Bevölkerungsstudie: Düstere Prognose für Kreis – mit Ausnahme der Stadt Görlitz
Die Städte und Gemeinden im Kreis Görlitz schrumpfen und schrumpfen. Nur die Stadt Görlitz bildet eine Ausnahme. Was uns deren Beispiel lehrt.
Prognose zur Bevölkerungsentwicklung das klingt nach trockenen Zahlen. Doch der Streit um eine neue Oberschule für Görlitz zeigt, welche Relevanz für den Alltag daraus erwachsen kann. Im Kern ging es dabei um die Frage, ob eine neue Schule gebraucht wird, wo nach Einschätzung von Sachsens Kultusminister Christian Piwarz doch die Zahl der Schüler in wenigen Jahren bereits wieder sinken wird. Gebaut werden soll die Schule nun doch, Ministerpräsident Michael Kretschmer übergab vor Kurzem erst 12 Millionen Euro. Denn in Görlitz bleiben die Schülerzahlen noch eine Weile stabil, so wie auch die Bevölkerungsanzahl generell. Das zeigt eine neue Studie der Bertelsmann-Stiftung.
In den letzten Jahren war es der Zuzug von 5.000 polnischen EU-Bürgern, der Görlitz vor dem Schrumpfen bewahrte. Der Görlitzer Oberbürgermeister Octavian Ursu setzt nun darauf, dass die Ansiedlung des Deutschen Zentrums für Astrophysik und dessen 1.200 Mitarbeiter eine weitere Initialzündung für Zuwanderung sein wird.
Wie lauten die Prognosen für die großen Kommunen im Kreis Görlitz? Ein düsteres Bild zeichnet der „Wegweiser Kommune“jedoch für den Rest des Landkreises. Der schrumpft bis 2040 weiter und weiter. Insgesamt um 12 Prozent. In einigen Gemeinden wie Ebersbach-Neugersdorf (-24 Prozent), Kottmar (-20) und Weißwasser/Oberlausitz (-20) auch drastisch. Ausnahme soll tatsächlich nur die Stadt Görlitz bilden, die demnach leicht wachsen wird. Konkrete Zahlen stellt die Studie nur für alle Kommunen mit aktuell mehr als 5.000 Einwohnern zur Verfügung.
Im Vergleich mit Bautzen steht Görlitz besser da. Die Stadt Bautzen soll bis 2040 um fast zehn Prozent auf dann etwas mehr als 34.000 Einwohner schrumpfen. Im Landkreis Bautzen erwarten die Statistiker einen Rückgang von 13 Prozent.
Was sind die Gründe für den Rückgang im Kreis Görlitz?
Der Bevölkerungsrückgang beschäftigt den Kreis Görlitz schon seit Jahrzehnten. Der Rückgang begann nicht erst in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbruch der Wirtschaft. Schon in den 1980er Jahren stellten viele Familien und junge Menschen einen Ausreiseantrag in die Bundesrepublik, von ihnen ist kaum jemand zurückgekommen. Doch nahm die Dynamik nach 1990 nochmals zu. Seitdem hat der Landkreis Görlitz ein Drittel seiner Einwohner verloren, das ist Rekord unter den sächsischen Flächenlandkreisen. Das hatte bereits Sozialplaner Matthias Reuter vom Görlitzer Landratsamt in seinem Sozialstrukturatlas des Kreises Görlitz festgehalten.
Doch in den vergangenen Jahren hat sich der Grund für den Rückgang der Bevölkerung verändert. In den 1990er Jahren lag es hauptsächlich daran, dass mehr Menschen dem Kreis den Rücken kehrten als an die Neiße oder Spree zogen. Die Demografen haben sich dafür den Begriff Wanderungssaldo ausgedacht. Dieser Wert beschreibt das Verhältnis zwischen Zu- und
Fortzügen auf 1.000 Einwohner. Im Landkreis ist dieser Wert mittlerweile ausgeglichen, die vielen Rückkehrer-Berichte täuschen nicht. 2021 zogen 886 Menschen mehr in den Kreis, als fortzogen. Damit übertrumpft der Landkreis Görlitz den Erzgebirgsund Vogtlandkreis, sowie die Städte Dresden und Chemnitz.
Das soll auch weiterhin so bleiben. Für das Jahr 2040 prognostizieren die Statistiker einen Zuzug von 3,9 pro 1.000 Einwohner. Einer der Spitzenwerte in Sachsen: besser als Leipzig (2,9), Dresden (0,6) und beispielsweise die Landkreise Bautzen und Mittelsachsen (etwa 2,0).
Welche Rolle das hohe Durchschnittsalter spielt
Aber warum wächst der Landkreis Görlitz dann nicht, sondern schrumpft sogar?
Auch dafür haben die Statistiker ein Wort: natürlicher Saldo. Der beschreibt das Verhältnis zwischen Geburten und Sterbefällen je 1.000 Einwohner.
Im Jahr 2040 soll der im Landkreis Görlitz bei mehr als -10 liegen, auch das einer der höchsten Werte im Freistaat Sachsen. In Leipzig soll es ein Plus von fast 1 sein, in Nordsachsen (-8), Meißen (-8,6) und Bautzen (-8,9) ist der Wert zumindest etwas besser. Schon 2021 standen im Landkreis Görlitz 4.812 Todesfällen nur 1.701 Geburten gegenüber. So wenige Geburten gab es im Landkreis Görlitz innerhalb von 40 Jahren nur noch einmal – im Jahr 2020 mit 1.684 Geburten.
Die Menschen im Landkreis werden nicht nur weniger – sondern auch immer älter. Schon jetzt ist jeder zehnte im Kreis Görlitz älter als 80 Jahre. Das Medianalter liegt aktuell bei fast 54 Jahren. Dieser Wert teilt die Bevölkerung statistisch in zwei gleich große Gruppen: 50 Prozent sind jünger und 50 Prozent sind älter.
In Leipzig beträgt das Medianalter etwas weniger als 40 Jahre, etwa 52 Jahre sind es in Bautzen und Mittelsachsen. Bis 2040 steigt das Medianalter im Landkreis auf 55 Jahre. Das heißt, die Hälfte aller Menschen im Kreis Görlitz wird dann älter als 55 Jahre sein. Für den Freistaat prognostizieren die Forscher: 2040 ist fast jeder dritte Sachse Rentner. Dies werde erhebliche Auswirkungen auf die Rentenkasse und den Pflegebedarf haben.
Welche Lösungen schlagen Parteien vor der Europawahl am 9. Juni vor?
Die Bevölkerungsentwicklung ist nun auch Gegenstand des Europa-Wahlkampfes geworden. Alle etablierten Parteien plädieren für den Zuzug von Fachkräften, damit auch künftig genügend Fachkräfte für die Wirtschaft in Deutschland zur Verfügung stehen. Und es gibt einen schönen Nebeneffekt: Die zugezogenen Ausländer sind deutlich jünger. Von den mehr als 7.500 Polen und Tschechen, die im Kreis Görlitz leben, ist jeder Fünfte jünger als 18 Jahre. Von den Syrern sind sogar über 40 Prozent noch nicht volljährig.
Die AfD schlägt hingegen einen anderen Weg vor. In ihrem EU-Programm unterstützt und ermutigt die AfD junge Paare, „eine Familie zu gründen und mehrere Kinder zu bekommen“. Dafür unterstützt die Partei, „wenn Menschen traditionelle Geschlechterrollen leben“und es mehr Geld für junge Paare gibt. AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla nennt als Beispiel immer wieder den Ehekredit in der DDR, zuletzt in ARD-Talkshows.
Chrupalla, der im Landkreis Görlitz lebt, kann da gleich in seinem eigenen Wohnort anfangen. Gablenz im Norden des Kreises und Wohngemeinde Chrupallas hat mit 1,9 Geburten auf 1.000 Einwohner die zweitniedrigste Geburtenrate in Sachsen: im Landkreis Görlitz ist es sogar die niedrigste.