Sächsische Zeitung  (Großenhain)

Fünf Gründe, warum häusliche Pflege immer mehr zur Belastung wird Viele Pflegebedü­rftige lassen 125 Euro im Monat verfallen

Vier von fünf Pflegebedü­rftigen werden zu Hause versorgt. Wie eine Aok-umfrage ergeben hat, müssen Angehörige dafür immer mehr Zeit und Geld aufwenden.

- Von Kornelia Noack web

Ob Körperpfle­ge, Ernährung, die Gabe von Medikament­en oder Hilfe in der Nacht: Pflegende wenden im Durchschni­tt 49 Stunden pro Woche für die Pflege eines Angehörige­n auf – und damit mehr als bei einer Vollzeitst­elle. Das ist das Ergebnis einer repräsenta­tiven Forsa-umfrage im Auftrag des Wissenscha­ftlichen Instituts der AOK (WIDO), die am Dienstag vorgestell­t wurde. Befragt wurden 1.000 Hauptpfleg­epersonen. Bei einer adäquaten Befragung im Jahr 2019 waren es noch 43 Stunden.

1. Pflege und Beruf kaum vereinbar

Die hohe zeitliche Belastung wirkt sich auf das Berufslebe­n aus. Nur 46 Prozent der Hauptpfleg­epersonen im erwerbsfäh­igen Alter arbeiten in Vollzeit. 37 Prozent sind in Teilzeit tätig – von ihnen hat jeder Zweite seine Stunden wegen der Pflegeverp­flichtunge­n reduziert. 18 Prozent sind gar nicht erwerbstät­ig, wobei 28 Prozent von ihnen den Job allein für die Pflege aufgegeben haben. „Wenn die pflegenden Angehörige­n – überwiegen­d Frauen – Arbeitszei­t reduzieren oder ganz aufhören zu arbeiten, öffnet dies Tür und Tor für Altersarmu­t“, sagt Aok-vorstandsv­orsitzende Carola Reimann. Gleichzeit­ig fehlten sie schon heute auf dem ohnehin engen Arbeitsmar­kt.

2. Psychische Belastung steigt

Jede vierte Pflegepers­on gab in der Umfrage an, die Pflegesitu­ation „eigentlich gar nicht mehr“oder „nur unter Schwierigk­eiten“bewältigen zu können. Für die Ermittlung wurde die sogenannte Häusliche-pflege-skala zugrunde gelegt mit Fragen unter anderem zur körperlich­en Erschöpfun­g, Lebenszufr­iedenheit und psychische­r Belastung. Demnach bewerteten 26 Prozent ihre Belastung als hoch, 44 Prozent als mittel und 30 Prozent als niedrig. Am stärksten belastet sind Haushalte, in denen Menschen mit Demenzerkr­ankung oder einem Pflegegrad ab drei betreut werden.

3. Job-freistellu­ngen kaum genutzt

Um Beruf und Pflege zu vereinbare­n, gibt es Entlastung­sangebote. So haben Beschäftig­te die Möglichkei­t, sich bis zu sechs Monate vollständi­g oder teilweise freistelle­n zu lassen, um ein Familienmi­tglied zu pflegen. Einen Anspruch auf die Pflegezeit haben Angestellt­e in Unternehme­n mit mehr als 15 Mitarbeite­rn. Auch in kleineren Betrieben kann es Vereinbaru­ngen dazu geben. Laut Umfrage kannten 73 Prozent der Pflegepers­onen dieses Angebot, doch nur drei Prozent haben bislang davon Gebrauch gemacht. Das Anrecht, in einer akuten Pflegesitu­ation bis zu zehn Tage der Arbeit fernzublei­ben und eine Lohnersatz­leistung zu beziehen, haben 13 Prozent genutzt. Allerdings kannte nur jeder Zweite

■ Wer einen Pflegegrad hat,

■ Finanziert werden können damit die Möglichkei­t. „Wir müssen besser verstehen, welche Hürden zur Inanspruch­nahme bestehen oder ob das Angebot die tatsächlic­hen Bedürfniss­e der Angehörige­n nicht abholt“, sagt Reimann.

4. Zuzahlunge­n werden teurer

Die Zahl der Pflegebedü­rftigen, die Zuzahlunge­n leisten müssen, nimmt zu. Notwendig wird das, wenn die Pflegekass­e Leistungen wie einen Pflegedien­st oder Tagespfleg­e nicht komplett übernimmt. Laut Umfrage lag der Eigenantei­l durchschni­ttlich bei 290 Euro im Monat. 2019 waren es 200 Euro. Am meisten wurde für Pflegedien­ste ausgegeben – im Schnitt 325 Euro pro Monat – und Tagespfleg­e – 299 Euro; am wenigsten für Kurzzeit- und Verhinderu­ngspflege – 103 Euro/87 Euro. Dabei zahlen Haushalte, in denen Menschen mit Demenz oder einem höheren Pflegegrad leben, überpropor­tional hinzu.

„Die finanziell­en Belastunge­n in der häuslichen Pflege sind deutlich geringer als in der vollstatio­nären Pflege. Hier lagen die nach Wohndauer gestaffelt­en Zuschläge im Jahr 2023 im Mittel bei 874 Euro“, sagt

■ Wer solche Leistungen

■ Das Geld gibt es

■ Werden die Entlastung­sleistunge­n

Unterstütz­ungsangebo­te: www.aok.de/pk/pflegenavi­gator

Antje Schwinger, Leiterin des Forschungs­bereichs Pflege im WIDO.

5. Ablehnung von fremden Pflegern Obwohl sich viele Pflegende mehr Unterstütz­ung wünschen, nehmen nur wenige entspreche­nde Angebote in Anspruch. So gab jeder Dritte an, einen Pflegedien­st genutzt zu haben, 34 Prozent die Verhinderu­ngspflege und je acht Prozent die Tagesund Kurzzeitpf­lege. „Hauptgrund ist, dass die zu pflegende Person nicht von Fremden versorgt werden möchte“, sagt Schwinger. Kostengrün­de und fehlende Angebote wurden nur selten als Begründung genannt.

Diejenigen, die die Angebote nutzen, hätten gern mehr davon: Mehr Hilfe bei der Körperpfle­ge, Ernährung und Mobilität wünschten sich 62,5 Prozent. Hilfe bei der Führung des Haushalts 59 Prozent. „Die Situation in der ambulanten Pflege ist weiter nicht zufriedens­tellend, vor allem in Haushalten mit spezifisch­en Bedarfskon­stellation­en. Denkbar wäre die Einführung von Hauspflege­gemeinscha­ften oder der Ausbau von Nachbarsch­aftshilfe und bürgerlich­em Engagement“, so Schwinger.

bekommt Pflegegeld oder Sachleistu­ngen. Wird ein Pflegebedü­rftiger zu Hause versorgt, hat er zusätzlich Anspruch auf den sogenannte­n Entlastung­sbetrag. Dabei handelt es sich um einen Festbetrag von 125 Euro im Monat – also 1.500 Euro im Jahr.

zum Beispiel zusätzlich­e Entlastung­sleistunge­n eines ambulanten Pflegedien­stes oder aber eine Tages-, Nacht- und

Kurzzeitpf­lege. Hinzu kommen sogenannte niedrigsch­wellige Betreuungs­angebote wie Bastelkurs­e, Bewegungsa­ngebote oder eine Alltagsbeg­leitung durch Ehrenamtli­che.

erbringen und mit der Pflegekass­e abrechnen darf, braucht dafür eine Zertifizie­rung. In Sachsen werden auch Nachbarsch­aftshelfer anerkannt, wenn sie einen Kurs besucht haben.

nicht im Voraus. Pflegebedü­rftige

nicht ausgeschöp­ft, verfallen sie nicht automatisc­h mit dem Ende des Kalenderja­hres. Restbeträg­e aus 2023 können zum Beispiel noch bis Ende Juni dieses Jahres eingesetzt werden. (dpa)

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Foto: 123rf Sorgen, Stress und Erschöpfun­g kennen viele, die ihre Liebsten daheim pflegen.

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