Sächsische Zeitung (Großenhain)
Seine Eltern verliebten sich in der „Hölle von Zeithain“
Der polnische Historiker Kazimierz Wóycicki hat eine familiäre Beziehung zur Gedenkstätte in Zeithain. Hier lernten sich seine Eltern als Kriegsgefangene kennen.
Zum 79. Mal jährte sich in dieser Woche der Tag, an dem das Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht in Zeithain durch die Rote Armee befreit wurde. Kazimierz Wóycicki ist bei der Gedenkfeier im hiesigen Ehrenhain einer der Hauptredner gewesen. Der 74-Jährige ist in seiner Heimat Polen ein bekannter Historiker, Publizist und Politiker. Ihn verbindet etwas mit diesem einst schrecklichen Ort, obwohl er erst nach dem Krieg geboren wurde: Seine Eltern haben sich hier kennengelernt und ineinander verliebt – in der „Hölle von Zeithain“. „Ob sie sich hier auch zum ersten Mal geküsst haben, weiß ich nicht“, sagt Wóycicki amüsiert. Möglich sei auch, dass sich beide auf dem Rückweg nach Hause nähergekommen sind, oder später in Warschau. „Ich weiß nur, dass ich neun Monate vor meiner Geburt entstanden bin“, flachst der Historiker.
712 Polinnen interniert
Ohne den Krieg und den zweiten Warschauer Aufstand am 2. Oktober 1944 wären seine Eltern nicht gefangen genommen und nach Zeithain deportiert worden. Und sehr wahrscheinlich wären sie sich auch nie begegnet. Denn beide lebten und kämpften in unterschiedlichen Vierteln der polnischen Hauptstadt. Vater Tadeusz als Soldat und Mutter Danuta als Sanitäterin der polnischen Heimatarmee.
Auch seine Großmutter väterlicherseits war Widerstandskämpferin und gehörte zu den 712 polnischen Soldatinnen, die die deutsche Wehrmacht in Zeithain gefangen hielt. Im Gegensatz zu den sowjetischen und italienischen Kriegsgefangenen wurden die Polen im damaligen Lager entsprechend den Rechten der Genfer Konventionen behandelt.
„Die Frauen lebten mitten im Kriegsgefangenenlager, hatten aber eigene Baracken“, bestätigt Gedenkstätten-mitarbeiterin Nora Manukjan. Sogar Kinder kamen hier auf die Welt, auch wenn die Mütter wegen der Mangelernährung oft zu schwach waren, ihre Babys selbst zu stillen. Das übernahmen dann Mitgefangene.
Dass er wie viele andere Polen und Deutsche ein Kind des Krieges ist, daran verschwendet Kazimierz Wóycicki kaum einen Gedanken. Für den ausgewiesenen Kenner der deutsch-polnischen Beziehungen war die Versöhnung immer ein wichtiger Bestandteil seiner Arbeit.
Bereits in den 1970er-jahren unterstützte er die ostdeutsche Opposition der „Sühneaktion“in der ehemaligen DDR und brachte sich damit selbst in Gefahr. Nachdem der polnische General und Staatsoberhaupt Wojciech Jaruzelski 1981 das Kriegsrecht über Polen verhing, kam Kazimierz Wóycicki in ein Internierungslager. Nach zwei Jahren kam er wieder frei und studierte von 1983 bis 1985 Politikwissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Freiburg. Anschließend war er Journalist der polnischen Sektion der BBC und Autor zahlreicher Reportagen aus Deutschland. Nach der deutschen Wiedervereinigung war er zuerst Direktor des Polnischen Kulturinstituts in Düsseldorf (1996 bis 1999) und später in Leipzig (2000 bis 2004).
„In dieser Zeit war ich auch zum ersten Mal in Zeithain“, erzählt Wóycicki. Er begleitete 2003 seinen Vater in die hiesige Gedenkstätte. Seine Mutter konnte diese Reise in die Vergangenheit nicht mehr mit antreten. Sie war ein paar Jahre zuvor im Alter von 78 Jahren an Krebs gestorben.
„Russland ist erschöpft“
„Ich sehe Deutschland heute nicht im Licht des Krieges“, sagt Kazimierz Wóycicki. „Wir leben glücklicherweise in einem ganz anderen Europa.“Auch wenn zwei Töchter seiner vier Kinder so wie er Geschichte studiert haben, werde in seiner Familie eher wenig über den Zweiten Weltkrieg gesprochen. Dafür aber umso mehr über den aktuellen Krieg im Nachbarland Ukraine.
Wóycicki ist überzeugt, dass die Ukrainer gewinnen werden. „Russland ist erschöpft, seine Ressourcen aufgebraucht“, sagt er. Die Ukrainer würden vom Westen unterstützt und seien hochmotiviert, ihr Land zu verteidigen.
Dass bei der Gedenkfeier im Ehrenhain Zeithain auch die russische Flagge weht, hält er für legitim. Denn vor allem Russen haben an diesem Ort des Schreckens ihr Leben verloren. Und irgendwann muss es auch wieder Versöhnung zwischen Ukrainern und Russen geben.