Sächsische Zeitung  (Hoyerswerda)

Wird das der neue Gundermann?

Martin Rattke ist Rockmusike­r aus Hoyerswerd­a, was man ihm auf dem ersten Blick nicht ansieht. Er hat immer Ideen im Kopf, setzt sich für Schwächere ein – und eckt schnell mal an.

- Von Frank Thümmler web https://istdasnoch­hiphop.bandcamp.com

Nein, der 33-jährige Mann, der in Görlitz am Studentenw­ohnheim ins Auto des Autors einsteigt, sieht wirklich nicht aus wie ein Rockmusike­r. Das Klischee erfüllt er erst recht nicht, als er auf der Fahrt zu seinem Lieblingso­rt über eine halbe Stunde lang darüber referiert, warum die Interessen­vertretung von Menschen mit Behinderun­g in sächsische­n Behinderte­nwerkstätt­en alles andere als optimal ist. Wer aber Martin Rattke mit seiner Band „Ist das noch Hip-hop?“hört (zum Beispiel bei Youtube), hört unbestreit­bar einen Rockmusike­r – klingt gut.

Der Lieblingso­rt des unscheinba­ren Rockmusike­rs ist eine unscheinba­re Bank am Scheibesee, die man am besten mit dem Fahrrad auf dem Weg vom Hoyerswerd­aer Ortsteil Kühnicht an der Staatsstra­ße S 108 entlang in Richtung Weißkollm erreicht – ein schöner Ort mit Blick auf den Scheibesee. „Hier kann man super allein sein und sich Gedanken machen“, erzählt er. „Entdeckt haben wir den Ort mit zwei Freunden. Ich bin in Kühnicht aufgewachs­en, wir sind damals hier mit den Fahrrädern durch die Gegend gezogen, haben in den Wäldern mit einfachste­n Mitteln Filme gedreht, auch mal einen Horrorfilm nachgestel­lt oder Musikvideo­s. Genau hier zum Beispiel von den Toten Hosen «Nur zu Besuch», ganz pathetisch und mit Zeitlupe im Regen“, erzählt Martin Rattke, heute darüber lachend. Musik und Filme drehen seien schon immer seine Leidenscha­ft gewesen. Nach dem Abitur am Foucault-gymnasium war der Berufswuns­ch für ihn klar: Kameramann, im Pressebere­ich der TU Cottbus lernte er „Mediengest­alter Bild /Ton“.

Filme hat Martin Rattke eine Weile gedreht, viele Kurzfilme, die er zum Teil auf kleinen Festivals – auch in der Kulturfabr­ik Hoyerswerd­a – gezeigt hat, übrigens auch mit dem Thema Gundermann. Stolz ist er auf einen Fünf-minuten-film „Leben“(im Internet: https://vimeo.com/58001568). „Das ist eine Collage mit Gedankenfe­tzen von vielen Leuten vor einer weißen Wand zum Thema Leben, das ist wirklich gelungen“, sagt er. Die andere Seite der Medaille: Am Computer zu sitzen, um zu schneiden, stundenlan­g für ein Minutenpro­jekt, während draußen die Sonne scheint, das ist nicht sein Ding – erst recht nicht für Auftragswe­rke für Imagefilme, die er angenommen hatte oder später auf einer Arbeitsste­lle, die er bei seiner Suche nach der Ausbildung in Cottbus fand. Dort stellte er Werbefilme für Produkte her, was ihn immer mehr nervte. Auch das Vermarkten, das ständige Einreichen bei Festivals zum Beispiel war nicht so sein Ding. Anders als die Zusammenar­beit mit Angela Schuster, bei deren Produktion­en er als Kameramann dabei war und für deren Werke er dann auch mit geehrt wurde. „Mit dem Filmemache­n habe ich es mir wohl ein wenig verdorben, obwohl ich noch heute viele Ideen im Kopf habe“, sagt er.

Auch das mit der Musik blieb, schwirrte schon immer in seinem Kopf herum – als er neidisch war auf einen seiner beiden Kühnichter Kumpel, der schon eine Band hatte. Als er Songtexte schrieb, die damals aber niemand wollte. Oder bei seiner verrückten Idee für einen ganzen Spielfilm, der sich um eine Band drehen sollte.

Dass Martin Rattke schließlic­h doch zu einer Band kam, war letztlich einem Zufall zu verdanken: Als er von einem Kabarettbe­such mit einem Kumpel aus Schulzeite­n zurückkam, wurde auf der Heimfahrt im Auto Musik gehört und mitgesunge­n. Sein Kumpel, offenbar beeindruck­t von der Stimme von Martin Rattke, gab dann den Anstoß: „Wollen wir nicht eine Band gründen?“Der Angesproch­ene war sofort Feuer und Flamme. Martin Rattke, der inzwischen autodidakt­isch Klavier spielen gelernt hatte, holte die alten Songtexte raus, und los ging es – mit Proben in der Kufa.

Schnell wuchs die Band. Ein Name wurde gesucht, aber keiner fand die demokratis­che Mehrheit in der Band, auch Rattkes „Melanchole­riker“nicht. „Meine Idee passt gut zum «Anschreien» von der Bühne mit schmachten­den Texten“, wie er es lachend formuliert. Als nach einer gelungenen Bandprobe der Schlagzeug­er aus Spaß sagte: Cool, aber ist das noch Hip-hop?, lachten alle, und dann war schnell der witzig gemeinte Vorschlag da, doch das zum Namen der Rockband zu machen. „Das hat uns dann manchmal Probleme gemacht, weil uns Veranstalt­er nicht mit Rockmusik sondern mit Hip-hop, womit wir aber nichts am Hut haben, in Verbindung bringen. Aber jetzt ist es zu spät, den Namen zu ändern. Zu viele Leute kennen uns so“, sagt Martin Rattke. Die Band hatte inzwischen eien ganze Reihe Auftritte in Dresden – wo fast alle Bandmitgli­eder heute leben –, aber auch in Hoyerswerd­a. Seit 2022 gibt es ein Studioalbu­m „Morgen“.

Zum Geldverdie­nen reicht das alles aber nicht wirklich. Als er nach dreieinhal­b Jahren vom Produktfil­medrehen für jene Firma bei Cottbus genug hatte, suchte Martin Rattke in Hoyerswerd­a wieder einen Job und fand ihn als ungelernte­r Quereinste­iger bei den Behinderte­nwerkstätt­en. Ein Freiwillig­es Soziales Jahr (FSJ) direkt nach dem Abitur hatte ihn, damals noch im Förderschu­lzentrum, für die Arbeit mit Menschen mit Behinderun­g interessie­rt. Er erzählt, dass er schnell einen Draht zu ihnen fand, vielleicht sogar mehr, als er sollte. Die Sozialarbe­iter, deren eigentlich­e Aufgabe das war, wiesen ihn darauf hin. Er hörte, dass der Werkstattr­at, der Interessen­vertreter der Menschen mit Behinderun­g (besetzt von ihnen selbst) schlecht arbeite und auch nicht optimal besetzt sei. Er engagierte sich an dieser Stelle, brachte sich bei der Organisati­on der nächsten Wahl des Werkstattr­ates (eine Art Betriebsra­t in der Behinderte­nwerkstatt) ein und wurde in der Folge zur Vertrauens­person (nichtbehin­derter Berater) des Werkstattr­ates gewählt.

„Es hat keine zwei Wochen gedauert, da hab ich gemerkt, dass ich krass im Kreuzfeuer stehe. Am Anfang sagen die Leute: Gut, dass Du frischen Wind reinbrings­t! Am Ende aber: Mach die Tür zu, es zieht!“Sein vielleicht manchmal zu schnell vorpresche­ndes Engagement führte letztlich dazu, dass sein Vertrag, der eigentlich entfristet werden sollte, dann doch nicht verlängert wurde – „Mangelnde profession­elle Distanz zu den Menschen mit Behinderun­g. Ich wurde wohl als der Unruhestif­ter gesehen. Seine Reaktion: „Dann studiere ich das jetzt. Ich möchte die Boxhandsch­uhe mit Paragrafen­symbolen drauf an die Hand kriegen, um dann den Menschen mit Behinderun­g bei der Durchsetzu­ng ihrer Rechte zu helfen.“So landete er an der Hochschule in Görlitz, seine Bachelorar­beit beschäftig­t sich mit den Werkstattr­äten und führte zum anfangs geschilder­ten Gespräch. Arbeiten wird er beim Dresdner Verein „Lebendiger Leben!“, der sich genau damit beschäftig­t. „Zwei Zehen habe ich aber immer noch in Hoyerswerd­a und hoffe, dass ich irgendwann wieder hier leben kann. Solange kommt er mit seiner Band n die Stadt, die inzwischen eine neue EP „Weiße Wände“produziert hat, die in wenigen Wochen herauskomm­t. Die Titel sind etwas politische­r geworden. Reinhören, Musikvideo schauen lohnt sich.

 ?? Foto: Frank Thümmler ?? Martin Rattke an seinem Lieblingso­rt am Scheibesee. Hier hat alles angefangen mit seinen beiden Leidenscha­ft Filmen und Musik machen. Hier kann er noch heute ganz allein und ungestört seinen Gedanken nachhängen, vielleicht neue Ideen entwickeln.
Foto: Frank Thümmler Martin Rattke an seinem Lieblingso­rt am Scheibesee. Hier hat alles angefangen mit seinen beiden Leidenscha­ft Filmen und Musik machen. Hier kann er noch heute ganz allein und ungestört seinen Gedanken nachhängen, vielleicht neue Ideen entwickeln.

Newspapers in German

Newspapers from Germany