Sächsische Zeitung  (Kamenz)

„Wir sollten keinen Ideologien hinterherr­ennen“

Ein neues Buch umfasst mehr als 30 Texte von Zeitzeugen der Kriegs- und Nachkriegs­zeit. Darin erzählt Günter Kern aus Kamenz von seinem Vater – und davon, wie ihn der Krieg verändert hatte.

- Von Maren Kaster

Wie erinnern wir uns an Geschichte? Wie wollen wir uns über Krieg und seine Auswirkung­en informiere­n? Wie können junge Menschen außerhalb des Schulunter­richts mehr darüber erfahren? Und wie kann man den kommenden Generation­en Lebensverh­ältnisse und Traumata näherbring­en, damit Geschichte nicht in Vergessenh­eit gerät? Der Spiegelver­lag ermöglicht mit seinem Buch „Warum hängt daran dein Herz? Wie Erinnerung­sstücke aus der Kriegszeit helfen, unsere Eltern zu verstehen“eine Annäherung. In 36 Erinnerung­sstücken erzählen Kriegskind­er auf 384 Seiten, wie sie den Krieg und deutsche Geschichte erlebt haben und wodurch sie geprägt wurden.

Einer der Zeitzeugen ist der Kamenzer Günter Kern. Er ist unter anderem durch den Roman „Raumfahrer“(2021) von Lukas Rietzschel bekannt, der von Kerns Leben in der DDR erzählt. Das Stück in „Warum hängt daran dein Herz?“hat er selbst verfasst. Es handelt von seinem Vater, der 1939 zum Wehrdienst an die französisc­he Front eingezogen wurde. Zu diesem Zeitpunkt war er Mitglied der NSDAP und Ortsgruppe­nleiter der Partei. Warum er sich den Nazis anschloss, weiß Günter Kern nicht. „Ich habe ihn nie gefragt“, schreibt er in seinem Erinnerung­sbericht. „Es war damals undenkbar, den Eltern unangenehm­e Fragen zu stellen.“Zudem wirft er die Frage danach auf, ob er als Jugendlich­er die

Wahrheit wirklich hätte wissen wollen. Anhand kleiner Anekdoten beschreibt Kern anschaulic­h, wie der Krieg seinen Vater veränderte und wie er schwer verwundet und desillusio­niert zu seiner Familie nach Kamenz zurückkehr­te – dank viel Glück und einem Trinkbeche­r aus Metall, der ihm bei einem Granatenei­nschlag das Leben gerettet hatte. Doch das Ansehen und der Wohlstand, den der ehemalige Schuldirek­tor vor dem Krieg genossen hatte, waren dahin. Es folgten die Armut der Nachkriegs­jahre, die Gründung der DDR und damit die Zeit des Sozialismu­s.

Kerns Kindheitse­rinnerunge­n an heimliches Hören von Westradio und heftige Reaktionen seines Vaters auf den Schießspor­tunterrich­t in der Schule machen deutlich, wie sehr auch er von den Erfahrunge­n seines Vaters geprägt wurde. „Er sagte uns, wir sollten keinen Ideologien hinterherr­ennen“, erzählt Kern. „Zu Hause waren wir Demokraten. Für uns war es unvorstell­bar, Kommunist zu sein.“Diese Einstellun­g zieht sich durch Kerns ganzes Leben. Aus dem Text geht hervor, wie ihm sein Vater einen kritischen Blick auf politische Verhältnis­se lehrte. Auch von persönlich­en Tiefschläg­en, wie dem Verbot der SED zu studieren wegen „politisch-ideologisc­her Unreife“, ließ er sich nicht von dem System, in dem er leben musste, überzeugen.

Er bedaure, dass er der einzige ostdeutsch­e Vertreter in dem Buch ist, sagt Kern. Es sei wichtig, dass jüngere Generation­en von beiden deutschen Diktaturen erfahren, nicht nur im Geschichts­unterricht, sondern von Menschen wie ihm, die von beiden geprägt wurden. Dafür möchte er sich einsetzen. Die Veröffentl­ichung des Buches sei eigentlich erst für einen späteren Zeitpunkt geplant gewesen. „Aber die aktuellen politische­n Entwicklun­gen haben dazu geführt, dass es früher veröffentl­icht wurde“, so Kern. In Kamenz sei es bereits beinahe vergriffen. Der 83-Jährige freut sich sichtlich über das Interesse.

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Foto: Matthias Schumann Günter Kern aus Kamenz hat einen Text für das Erinnerung­sbuch „Warum hängt daran dein Herz?“beigesteue­rt.
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