In den Mühlen der Bürokratie
Großes Ensemble, gewaltige Bilder – als absurden Traum erlebt man „Das Schloss“von Franz Kafka in Dresden.
Schüchtern, sperrig und verkopft – wer hätte 1924 gedacht, dass der Sonderling Franz Kafka und seine bizarren Geschichten 100 Jahre überdauern: Kafka als Abiturthema, im Serienformat und auf der Theaterbühne. Seinen Zwist mit dem Vater, die Not im Umgang mit Frauen, aber auch das schriftstellerische Dilemma, dem eigenen Anspruch nicht zu genügen, prägen Kafkas Texte. Nur selten gelingt eine Erzählung im Schreibrausch. Bei Romanen scheitert er. So wurde auch „Das Schloss“als unfertiges Fragment erst nach seinem Tod veröffentlicht. Seit Sonnabend tobt dieser Kampf des Landvermessers K. gegen die Mühlen der Bürokratie auf der Bühne des Dresdner Schauspielhauses.
„Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehen …“, so setzt der Roman ein. Auch auf der Bühne von Andreas Auerbach ist es finster. Ein verzerrtes Stöhnen erfüllt den Raum. Schwer atmet K. unter einer Gasmaske. In ein Endzeitszenario hat Regisseur Maxim Didenko ihn geworfen: Signalgelb leuchtet sein Schutzanzug. Grau und kalt starren die kastenartigen Bauten des Dorfes. Nur ein romantischer Vollmond prangt am Bühnenhimmel. Bald wird das Containerdorf gedreht, innen wie außen bespielt. Mittels Livecam folgt man dem Spiel parallel aus vielen Perspektiven. Das ist dynamisch, bildgewaltig. Kreativer könnte dieses Bühnenkonzept aber sein, erinnert es doch sehr an Bühnen von Frank Castorfs Inszenierungen.
Der Landvermesser K. soll für einen Schlossherren arbeiten. Doch K. scheitert von Beginn an, seinen Arbeitgeber zu erreichen. Ablehnend zeigt sich die Dorfgemeinschaft. Oft sieht das vielköpfige Ensemble aus wie mitgenommene Kriegsveteranen, mit Tschapkas, Panzerhaube oder Prothesen. Manchmal spielen mehrere Dörfler unter einem Poncho-monstrum, sodass sie symbolisch stets unter einer Decke stecken. K.s größtes Problem ist die rätselhafte Bürokratie. Kein Anruf kommt durch. Keine Anfrage wird beantwortet.
Obwohl die Inszenierung ganz in ihrer eigenen surrealen Welt bleiben will, deuten diese mächtigen Mühlen der Bürokratie klar in Richtung Gegenwart, etwa in der herrlich überzeichneten Szene, in der Holger Hübner als Gemeindevorsteher dem verunsicherten, fremden K. Behördenvorgänge kryptisch erklärt und ihn dabei verhöhnt. Wer kennt nicht dieses Ohnmachtsgefühl gegenüber einer Instanz? Oder wurde Opfer von Beamten-willkür? Wer ist nicht vielleicht selbst Teil des undurchsichtigen Apparates? Kafkas „Schloss“zeigt genau das: unerforschliche Beamten-hierarchien, Fremdenfeindlichkeit, Machtspiele und zynisches, menschenfeindliches Handeln. Nicht auszudenken, was die gegenwärtig so befeuerte KI alles noch zur Entmenschlichung des 21. Jahrhunderts beitragen wird.
Mit Blick auf die Bühne wächst das Unbehagen, oft unterstützt durch befremdliche, elektronische Klänge von Daniel Williams. K., dem Moritz Kienemann gekonnt viele Gesichter verleiht, wird nie die Instanz des Schlosses erreichen: Nie erlangt er Gnade. Plump nähert er sich Frieda im Wirtshaus an und will sie sofort heiraten, um Teil der Gemeinschaft zu werden. Sehr zart und in Abhängigkeit ihrer Verhältnisse spielt Kaya Loewe ihre Frieda. Sie wird in dieser Welt zum schmerzlichen Objekt reduziert. Generell sind alle Figuren hier deformiert – äußerlich lädiert, innerlich auf Funktionen des „Schloss-apparates“reduziert. Eine Zukunft kann K. Frieda nicht bieten und er liebt sie nicht wirklich. Selbstgefällig, ja harsch behandelt K. auch seine Gehilfen von oben herab und gibt erlittene Erniedrigungen direkt an sie weiter. Skurril staksig klebt dabei Jonas Holupirek stets an K.s Seite, bekommt in einer Szene während des Laufens von ihm leibhaftig die Kleider vom Körper gerissen. Stark körperlich spielt Kienemann seinen K., wälzt sich, tänzelt auf der Stelle, stapft gegen die Drehbühne an. Oder lässt sich von seinen Gehilfen wie ein kleiner Alltagspascha tragen. Doch immer ist er ein vibrierendes Nervenbündel, mit einer Prise Jämmerlichkeit – verloren in der Sinnlosigkeit seiner Zeit.
Obwohl die Regie viele Ideen zaubert, um die Sinne zu füttern, gelingt es ihr nicht ganz, den Text zu beleben. Es ist wunderbar schräg, wenn Martin Blülle als Beamter ein paar Schachtelsätze singt. Oder ein bizarrer Pionierchor dies gleichfalls mit überspitztem Ernst zelebriert. Aber solche Verfremdungen sollten häufiger die Kafkasätze schleifen. Dramaturgisch müsste mit mehr Mut Text zusammengestrichen, das Tempo gesteigert werden. So dominiert leider die Textlast das Spiel und sorgt nach der Pause für zähe Strecken.
Am Ende wird K. an Drahtseilen nach oben gezogen. Steif lässt er sich treiben. Nur seine Füße paddeln unsicher, als würde er durch eine unbarmherzige Kraft auferstehen. Doch erlöst wirkt er nicht: Ein starkes Bild beendet einen langen Abend, der zeigt, wie heutig Kafkas unbequeme Themen sind, wie übermächtig Behördenvorgänge den Einzelnen einschränken, wie stark die technisierte Welt das Individuum verändert. Aber die Inszenierung zeigt auch, wie schwierig es ist, Kafkas Sprache zum Leuchten zu bringen. Maxim Didenko gelingen keine theatralen Superlative, und Wagnisse oder Provokationen sind nicht zu erwarten. Garantiert wird bilderreiches Literaturtheater mit klarem Konzept und sehr sehenswertem Ensemble.