Sächsische Zeitung (Hoyerswerda)
Unsere verkrampfte Gesellschaft
Das Gefühl, es gehe bei jedem Streitthema sofort ans Eingemachte, fördert das Bild einer Spaltung der Bevölkerung. Dieser Eindruck ist stark überzogen, wie ein neues Buch zeigen will.
Menschen gehen an die Decke, wenn es sich anfühlt, als wolle man ihnen bestimmte Denkund Verhaltensweisen vorschreiben.
Reicht es langsam mit dem Tanz auf Eierschalen, um beim Thema Gender oder Rassismus ja nichts Falsches zu sagen? Ist es schon diskriminierend, Einwanderung und Kriminalität in einem Atemzug zu nennen? Treiben Debatten wie die um neue Geschlechtsidentitäten heute Blüten, die nicht mehr nachvollziehbar sind? Oder sollte unsere Gesellschaft umgekehrt noch viel intensiver reflektieren, wie alltägliche Formen des Sprechens Ausschluss und Ungleichbehandlung befördern? Gilt es, unser aller Alltagsleben konsequent auf Nachhaltigkeit umzustellen, oder tun wir hierzulande sowieso schon mehr als der Rest der Welt?
Diesen zunächst scheinbar ganz disparaten Fragen ist eines gemeinsam: Sie spitzen Streitpunkte auf eine Weise zu, die Menschen zu sehr vehementen, gegensätzlichen und oft auch stark emotionalen Positionierungen veranlasst. Während sich ein sehr großer Anteil der Bevölkerung darauf einigen kann, dass Einwanderung in den richtigen Maßen in Ordnung geht, sexuelle Minderheiten in Frieden leben sollen und dass der Klimawandel besorgniserregend ist, weisen die Meinungen deutlich auseinander, wenn es stärker „ans Eingemachte“geht, etwa weil Konsequenzen für das eigene Leben sichtbar werden oder Figuren ins Feld geführt werden, die Empathie oder Angst hervorrufen. Anhand umfangreicher Daten können wir in unserem Buch das Bild einer politischen Spaltung der Bevölkerung als stark überzogen zurückweisen. Doch auch ohne Zwei-lager-polarisierung leben wir offenkundig nicht in einer Konsensgesellschaft, sondern in einer, in der immer wieder voller Vehemenz und Anspannung gestritten wird.
Um genauer zu verstehen, wie es dazu kommt, dass bestimmte Debatten mit großem Erregungsüberschuss geführt werden, bedienen wir uns des Konzepts der Triggerpunkte. Es zielt auf jene neuralgischen Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschießen, an denen Konsens, Hinnahmebereitschaft und Indifferenz in deutlich artikulierten Dissens, ja sogar Gegnerschaft umschlagen. Physiotherapeuten verstehen unter Triggerpunkten verhärtete Stellen oder „verkrampfte Zonen“des Körpers. Im Zuge von Übertragungen kann eine Berührung solcher Punkte – ein „Triggern“– auch in ganz anderen Körperregionen Schmerz auslösen.
In den Diskussionsrunden mit Bürgerinnen und Bürgern verschiedener Schichten und politischer Ansichten, die wir für unser Buch wissenschaftlich beobachtet haben, spürt man den Übergang vom Konsensualen ins Strittige daran, dass sich das Raumklima plötzlich erhitzt. Diskutantinnen verschränken ihre Arme, oft beginnen mehrere gleichzeitig zu sprechen oder stacheln sich gegenseitig an: „Es ist der helle Wahnsinn“, „Aber hallo!“, „Wir machen uns zum Deppen“und so weiter.
Aus der kleinteiligen Analyse dieser hitzigen Momente haben wir vier Arten von Triggern herausdestilliert, die immer wieder auftauchen: Menschen gehen an die Decke, wo ihnen eklatante Unfairness begegnet (Ungleichbehandlungen), wo ihre Vorstellung des Normalen und Angemessenen gebrochen werden (Normalitätsverstöße), wo sie befürchten, die Kontrolle über den Lauf der Dinge gehe verloren (Entgrenzungsbefürchtungen), und wo es sich anfühlt, als wolle man ihnen bestimmte Denk- und Verhaltensweisen vorschreiben (Verhaltenszumutungen). Blicken wir hier nur auf einen dieser typischen Trigger, den der Entgrenzungsbefürchtungen. Solche Befürchtungen erwachsen dort, wo man einen Sachverhalt als Teil einer bald schon nicht mehr kontrollierbaren Steigerungsdynamik wahrnimmt. „Was kommt dann als Nächstes?“ist eine typische Reaktion, wenn ein solcher Triggerpunkt getroffen wird, „Wo kommen wir da hin?“
Kern der Übertretung ist eine implizite Trendannahme, im Zuge derer auch vermeintlich unscheinbare Forderungen zur Chiffre für einen umfassenden und potenziell überwältigenden Prozess werden. In einer Gruppe bemerkt der Berliner Rentner Karlheinz etwa zur Forderung nach einer Frauenquote: „Dann kann man auch sagen, ich brauche eine Quote für was weiß ich was alles – und am Schluss brauche ich eine Quote für den Schornsteinfeger!“Man kann in solchen Äußerungen eine Form des Dammbrucharguments erkennen.
Ganz entsprechend des bildhaften Namens heben solche Einwände darauf ab, dass ein Vorstoß zu fatalen Konsequenzen führt, obwohl er für sich genommen zunächst klein erscheinen mag, eben wie ein feiner Riss im Putz des Staudamms. Die Folgen leiten eine Steigerungsdynamik ein, deren Endergebnis nicht abzusehen und nicht mehr zu deckeln ist. Prominentes Beispiel ist das Bild einer nicht mehr stoppbaren „Einwanderungsflut“, die Skeptiker als Folge größerer Migrationsoffenheit heraufbeschwören, oder es sind falsche Anreize, die in den Augen mancher ein zu generös gestaltetes Arbeitslosengeld setzt: „Da würden sich alle nur noch zurücklehnen, und keiner geht mehr arbeiten.“
Wie der Ökonom und Historiker Albert O. Hirschman im weiten historischen Rückblick aufschlüsselt, folgt dies einer typischen Argumentationsform, bei der Ansprüche mit Blick auf ihre nicht intendierten Negativfolgen abgewehrt werden. Trotz aller guten Absichten führe die Verwirklichung von Gleichheitsansprüchen zu einer Verschlimmerung der Lage derer, denen man eigentlich helfen wolle. In den Worten des Teilnehmers Rüdiger zur Seenotrettung: „Wenn da jetzt acht Leute schwimmen und um Hilfe rufen, […] und du schmeißt einen Rettungsring runter, [dann] ersaufen die alle, weil die sich so um den Ring keilen. […] Und so würde es uns gehen, wenn du das Land überschwemmst.“Eine Forderung wird so mit ihrer absurden Letztkonsequenz identifiziert. Die gut gemeinte Intervention für Gleichheit, Humanität oder Nachhaltigkeit erscheint – in Abwandlung Goethes – als
Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.
Entgrenzungsbefürchtungen triggern, weil sie Momente aufzeigen, an denen Erwartungen von Kontrolle, Kontinuität und Stabilität frustriert werden. Soziopolitischen Prozessen wie der Einwanderung, der ökologischen Transformation oder der Diversifizierung von Lebensweisen wird eine Eigendynamik zugeschrieben, in deren Verlauf nachvollziehbare Maßnahmen durch eskalierende Anschlussforderungen zusehends ins Absurde gesteigert werden. An Triggerpunkten dieser Art scheint sich eine gewisse Veränderungserschöpfung abzuzeichnen. Die Befragten haben – so ihr Gefühl – schon zu viel Transformation hinnehmen müssen und reagieren deshalb allergisch auf weitere Schritte sowie die Aussicht einer sich immer weiter verstärkenden Dynamisierung der Gesellschaft.
„In der Gesellschaft ändert sich heute so vieles, da ist es schwer, den Anschluss zu behalten“, lautete eine Aussage, zu der die Befragten in unserer deutschlandweiten Telefonumfrage Stellung beziehen sollten. Sie steht für das unangenehme Gefühl, von Entwicklungen überholt zu werden. Altersunterschiede sind in dieser Frage überraschend gering: 43 Prozent der unter Dreißigjährigen stimmen zu, bei den über Sechzigjährigen sind es nur wenig mehr (48 Prozent). Auch das Bild des gegen jegliche Veränderung eingenommenen „alten weißen Mannes“bestätigt sich nicht: Männer über sechzig mit zwei deutschen Elternteilen unterscheiden sich nicht vom Bevölkerungsdurchschnitt.
Viel stärker hingegen schlagen soziale Klasse und Bildung zu Buche. Alles weist darauf hin, dass es sich bei der Aversion gegen zu schnelle Veränderungen zumindest auch um ein Symptom ungleich verteilter Kontrollmacht handelt: Je besser die eigene Stellung und Ressourcenausstattung einen in die Lage versetzt, sich gegen Eventualitäten abzusichern und dem eigenen Willen gesellschaftliche Wirkung zu verschaffen, desto gelassener sieht man anscheinend auch Veränderungen entgegen.
Der Blick auf die Triggerpunkte liefert eine wichtige Ergänzung zur Vermessung von Konsens und Konflikt im Rest unseres Buches. Den Grundbefund einer polarisierten, von Grabenkämpfen gespaltenen Republik können wir empirisch zurückweisen. Stattdessen zeichnen wir das nuanciertere Bild einer Gesellschaft, die in vielen wesentlichen Fragen übereinstimmt, zugleich jedoch auch mit Konflikten konfrontiert ist, für die noch keine Befriedungsmechanismen gefunden sind. Der Blick auf die Triggerpunkte zoomt dagegen auf eben jene Punkte, an denen es knallt. An diesen Sollbruchstellen der öffentlichen Debatte, so unser Befund, werden wichtige unbewältigte Auseinandersetzungen und moralische Hintergrunderwartungen unserer Gesellschaft offenbar.