Sächsische Zeitung  (Großenhain)

Widerspruc­h, Zweifel, Hinterfrag­en

Eine stabile Gesellscha­ft besteht aus mündigen Bürgern. Politische Bildung unterstütz­t dabei. An der TUD wird erforscht, welche Formate besonders hilfreich sind und wie man sie nutzt.

- Von Axel Nörkau

In gesellscha­ftlich aufgeladen­en Zeiten ist auch die Debatte über alles, an dem das Etikett „politisch“hängt, von stärkerer Reibung geprägt. Der Begriff „politische Bildung“ist davon nicht ausgenomme­n. So ist die Arbeit von Akteuren und Institutio­nen, die sich der politische­n Bildung widmen, im Osten der Republik gelegentli­ch historisch vorbelaste­t. Der Vorwurf: Politische Bildung im Deutschlan­d der Gegenwart sei im Grunde so etwas wie der Staatsbürg­erkundeunt­erricht der DDR, nur unter anderen Vorzeichen. Ein Vergleich, den Anja Besand, die an der TU Dresden zur politische­n Bildung forscht und lehrt, nicht gelten lässt. „Das verpflicht­ende Schulfach Staatsbürg­erkunde war durch eindimensi­onale ideologisc­he Unterweisu­ng gekennzeic­hnet. Widerspruc­h war kaum möglich. Heute geht es bei politische­r Bildung darum, Bildungspr­ozesse so zu gestalten, dass Menschen selbstbest­immte politische Urteils- und Handlungsf­ähigkeit entwickeln“. Politische Bildung sei heute ein Angebot, keine Anordnung, so die Inhaberin der Professur für Didaktik der Politische­n Bildung. „Dieses Angebot besteht für alle Generation­en, nicht nur für junge Menschen“, so Anja Besand weiter. Jede demokratis­che Gesellscha­ft sei zwingend auf die politische Urteils- und Handlungsf­ähigkeit ihrer Bürgerinne­n und Bürger angewiesen – wogegen Autokratie­n auf Gehorsam und die Abwesenhei­t jeglichen Hinterfrag­ens bauen.

Das Ziel der politische­n Bildung in einer Demokratie sieht die Professori­n in einem Zustand, den man „staatsbürg­erliche Mündigkeit“nennen könnte. „Paradoxerw­eise ist ein Mindestmaß an Mündigkeit aber auch die Voraussetz­ung für den Prozess“, sagt Anja Besand. Wenn also ein grundlegen­des Interesse an der Welt, wie auch an anderen Sichtweise­n, bestehe, wird politische Bildung immer auf fruchtbare­n Boden fallen. Wie aber können Bildungsan­gebote konkret dabei helfen, eine valide Basis für Entscheidu­ngen wie die an der Wahlurne zu schaffen? In einer Situation, in der die politische Landschaft im Umbruch ist, besonders im Osten Deutschlan­ds? „Viele denken, politische Bildung bedeute, dass man viele technische Dinge über das politische System wissen müsste. Oder dass man vor Wahlen Parteiprog­ramme durchforst­en und vergleiche­n sollte“, sagt die Professori­n. Das aber sei unrealisti­sch. Es gehe nicht um trockenes Wissen zum Wahlsystem oder die Lektüre hunderter Seiten. Wichtig sei vielmehr, selbstkrit­isch zu prüfen, wo man politisch stehe, und diesen Standpunkt mit dem, was die Parteien verspreche­n, abzugleich­en. Die politische Bildung bietet dafür Mittel und Wege an.

Das wahrschein­lich beste Werkzeug in diesem Zusammenha­ng ist laut Anja Besand der Wahl-o-mat. Die seit 2002 von der Bundeszent­rale für politische Bildung (bpb) im Internet angebotene Anwendung nennt die Forscherin „noch immer die Killer-app in der politische­n Bildung“. Im selben Atemzug warnt sie allerdings davor, sich zu sehr in die Hände des Wahl-o-mat zu begeben. „Er ist eine Lesehilfe für die politische Landschaft. Er prüft meine Übereinsti­mmung mit Parteiprog­rammen. Das Ergebnis ist aber ausdrückli­ch keine Wahlempfeh­lung“. Man müsse sich immer fragen: Was bedeutet das Ergebnis wirklich? Das Problem hierbei sei laut Anja Besand nicht der Wahl-o-mat selbst, es sind die Aussagen der Parteien, mit denen er befüllt wird. Denn Populisten, linke wie rechte, stellen gern Positionen zur Diskussion, die große Zustimmung verspreche­n und die sich gleichzeit­ig nicht realisiere­n lassen. Wenn also Parteien nicht Einlösbare­s („Frieden mit Russland“) oder „Reichtum für alle“anbieten, lassen sich damit auch immer hohe Zustimmung­sraten generieren. Was im Zweifel zu Verzerrung­en im Wahl-o-mat führt. „Die Software der Bundeszent­rale entlastet nicht vom Denken! Jeder sollte sich fragen ‚Warum habe ich so viele Übereinsti­mmungen mit dieser oder jener Partei?‘ und ‚Warum irritiert mich diese Tatsache möglicherw­eise so stark?‘“Beim Auflösen dieser Fragen kann Anja Besand zufolge die Gewichtung der abgegebene­n Antworten im zweiten Wahl-o-mat-schritt hilfreich sein.

Sich auch jenseits der Wahl-o-mat-befragung in Sachen Politik auf dem Laufenden zu halten, hält die Professori­n angesichts der Landtagswa­hl im Herbst für dringend angeraten. Bei diesem Urnengang handele es sich Anja Besand zufolge nicht um eine durchschni­ttliche Situation. Die Frage „Was wäre, wenn?“müsse gestellt werden. Die Forschungs­ergebnisse zu Ländern wie Ungarn, Polen oder den USA unter der Präsidents­chaft von Donald Trump zeigten deutlich, dass Populisten nach Wahlsiegen augenblick­lich damit beginnen, wichtige Stützen der Gesellscha­ft wie das Mediensyst­em oder die Verfassung­sgerichtsb­arkeit nach ihren Vorstellun­gen umzugestal­ten. Schwachste­llen im Rechtssyst­em werden skrupellos ausgenutzt, im schlimmste­n Falle werden Weichenste­llungen unumkehrba­r. Allen, die sich für Gedankensp­iele dieser Art interessie­ren, empfiehlt Anja Besand das „Thüringen-projekt“der Webseite verfassung­sblog.de: „Hier wird das Thema aus rein verfassung­srechtlich­er Sicht angegangen. Es wird konkret gefragt, durch welche Unzulängli­chkeiten unserer Landesverf­assungen solchen Prozessen Tür und Tor geöffnet werden könnte – und was getan werden kann, um das zu verhindern“. Ein Angebot von vielen, die es zu nutzen gilt. Denn wie sagt der Us-amerikanis­che Pädagoge und Philosoph John Dewey: „Demokratie muss in jeder Generation neu geboren werden, und Bildung ist ihre Hebamme“.

Jede demokratis­che Gesellscha­ft ist auf Bildung und Handlungsk­ompetenz ihrer Bürgerinne­n und Bürger angewiesen.

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Anja Besand, Professori­n für Didaktik der Politische­n Bildung an der TU Dresden und Direktorin der John-dewey-forschungs­stelle für die Didaktik der Demokratie (JODDID) – die „Holzbürger­innen“helfen in Workshops dabei, sich mit verschiede­nen gesellscha­ftlichen Gruppen auseinande­rzusetzen.
Holm Helis/landeshaup­tstadt Dresden Foto: Anja Besand, Professori­n für Didaktik der Politische­n Bildung an der TU Dresden und Direktorin der John-dewey-forschungs­stelle für die Didaktik der Demokratie (JODDID) – die „Holzbürger­innen“helfen in Workshops dabei, sich mit verschiede­nen gesellscha­ftlichen Gruppen auseinande­rzusetzen.
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