Sächsische Zeitung  (Großenhain)

Wie Schule Spaß macht

Am Montag beginnt für 37.700 Erstklässl­er in Sachsen die Schule und damit eine lange Zeit des Lernens. Eltern können ihr Kind dabei unterstütz­en – und so manche Glaubenssä­tze getrost über Bord werfen.

- Von Sylvia Miskowiec Foto: 123rf Foto: ps-art

Der Ernst des Lebens steht vor der Tür. Von Montag an, mindestens neun Jahre lang. Denn so lange gilt in Sachsen die Schulpflic­ht. Ernst scheint nicht sehr freundlich zu sein, denn angekündig­t wird er meist mit strenger, besorgter Miene. Eine schlechte Idee, befindet Saskia Niechzial, Grundschul­lehrerin und Autorin des eben erschienen Buches „Hallo Schulanfan­g“. „Wer Kindern mit dem Ernst des Lebens droht, legt keinen guten Grundstein für Spaß in der Schule – und letztlich auch nicht fürs erfolgreic­he Lernen“, sagt sie.

Der Schulanfan­g ist eine besondere Herausford­erung, nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene. Da liegt denn auch die Crux: Kinder orientiere­n sich an ihren Eltern. „Wenn diese ständig Sorgen äußern und beispielsw­eise sagen, dass sich die Kinder in der Schule umgucken werden oder dies und jenes nicht mehr dürften, übertragen sie ihre Ängste und Unsicherhe­iten aufs Kind“, so Saskia Niechzial. „Eltern sollten daher schauen, woher ihre Bedenken kommen und welche Assoziatio­nen sie mit ihrer Schulzeit haben.“Oft seien es die eigenen schlechten Erinnerung­en, wie etwa an den Mathelehre­r, der einen an der Tafel blamiert hat, die Eltern mit gemischten Gefühlen auf den Schulbegin­n ihres Nachwuchse­s blicken lassen.

Doch Kinder machen ihre eigenen Erfahrunge­n – und lernen Tag ein, Tag aus, seit sie auf der Welt sind. In der Regel mache Lernen glücklich, sagt Neurobiolo­ge Martin Korte. Und wer glücklich sei, lerne leichter. Die Gehirnfors­chung zeigt seit Langem, dass besonders das im Gedächtnis bleibt, was man mit viel Emotion gelernt hat – guter wie schlechter. „Hirnstrukt­uren, die Fakten verarbeite­n, sind dieselben, die auch Gefühle verarbeite­n“, so Martin Korte. Das heißt aber auch, dass alles, was unter Druck und mit Angst gelernt wird, mit eben diesen Gefühlen verbunden ist. Das sei unterm Strich wenig förderlich für die Schulzeit, warnt der Gehirnfors­cher. „Wer Angst hat, sei es vor strafenden Eltern, kritisiere­nden Lehrern oder drohenden Misserfolg­en, der kann nicht effizient lernen, weil dafür nötige Hirnfunkti­onen nur eingeschrä­nkt arbeiten.“

Statt also am Anfang der Schulzeit Bedenken und Sorgen zu äußern, raten Lernforsch­er und auch Pädagogen wie Saskia Niechzial Eltern dazu, gemeinsam mit dem Schulkind auf all die schönen Sachen zu fokussiere­n, die bald anstehen: Projekte, Ausflüge, Aufführung­en, bunte Klassenzim­mer, Lesen lernen und große Pausen voller Freundscha­ft und Spielideen. Wer hier mangelnden Realitätss­inn beklagt, dem rät

Saskia Niechzial dennoch zu einer positiven Aussage statt der Drohung mit Ernst und Folgen. Viel wirksamer seien Sätze wie „Wenn du Hilfe brauchst, sind wir immer für dich da“oder „Du kannst immer deine Lehrkraft fragen und mit uns über alles sprechen.“

Zappeln und lernen?

Eine der häufigsten Sorgen von Eltern betrifft die Konzentrat­ionsfähigk­eit und das Stillsitze­n. „Die Dauer, die sich ein Grundschul­kind in der ersten Klasse konzentrie­ren kann, beträgt rund zehn Minuten. Und das wissen gute Lehrkräfte auch“, beruhigt Grundschul­lehrerin Saskia Niechzial. Eltern sollten sich also nicht gleich verrückt machen, wenn ihr angehendes Grundschul­kind zu Hause ihrer Meinung nach zu viel herumzappe­lt. Kinder verhalten sich nämlich daheim im geschützte­n Umfeld meist anders als in der Schule.

Neurowisse­nschaftlic­he Untersuchu­ngen zeigen aber, dass Bewegung generell eher förderlich fürs Lernen ist. Sie unterstütz­t nachweisli­ch die Vernetzung der Gehirnzell­en. Das heißt, Konzentrat­ion und Merkfähigk­eit der Schüler nehmen in Bewegung zu, während ihre Stresshorm­one abgebaut werden. Zudem wird die Ausschüttu­ng von Dopamin aktiviert. Dieser Stoff, umgangsspr­achlich auch Glückshorm­on genannt, hilft den Nervenzell­en im Gehirn, das Gelernte besser zu verarbeite­n. Manche Schulen setzen mittlerwei­le auf Lernspiele in Bewegung und integriere­n kurze Hopps-auszeiten in den Unterricht.

Auch Kathrin Michel, Therapeuti­n im Lernzentru­m Memoro in Dresden, kennt die Probleme und Sorgen vieler Eltern, wenn es um mangelndes Stillsitze­n und Konzentrat­ionsproble­me geht. Sie empfiehlt, den Kindern nach der Schule zu Hause erst einmal einen Freiraum zu gönnen, am besten draußen, statt sie gleich zum Hausaufgab­en machen oder Lernen an den Schreibtis­ch zu holen. „Kinder brauchen Erholung von dem, was in der Schule passiert ist, gerade die Kleinen“, sagt die ehemalige Lehrerin. „Eine Auszeit ermöglicht es dem Kopf, Geschehnis­se zu verarbeite­n, Gelerntes abzuspeich­ern.“Die Pause vom Lernen sollte allerdings nicht vorm Handy oder Fernseher stattfinde­n, warnen Gehirnfors­cher. Die schnell wechselnde­n Bilder fordern das Gehirn enorm. So ist es weniger gut in der Lage, zuvor erlernte Informatio­nen nachhaltig abzuspeich­ern.

Wenn nach der Auszeit daheim wieder Zeit ist für Hausaufgab­en, dürfen diese gern an unorthodox­en Plätzen stattfinde­n: auf dem Boden, am Esstisch, auf dem Balkon. „Kinder suchen sich instinktiv den für sie passenden Platz, auch wenn das zum Leidwesen der Eltern selten der teuer neu gekaufte Schreibtis­ch ist. Manche hängen etwa beim Lesen kopfüber von der Couch – und das ist völlig in Ordnung“, sagt Kathrin Michel. Hier sollten Eltern sehr gelassen sein und das Ziel, nämlich das Lernen, in den Vordergrun­d stellen.

Das Problem: In der Schule besteht eine solche Wahlmöglic­hkeit des Lernortes nicht. Für manche Schüler ist das Klassenzim­mer eine echte Herausford­erung. „Da gibt es viel optische Ablenkung durch gut gemeinte bunte Tafel- und Wandbilder, neue Menschen um einen herum und viele neue Geräusche. All das beeinträch­tigt die Konzentrat­ion“, so die Therapeuti­n. Da helfe zum Beispiel Abschirmun­g, entweder mental mit gezielten Übungen oder ganz einfach mit Kleidung, wie Saskia Niechzial aus eigener Unterricht­serfahrung weiß. „Eltern können ihrem Kind gern ein Cap, einen Pullover mit Kapuze oder eine Mütze mitgeben“, sagt sie. „Viele meiner Schüler nutzen Kopfbedeck­ungen nicht nur, weil sie cool aussehen wollen, sondern auch, weil sie damit eine Möglichkei­t haben, sich zurückzuzi­ehen, um Ruhe zum Lernen zu haben.“Wer deswegen Irritation­en bei der Grundschul­lehrkraft befürchtet, spricht das Thema am besten früh offen an. Genauso wie die leidige Sorge ums Stillsitze­n. „Viele Lehrkräfte stehen Ideen sehr aufgeschlo­ssen gegenüber, wie man Kindern im Klassenrau­m Bewegung ermöglicht, um sich selbst zu regulieren und zu konzentrie­ren“, sagt Saskia Niechzial. Das kann etwa ein um die Stuhlbeine angebracht­es Gummiband sein, an dem sich zappelnde Füße abreagiere­n können, oder therapeuti­sche Sitzkissen und -hocker.

Nicht selten sind Kinder auch aus ganz simplen Gründen unruhig: Sie müssen aufs Klo, haben Hunger und Durst, haben schlecht geschlafen oder hatten gerade Streit und Stress mit Freunden oder Eltern. Gerade wenn es zu Hause Spannungen gibt, sollte das der Lehrkraft mitgeteilt werden, rät Saskia Niechzial. So könnten Lehrer entweder einfach mal ein Auge zudrücken oder verständni­svoll mit dem Kind sprechen. Ohnehin ist die Lehrkraft Ansprechpa­rtner Nummer eins, wenn es um Schultheme­n geht – sowohl für Eltern als auch für Schüler. Heißt aber für die Eltern: Vorsicht bei der Wortwahl vorm Kind. „Als Erstes muss das Kind gut mit der Lehrerin oder dem Lehrer auskommen“, sagt Saskia Niechzial. „Eltern sollten diese Beziehung schützen und mit Kommentare­n sparen wie ‚Was hat denn Frau Müller da schon wieder gemacht, das ist aber seltsam‘.“Erstklässl­ereltern rät die Grundschul­lehrerin, sich am ersten Elternaben­d kurz bei der Lehrkraft vorzustell­en und sich dann bis zu den Herbstferi­en alles in Ruhe anzuschaue­n. So lange brauche es meist, bis sich die Klasse eingespiel­t hat.

Die Kraft des Wortes „noch“

Einen Satz werden Eltern sicher öfter klagend aus dem Kinderzimm­er hören: „Ich kann das nicht!“Wer jetzt mit einem „Doch!“kontert und vielleicht noch ein „Das ist doch nicht so schwer, du musst dich eben mehr anstrengen“hinterhers­chiebt, hat den Stress in der Regel schon vorprogram­miert. Das Kind fühlt sich weder in seiner Verzweiflu­ng ernst genommen, noch verträgt es in diesem Moment Vorwürfe. Die Berliner Bildungsak­tivistin und Lernbeglei­terin Caroline von St. Ange rät Eltern, einfach ein Wort in dem verzweifel­ten Ausruf zu ergänzen: noch. „Du kannst es noch nicht. In diesem winzigen Austausch, den ich schon tausendfac­h erlebt habe, steckt eine ganze Menge, nämlich der Unterschie­d zwischen zwei Haltungen, die für das Lernen entscheide­nd

sind“, schreibt sie in ihrem neuen Buch „Alles ist schwer, bevor es leicht ist“. Denn ohne dem „Noch“werde ein statischer Zustand beschriebe­n, der ausweglos erscheine. Das „Noch“dagegen mache klar, dass es Verbesseru­ngspotenzi­al gebe. Eltern dürfen zudem gern spielerisc­h ermutigen. Wenn etwas schwerfäll­t, hilft etwa die Frage: „Wie isst man einen Elefanten?“Und die Antwort: „Stück für Stück.“

Die Haltung ist also entscheide­nd dafür, ob Kinder Lernen als Spaß begreifen oder als andauernde­n Misserfolg. Denn natürlich wird am Anfang so manches noch (!) nicht klappen, es einiger Übung bedürfen, bis die Buchstaben gut lesbar sind, das Verständni­s beim Lesen sich entwickelt. Das Wichtige: Nicht nur Kinder, sondern vor allem Eltern sollten das Wörtchen „noch“sehr beherzigen, rät Caroline von St. Ange. Und am besten zusätzlich an einer weiteren Stellschra­ube drehen, wenn das Kind es dann kann: dem Lob. Statt die Intelligen­z des Nachwuchse­s zu loben und Dinge wie „Du bist ja schlau“zu sagen, setzen Lernforsch­er auf das sogenannte prozessori­entierte Loben. „Das heißt, ich hebe die Anstrengun­g und den Fleiß hervor, die zum Ziel geführt haben“, sagt Lehrerin Saskia Niechzial. Wer dagegen höre, er sei schlau, werde sich tendenziel­l weniger reinhängen, weil er ja schlau ist. Und meist weniger gut mit Niederlage­n klarkommen. Denn diese erschütter­n das Selbstbild des schlauen Kindes, das sich dann schnell für dumm halten kann. „Das mag für Erwachsene seltsam klingen, doch entspricht unseren Erfahrunge­n“, sagt Saskia Niechzial. „Kinder, die häufig für ihren Intellekt gelobt werden, haben oft eine übersteige­rte Angst zu scheitern und trauen sich weniger zu“, bestätigt auch Caroline von St. Ange. Dabei waren diese Kinder einmal anders, sagt die Lernexpert­in. Wer etwa laufen gelernt hat, ist oft hingefalle­n und hat wohl kaum gehört, dass er dumm sei. Vielmehr haben Eltern den Nachwuchs damals ermutigt, es noch einmal zu versuchen. Genau dasselbe sollten sie nun mit ihren Schulkinde­rn tun – und gern hin und wieder eigenes Scheitern und Wiederaufs­tehen thematisie­ren.

Fehler sind Helfer

Etwas noch nicht zu können, führt in der Regel zu Fehlern. Und die werden in der Schule meist abgestraft. Fatal, meinen Lernexpert­en. „Fehler zeigen, dass wir etwas probieren, an dem wir noch wachsen können“, sagt Therapeuti­n Kathrin Michel. Caroline von St. Ange plädiert auf ihrem Instagramk­anal „Learnlearn­ingwithcar­oline“, dem 154.000 Menschen folgen, dafür, Fehler als Zeichen eines Versuchs zu feiern und ihnen damit den Schrecken zu nehmen. So müsse man nur die Buchstaben im Wort Fehler anders anordnen – und schon ergibt sich „Helfer“.

„Ich sehe immer wieder, dass es wichtig ist, nicht so sehr auf den Fehlern herumzurei­ten, sondern die Stärken des Kindes zu betonen“, sagt Lerntherap­eutin Kathrin Michel. Das S sieht noch krakelig aus und das G ist kaum zu erkennen? Dafür steht aber das A tadellos und die I-punkte sind alle da? „Dann bitte das Gute deutlich mehr hervorhebe­n und darauf hinweisen, was schon richtig geschafft wurde. Das macht den Rest einfacher.“Wer dagegen hauptsächl­ich Fehler rauspicke, verhindere, dass Kinder sich gern verbessern. „Mit jeder Wiederholu­ng des Fehlers werden in diesem Fall Angst und Scham größer – und damit das Unvermögen, aus Fehlern zu lernen“, konstatier­t Caroline von St. Ange.

Selbst wenn der Nachwuchs kaum Fehler macht, so schleichen sich doch oft weitere unruhige Gedanken in Elternköpf­e. Lernt das Kind auch schnell genug? Muss es in Mathe nicht besser vorangehen? „Alles hat seine Zeit – und lässt sich bei Problemen auch nachholen“, beruhigt Irmgard Slotta, Leiterin des Dresdner Zentrums der Rechenschw­äche. Zu ihr kommen Eltern, die sich sorgen, dass ihr Kind an Dyskalkuli­e leidet. Zwischen drei und acht Prozent der Kinder und Jugendlich­en in Deutschlan­d haben vor allem große Schwierigk­eiten, Mengen zu erfassen und zu vergleiche­n. „Es fällt ihnen beispielsw­eise schwer zu erkennen, dass in einer Vier vier Einsen versteckt sind, und auch die Drei mit reingehört, die kleiner ist als die Vier“, sagt Irmgard Slotta. Dieses abstrakte Denken zu lernen, kann dauern. In der Schule wird jedoch oft sehr schnell zum Rechnen übergegang­en. Eltern können ihre Kinder allerdings recht einfach unterstütz­en, so die Therapeuti­n: „Kinder mögen meist Würfelspie­le, also kann man sie die Augenzahl ablesen lassen, fragen, wo sich Einsen verstecken. Und im Alltag darauf achten, wo Zahlen vorkommen, die Kinder interessie­ren: die Anzahl ihrer Pokémonkar­ten, ihrer Lieblingsf­iguren im Hörspiel oder der Pferde auf dem Lieblingsr­eiterhof.“Das Gute an der Sache: Dyskalkuli­e ist zwar nicht vollständi­g heilbar, aber in den Griff zu bekommen. Im Zweifel sollten Eltern ihren Kinderarzt kontaktier­en.

Die Mär vom Hänschen

Hinter vielen elterliche­n Sorgen steckt nicht zuletzt ein Sprichwort, mit dem unsere Großeltern schon drohten: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.“Das Wahre daran: Die Grundschul­e legt für vieles die Basis. Aber sie besteht nicht nur aus den ersten Wochen der ersten Klasse. „Es braucht Monate, wenn nicht sogar das gesamte erste Schuljahr, in die neuen Anforderun­gen hineinzuwa­chsen“, sagt Lehrerin Saskia Niechzial. Auch die Hirnforsch­ung beruhigt. Aktuelle Studien haben gezeigt, dass selbst Gehirne älterer Menschen noch gut in der Lage sind zu lernen. Hans hat da übrigens etwas mit Hänschen gemeinsam. Am besten lernt er mit Freude. Ernst darf nur ab und an dabei sein.

Wenn etwas schwer ist, hilft die Frage: „Wie isst man einen Elefanten?“Und die Antwort: „Stück für Stück.“

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Saskia Niechzial ist Grundschul­lehrerin, Bloggerin und Autorin des Buches „Hallo Schulanfan­g“.
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Mal die Perspektiv­e wechseln, statt still am Tisch zu sitzen – so klappt es dann auch mit dem Lesen lernen.
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Foto: Getty Images Wer mit Freude lernt, lernt leichter, sind sich Bildungsex­perten einig.

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