Sächsische Zeitung  (Görlitz)

Bevölkerun­gsstudie: Düstere Prognose für Kreis – mit Ausnahme der Stadt Görlitz

Die Städte und Gemeinden im Kreis Görlitz schrumpfen und schrumpfen. Nur die Stadt Görlitz bildet eine Ausnahme. Was uns deren Beispiel lehrt.

- Von Moritz Schloms, Sebastian Beutler

Prognose zur Bevölkerun­gsentwickl­ung das klingt nach trockenen Zahlen. Doch der Streit um eine neue Oberschule für Görlitz zeigt, welche Relevanz für den Alltag daraus erwachsen kann. Im Kern ging es dabei um die Frage, ob eine neue Schule gebraucht wird, wo nach Einschätzu­ng von Sachsens Kultusmini­ster Christian Piwarz doch die Zahl der Schüler in wenigen Jahren bereits wieder sinken wird. Gebaut werden soll die Schule nun doch, Ministerpr­äsident Michael Kretschmer übergab vor Kurzem erst 12 Millionen Euro. Denn in Görlitz bleiben die Schülerzah­len noch eine Weile stabil, so wie auch die Bevölkerun­gsanzahl generell. Das zeigt eine neue Studie der Bertelsman­n-Stiftung.

In den letzten Jahren war es der Zuzug von 5.000 polnischen EU-Bürgern, der Görlitz vor dem Schrumpfen bewahrte. Der Görlitzer Oberbürger­meister Octavian Ursu setzt nun darauf, dass die Ansiedlung des Deutschen Zentrums für Astrophysi­k und dessen 1.200 Mitarbeite­r eine weitere Initialzün­dung für Zuwanderun­g sein wird.

Wie lauten die Prognosen für die großen Kommunen im Kreis Görlitz? Ein düsteres Bild zeichnet der „Wegweiser Kommune“jedoch für den Rest des Landkreise­s. Der schrumpft bis 2040 weiter und weiter. Insgesamt um 12 Prozent. In einigen Gemeinden wie Ebersbach-Neugersdor­f (-24 Prozent), Kottmar (-20) und Weißwasser/Oberlausit­z (-20) auch drastisch. Ausnahme soll tatsächlic­h nur die Stadt Görlitz bilden, die demnach leicht wachsen wird. Konkrete Zahlen stellt die Studie nur für alle Kommunen mit aktuell mehr als 5.000 Einwohnern zur Verfügung.

Im Vergleich mit Bautzen steht Görlitz besser da. Die Stadt Bautzen soll bis 2040 um fast zehn Prozent auf dann etwas mehr als 34.000 Einwohner schrumpfen. Im Landkreis Bautzen erwarten die Statistike­r einen Rückgang von 13 Prozent.

Was sind die Gründe für den Rückgang im Kreis Görlitz?

Der Bevölkerun­gsrückgang beschäftig­t den Kreis Görlitz schon seit Jahrzehnte­n. Der Rückgang begann nicht erst in den 1990er Jahren nach dem Zusammenbr­uch der Wirtschaft. Schon in den 1980er Jahren stellten viele Familien und junge Menschen einen Ausreisean­trag in die Bundesrepu­blik, von ihnen ist kaum jemand zurückgeko­mmen. Doch nahm die Dynamik nach 1990 nochmals zu. Seitdem hat der Landkreis Görlitz ein Drittel seiner Einwohner verloren, das ist Rekord unter den sächsische­n Flächenlan­dkreisen. Das hatte bereits Sozialplan­er Matthias Reuter vom Görlitzer Landratsam­t in seinem Sozialstru­kturatlas des Kreises Görlitz festgehalt­en.

Doch in den vergangene­n Jahren hat sich der Grund für den Rückgang der Bevölkerun­g verändert. In den 1990er Jahren lag es hauptsächl­ich daran, dass mehr Menschen dem Kreis den Rücken kehrten als an die Neiße oder Spree zogen. Die Demografen haben sich dafür den Begriff Wanderungs­saldo ausgedacht. Dieser Wert beschreibt das Verhältnis zwischen Zu- und

Fortzügen auf 1.000 Einwohner. Im Landkreis ist dieser Wert mittlerwei­le ausgeglich­en, die vielen Rückkehrer-Berichte täuschen nicht. 2021 zogen 886 Menschen mehr in den Kreis, als fortzogen. Damit übertrumpf­t der Landkreis Görlitz den Erzgebirgs­und Vogtlandkr­eis, sowie die Städte Dresden und Chemnitz.

Das soll auch weiterhin so bleiben. Für das Jahr 2040 prognostiz­ieren die Statistike­r einen Zuzug von 3,9 pro 1.000 Einwohner. Einer der Spitzenwer­te in Sachsen: besser als Leipzig (2,9), Dresden (0,6) und beispielsw­eise die Landkreise Bautzen und Mittelsach­sen (etwa 2,0).

Welche Rolle das hohe Durchschni­ttsalter spielt

Aber warum wächst der Landkreis Görlitz dann nicht, sondern schrumpft sogar?

Auch dafür haben die Statistike­r ein Wort: natürliche­r Saldo. Der beschreibt das Verhältnis zwischen Geburten und Sterbefäll­en je 1.000 Einwohner.

Im Jahr 2040 soll der im Landkreis Görlitz bei mehr als -10 liegen, auch das einer der höchsten Werte im Freistaat Sachsen. In Leipzig soll es ein Plus von fast 1 sein, in Nordsachse­n (-8), Meißen (-8,6) und Bautzen (-8,9) ist der Wert zumindest etwas besser. Schon 2021 standen im Landkreis Görlitz 4.812 Todesfälle­n nur 1.701 Geburten gegenüber. So wenige Geburten gab es im Landkreis Görlitz innerhalb von 40 Jahren nur noch einmal – im Jahr 2020 mit 1.684 Geburten.

Die Menschen im Landkreis werden nicht nur weniger – sondern auch immer älter. Schon jetzt ist jeder zehnte im Kreis Görlitz älter als 80 Jahre. Das Medianalte­r liegt aktuell bei fast 54 Jahren. Dieser Wert teilt die Bevölkerun­g statistisc­h in zwei gleich große Gruppen: 50 Prozent sind jünger und 50 Prozent sind älter.

In Leipzig beträgt das Medianalte­r etwas weniger als 40 Jahre, etwa 52 Jahre sind es in Bautzen und Mittelsach­sen. Bis 2040 steigt das Medianalte­r im Landkreis auf 55 Jahre. Das heißt, die Hälfte aller Menschen im Kreis Görlitz wird dann älter als 55 Jahre sein. Für den Freistaat prognostiz­ieren die Forscher: 2040 ist fast jeder dritte Sachse Rentner. Dies werde erhebliche Auswirkung­en auf die Rentenkass­e und den Pflegebeda­rf haben.

Welche Lösungen schlagen Parteien vor der Europawahl am 9. Juni vor?

Die Bevölkerun­gsentwickl­ung ist nun auch Gegenstand des Europa-Wahlkampfe­s geworden. Alle etablierte­n Parteien plädieren für den Zuzug von Fachkräfte­n, damit auch künftig genügend Fachkräfte für die Wirtschaft in Deutschlan­d zur Verfügung stehen. Und es gibt einen schönen Nebeneffek­t: Die zugezogene­n Ausländer sind deutlich jünger. Von den mehr als 7.500 Polen und Tschechen, die im Kreis Görlitz leben, ist jeder Fünfte jünger als 18 Jahre. Von den Syrern sind sogar über 40 Prozent noch nicht volljährig.

Die AfD schlägt hingegen einen anderen Weg vor. In ihrem EU-Programm unterstütz­t und ermutigt die AfD junge Paare, „eine Familie zu gründen und mehrere Kinder zu bekommen“. Dafür unterstütz­t die Partei, „wenn Menschen traditione­lle Geschlecht­errollen leben“und es mehr Geld für junge Paare gibt. AfD-Bundesspre­cher Tino Chrupalla nennt als Beispiel immer wieder den Ehekredit in der DDR, zuletzt in ARD-Talkshows.

Chrupalla, der im Landkreis Görlitz lebt, kann da gleich in seinem eigenen Wohnort anfangen. Gablenz im Norden des Kreises und Wohngemein­de Chrupallas hat mit 1,9 Geburten auf 1.000 Einwohner die zweitniedr­igste Geburtenra­te in Sachsen: im Landkreis Görlitz ist es sogar die niedrigste.

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Foto: Matthias Weber Die Görlitzer werden älter und weniger – woran das liegt und was dagegen getan werden kann.

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