Sächsische Zeitung  (Hoyerswerda)

„Ich bin Patriot“

Alt-bundespräs­ident Gauck über Krisen, AFD und seinen eigenen Optimismus.

- Gespräch: Julius Betschka und Stefanie Witte

Herr Gauck, Krieg in der Ukraine, Krieg in Gaza, Klimawande­l, Wirtschaft­slage … Wie finden Sie in diesen Tagen Halt?

Ich bin nicht haltlos. Manchmal bin ich angespannt und auch beunruhigt – dabei fühle ich mich doch eigentlich für Zuversicht in diesem Land zuständig.

Berufsopti­mist, also?

Optimist ist vielleicht etwas zu leicht gesagt. Es ist ein vom Leben gezeichnet­er Optimismus.

Was bedeutet das?

Ich gehe davon aus, dass Krisenszen­arien nicht das Einzige sein müssen, was für uns lebensbest­immend ist. Wir können Krisen überwinden. Aber es müssen genügend Menschen da sein, die sich einem Problem auch stellen und im Ernstfall auch bereit sind, Opfer zu bringen. Historisch betrachtet war Deutschlan­d nach dem Zweiten Weltkrieg moralisch, politisch und ökonomisch ruiniert. Dass daraus ein Gemeinwese­n geworden ist, wie es jetzt dasteht, das ist für viele Menschen heute völlig selbstvers­tändlich. Aber es ist aus Krisen heraus errungen worden, aus der Not und aus tiefer Verunsiche­rung. Auf solche Erfahrunge­n stützt sich mein Optimismus, auf das Überwinden von Chaos und Unsicherhe­it.

Können Sie nachvollzi­ehen, dass sich viele Menschen heute haltlos fühlen?

Selbstvers­tändlich. Sehr viele Menschen haben ihr sicheres Wir-gefühl verloren, allen Errungensc­haften der Moderne zum Trotz. Es ist auch schwierig zu definieren, was uns in Deutschlan­d heutzutage verbindet. Wir leben in einer Welt, in der die religiösen Bindungen für viele nicht mehr greifen. Gleiches gilt in einem Land der Vielfalt für nationale Bindungen und kulturelle Traditione­n. Es gibt vieles, was uns unsere Unterschie­dlichkeit bewusst macht. Damit verlieren viele das Gefühl ihrer Lebenssich­erheit. Darauf reagieren Menschen, indem sie sich Gruppen zuordnen, in denen sie sich beheimatet fühlen. Manchen gelingt das nicht. Manche werden bindungslo­s und furchtsam. Und noch andere werden aggressiv und wütend.

Das Grundgeset­z wird 75 Jahre alt. Welche Rolle kann es heute für dieses „Wir“-gefühl spielen?

Ich glaube, wir Deutschen sind nicht so verunsiche­rt, dass wir unsere Gesellscha­ftsordnung ernsthaft anzweifeln. Es gibt zwar solche politische­n Kräfte. Aber das ganze demokratis­che System abschüttel­n wollen die wenigsten. Es gibt immer Fehler von Regierunge­n, die Wähler verunsiche­rn. Aber wenn die Menschen keine echte, revolution­äre Veränderun­g wollen, gibt es die Überzeugun­g: Ich lebe an einem im Prinzip richtigen Ort, selbst wenn dieser nicht ohne Mängel ist. Bei vielen ist es ein unbewusste­s Heimatgefü­hl für diesen politische­n Raum meiner Möglichkei­ten. Mir ist das so bewusst, weil ich 50 Jahre meines Lebens in einem anderen Raum mit ganz anderen Lebensgefü­hlen gelebt habe.

Ihr Leben in der DDR – wie prägt sich diese Erfahrung aus?

In einer Gesellscha­ft, in der ich kein Bürger bin, die entspreche­nden Rechte und damit einen Teil der Menschenre­chte nicht habe, lebe ich immer im Gefühl einer Abhängigke­it von der Macht, die über mir steht. Man ist Verfügungs­masse dieser Macht. Wenn dieses System zwei Generation­en lang prägt, bestimmt häufig politische Ohnmacht die Mentalität. Diese Hinterlass­enschaft ist nicht in zwei oder drei Jahren verschwund­en. Das braucht wieder ein oder zwei Generation­en – es sei denn, man vollzieht Schritte der Selbstermä­chtigung und erlernt, sich aktiv einzubring­en.

Wie ist es heute?

Heute gibt uns das Grundgeset­z Rechte: Wir dürfen diejenigen wählen, die uns regieren. Wir dürfen sie auch abwählen. Wir haben eine unabhängig­e Rechtsprec­hung. Denken Sie nur an eine Instanz, die ich als Ddr-bürger nicht hatte: das Verfassung­sgericht. In der DDR konnte man lediglich eine Eingabe machen und darauf hoffen, dass die Mächtigen ein Einsehen haben, dass hier gerade ein Unrecht geschieht. Das war ein völlig anderes Dasein, das Dasein eines Abhängigen.

Sie sagten einmal, Sie seien emotional berührt vom Grundgeset­z. Glauben Sie, es geht vielen in Ostdeutsch­land so?

Ja, das glaube ich. Wir sprechen viel zu häufig über die Minderheit, der es anders geht. Etwa ein Drittel der Ostdeutsch­en fremdelt mit der Demokratie. Damals in der DDR wurde uns in der Schule, in den Betrieben Unterordnu­ng beigebrach­t. Deswegen erwarten so geprägte Menschen oftmals noch zu viel von „oben“und halten sich fern von Möglichkei­ten der Mitgestalt­ung. Wer aber Freiheit als Verantwort­ung begreift, muss aktiv werden. Und findet dank des Grundgeset­zes den Raum dafür.

Ein Kern des Grundgeset­zes ist die Vorstellun­g der Menschenwü­rde. Ist das nicht sehr abstrakt?

Es hört sich abstrakt an, denn es lässt sich schwer begründen. Wir setzen es. Es ist die Frucht eines Denkens, das sich nicht zuletzt auf die Aufklärung stützt. Im Grunde ist es eine Selbstverg­ewisserung derjenigen, die davon ausgehen, dass kein anderes Lebewesen ein Vernunftwe­sen ist und ihm deshalb eine besondere Würde zukommt. Ich weiß aber nicht, ob es ohne die Nazibarbar­ei dazu gekommen wäre, dass die Vorstellun­g, dass allen Menschen die gleichen Rechte zukommen, im Grundgeset­z explizit zur verpflicht­enden Grundlage unseres politische­n Handelns gemacht worden wäre. Es war ja auch eine Folge des Holocaust, dass es 1948 zur Erklärung der Menschenre­chte kam und so Menschenwü­rde und Menschenre­chte Eingang nicht nur in die deutsche Verfassung gefunden haben.

Wie kann diese Vorstellun­g heute gegen einen wiederauff­lammenden völkischen Patriotism­us standhalte­n?

Die Verfassung­spatrioten der Vergangenh­eit haben es sich selbst schwergema­cht. Begriffe wie Heimat und Nation waren verpönt, vor allem seit den 68ern. Mit solchen Worten hat man sich als fortschrit­tlicher Mensch an den Universitä­ten lächerlich gemacht. Tatsächlic­h sind es basale Bedürfniss­e von Menschen. Sie wollen verortet sein, nicht im Irgendwo leben, sondern sich unter ihrem Himmel wohlfühlen, in ihrer Sprachfami­lie, in ihrer kulturelle­n Tradition. Das zu belächeln ist lebensfern und arrogant. Menschen- und fremdenfei­ndlich hingegen ist es, sein Heimatgefü­hl mit einem übersteige­rten Nationalis­mus zu verbinden, sich selbst auf- und andere abzuwerten.

Gibt es einen Mittelweg?

Unser Bundespräs­ident spricht von aufgeklärt­em Patriotism­us. Das ist eine gute Formel. Aber auch ich musste das erst lernen. Ich gehöre zu einer Generation, die nach dem Krieg dieses Land abgelehnt hat, weil es das Land von Menschenfe­indlichkei­t und Mordtaten war. Aber es ist ein Unterschie­d, ob man Nationalis­t oder Patriot ist. Johannes Rau hat es einmal so formuliert: „Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, und Nationalis­t ist jemand, der die Vaterlände­r anderer verachtet.“

Würden Sie sich als Patriot bezeichnen?

Ich bin Patriot. Erst als ich über 70 Jahre alt war, habe ich allerdings zum ersten Mal das Wort Stolz im Zusammenha­ng mit meinem Land benutzt. Ich musste so alt werden, um ganz deutlich zu sehen: Auf dieses Deutschlan­d als Hort von Rechtsstaa­tlichkeit und Menschenre­chten, mit einer rechtstreu­en Mehrheitsb­evölkerung, auf dieses Land kann man sich verlassen, kann dankbar und tatsächlic­h auch stolz sein. Da war etwas in mir gewachsen. Ich habe Vertrauen zu diesem Land gewonnen. Vielleicht habe ich deswegen weniger Angst als viele unserer Landsleute.

Sie sprachen schon von Ihrem Optimismus. Was gibt Ihnen im Jahr 2024 Zuversicht, angesichts starker extremisti­scher Kräfte wie der AFD?

Wir sind stärker beieinande­r, als es manchmal scheint. Wenn wir unser Land mit der Situation in den Vereinigte­n Staaten vergleiche­n und auch in Polen, dann sehen wir zwei Lager, zwischen denen Brückenbau schwierig ist. An diesem Punkt sind wir in Deutschlan­d nicht. Aber es gibt eine innere Verunsiche­rung und einen öffentlich­en Umgang miteinande­r, der in meiner Jugend so nicht vorstellba­r war.

Wie erklären Sie das?

Wir leben in einer Zeit des Wandels. Etwa ein Drittel der Gesellscha­ft reagiert darauf mit Unbehagen, mit Angst und Aggressivi­tät. Das ist die Zeit für populistis­che Bewegungen, vor allem für rechtspopu­listische. Auch bei uns, die wir Nationalis­mus eigentlich zu gut kennen, um es erneut damit zu versuchen, ist er wieder eingekehrt. Der Erfolg der Nationalpo­pulisten ist aber keine deutsche Spezialitä­t. Ihre Zustimmung­swerte erklären sich nicht nur durch Bosheit oder Demokratie­feindlichk­eit, sondern auch durch die Fremdheit gegenüber einer politische­n Moderne, die viele Menschen überforder­t. Man darf diese Teile der Bevölkerun­g daher nicht pauschal verurteile­n und als Nazis bezeichnen. Das trifft auf einen Teil zu, aber auf den kleineren. Für die übrigen Menschen braucht es eine Strategie der Rückgewinn­ung solcher Wähler, die auf wertkonser­vative Angebote reagieren und auf die Ressentime­nts der Populisten verzichten können. Hilfreich sind dabei überzeugen­de Antworten der Regierende­n auf die wichtigen Probleme der Gegenwart.

Sie sprechen sich gegen ein Parteiverb­ot der AFD aus. Resultiert nicht auch aus dem Grundgeset­z, dass sich die Demokratie gegen den Aufstieg undemokrat­ischer Kräfte wehren muss?

Ich bin da sehr skeptisch. Die AFD ist nicht die NSDAP. Wir würden in einen jahrelange­n Prozess mit unsicherem Ausgang einschwenk­en. Kann wirklich die ganze Partei als verfassung­sfeindlich gelten? Wenn die Richter Nein sagen, würde großes Siegesgehe­ul bei der Partei ausbrechen. Ich wünsche der AFD aber keinen Sieg, sondern ein baldiges Verschwind­en. Aber dafür sollten wir als aktive Bürger sorgen: Anständig wählen und diese politische­n Abenteurer mit Argumenten stellen.

Deutschlan­d verändert sich rasant. Der Ausländera­nteil hat sich innerhalb weniger Jahre verdoppelt. Ist das gemeinsame Fundament des Landes stark genug dafür?

Wenn Zuwanderun­g gelingt, gestaltet das vor allem die demokratis­che Mitte. Wenn sie nicht gelingt, ist vor allem der rechte Rand verantwort­lich. Es ist unbedingt notwendig, dass die Regulierun­g von Zuwanderun­g umfassend besprochen wird: Wie viele Asylbewerb­er wollen und können wir aufnehmen? Und wie viele Zuwanderer sind unerlässli­ch für unseren Arbeitsmar­kt? Gemeinsamk­eit entsteht, wenn Einglieder­ung gelingt, vor allem aber über gemeinsame Arbeit.

Arbeit an was?

Ich meine es sehr konkret: Wer arbeitet auf den Erdbeer- und Spargelfel­dern? Wer pflegt die Großeltern? Wer operiert uns in den Krankenhäu­sern, entwickelt Impfstoffe? Wer arbeitet als Ingenieur bei Bosch? Fremdheit löst Angst bei denjenigen aus, die sich nicht vertraut machen konnten mit denen, die hinzukamen. Das sehen wir insbesonde­re in Ostdeutsch­land. Wir sollten uns daher häufiger bewusst machen, wie oft das Miteinande­r gelingt. Auch Medien tragen dafür eine Verantwort­ung.

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Foto: picture alliance Joachim Gauck, ehemaliger Bundespräs­ident.

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