur eine deutsche Band, Rammstein, und ein Frontsänger wie Till Lindemann schafft. Beim Titel „Pussy“schwingt er sich in den Sattel.
Zum Lied „Mein Teil“, das von Kannibalismus handelt, wird Keyboarder Christian „Flake“Lorenz in einen großen Kochtopf verfrachtet. Spätestens als Lindemann in einer blutverschmierten Fleischerschürze und triefendem Rot im Gesicht auf die Bühne tritt, ist klar, dass geschlachtet wird. Was auch immer. Derweil wird Flake in seinem Topf unentwegt mit Feuer aus immer größer werdenden Flammenwerfern beschossen. Auf die Unmenschlichkeit der Welt hinzuweisen, ist Aufgabe von Künstlern und legitim. Sie zu zelebrieren, ist hier Teil der (Horror-)Show, die Fans der Band begeistert. Zart besaitet darf man nicht sein. Hier in der Flutrinne finden das alle super. Tabus gehören offensichtlich gebrochen. Das ist Kunst und darf hier alles. Hart sein, schmerzresistent, brachial. Eben ganz anders als im Alltag, aus dem jetzt Zehntausende für ein paar Stunden kollektiv ausbrechen.
Wer den Blick entgeistert abwendet, hat immer noch den krachenden Sound der Musik und die derben Texte. Der Hingucker ist dagegen die gigantische Pyroshow. Meterhohe Feuersbrünste, Knalleffekte und ein Lichtspektakel, das die Stromzähler kreiseln lassen dürfte. Beim Titel „Sonne“findet das Spektakel seinen Höhepunkt. Die Wärme der gigantischen Feuerwolken ist für Sekundenbruchteile sogar noch auf der Haut derer zu spüren, die in der letzten Reihe auf den Tribünen saßen, etwa 200 Meter entfernt.
Die halbe Stadt hört ungewollt zu. Noch kilometerweit entfernt auf dem anderen Elbufer im Stadtteil Pieschen ist die Musik relativ klar zu vernehmen. Selbst in Radebeul kann man dem Hämmern der Bässe nicht entfliehen. Die bildreiche Show erleben aber nur die Ticketinhaber – und die Dutzend Jugendlichen an den Fenstern vom Sportinternat.
Die Band setzt auf eine Setlist altbewährter Lieder. Das Publikum zeigt sich entsprechend textsicher. Fast alle trugen
Shirts mit dem eckigen Rammstein-Logo – fast wie eine persönliche Brandmarke, die hier alle verbindet. Bei den Songs „Asche zu Asche“, „Du riechst so gut“, oder „Du hast“geht das Publikum besonders ab. Nach dem Song „Engel“, den Rammstein auf einer zweiten Bühne gemeinsam mit der Vorband Abélard zum Besten gibt, werden die Musiker in breiten Schlauchbooten von den Fans über deren Köpfen zurück auf die Hauptbühne geschippert.
Dort vorn in der Feuerzone tanzen, klatschen und singen die Jüngeren. Auf den drei Tribünen, die das Konzertgelände umschließen, sitzen mehrheitlich die mit ihren Stars gemeinsam ergrauten Fans von Rammstein, die mit der Neuen Deutschen Härte eine eigene Musikrichtung prägt.
Am Ende steigen blaue Laserstrahlen von der Bühne in den Nachthimmel. Lindemann verbeugt sich tief, fast demütig mit der Hand auf der Brust vor seinen Fans und sagt lediglich „Dankeschön, Dresden“– und verschwindet von der Bühne.
Die Besucher kommen jedoch bei Weitem nicht nur aus Dresden, sondern aus aller Welt. Ein vielsprachiges Stimmengewirr ist zu hören. Isabella hat sich in eine Flagge Mexicos gehüllt, ihrem Heimatland. Mila Kot aus Polen und Brendan Cleary aus den USA haben sich spontan vor Ort angefreundet. Auch eine Gruppe Ukrainer trägt eine Nationalflagge mit sich.
Dresden ist nach Prag die zweite Station der diesjährigen Europa-Tour. Für die Stadt sind die vier Konzerte mit – nach Angaben des Veranstalters – rund 240.000 verkauften Tickets das größte Musikevent, das es bislang gab. Noch bis 31. Juli dauert die Tour. Sie endet in Deutschland mit dem fünften Konzert in Gelsenkirchen.
Die Hauptstadt Sachsens etabliert sich immer mehr als Veranstaltungsort für Großereignisse. Noch sind längst nicht alle der nächsten 27 Konzerte der Tour ausverkauft. Ob mit der Anzahl der Konzerte der Zenit für Rammstein erreicht ist, muss noch ermittelt werden. Superlative setzt die aktuelle Tour aber allemal.
25 Jahre lang träumte ich davon, mal ein Konzert von Rammstein zu erleben. Dieses Jahr passiert es endlich.
Giorgi Vinogradoff,
Fan aus Georgien
Einst steppte, tanzte und sang er sich durch die legendäre DDR-Fernsehshow „Ein Kessel Buntes“. Nun wird der tschechische Künstler Jiri Korn 75 Jahre alt – und er steht weiter auf der Bühne. Erst im Februar füllte der alterslos wirkende Unterhaltungsstar in Prag eine ganze Mehrzweckhalle mit seinen Fans.
„Oft denke ich, dass ich das Tempo etwas verlangsamen und mich mehr ausruhen könnte“, sagt der Jubilar. „Doch dann wirbelt eine Tanzgruppe um mich auf der Bühne, deren Elan und Begeisterung mich mit wunderbarer Energie erfüllt.“Seine Vitalität erhalte er sich dadurch, dass er das mache, was ihm am meisten Spaß bringe: auf der Bühne stehen, Musik und Theater machen und ein zufriedenes Publikum unterhalten.
Korn hat sich nie in eine Schublade stecken lassen: Sei es, dass er Anfang der 1980-er Jahre mit „Windsurfing“Fernweh weckte oder später zu Disco-Tönen groovte. In einem Song umgarnte er seine Geliebte beim Frühstück: „Ich habe Lust auf Honig und auch auf Ananas, ich habe dir vorgeschlagen, dass ich dich küssen will“, heißt es da frei übersetzt. Korn ging mit der Zeit und intonierte eine Art Sprechgesang. Manch einen wundert es bis heute, wie das alles vor der Wende von 1989 an der Zensur vorbeigehen konnte. An den „Kessel Buntes“denkt Korn gern zurück. „Für mich war es sicherlich etwas Außergewöhnliches“, sagt der Künstler. Die Einladung sei eine Prestige-Angelegenheit gewesen, auf die er bis heute sehr stolz sei. Manches darin sei dem damaligen Regime geschuldet gewesen, aber überraschend wenig.
„Manche Aufführungen hätten auch in der heutigen Zeit Erfolg“, sagt Korn über die Samstagabendshow, die meist im Berliner Friedrichstadtpalast produziert wurde. Ein Aspekt beeindruckte ihn besonders: „Szenarium, Kostüme, Bühnenbild, Choreografie und so weiter waren für jede Sendung sorgfältig und mit langem Vorlauf vorbereitet.“Das fehle ihm manchmal in der heutigen beschleunigten Zeit.
Korn, der inzwischen auch Großvater ist, trägt inzwischen allerdings statt des blonden Haarschopfs eine Glatze – und eine Sonnenbrille, ähnlich wie der Franzose Serge Gainsbourg in späteren Jahren. (dpa)