Ein Tag Rammstein
Schwarze T-shirts, Sonne, Hitze und viel Bier: Rammstein verwandelt Dresden für fünf Tage in ein Fanlager. Über eine Stadt im Ausnahmezustand.
Erbarmungslos knallt die Sonne auf das Konzertgelände an der Dresdner Flutrinne. Bei über 20 Grad stehen hier um die Mittagszeit bereits etwa vierhundert Menschen, die darauf warten, dass der Einlass beginnt. Wer kann, flüchtet sich in den Schatten der wenigen Bäume.
Mila Kot und Brendan Cleary haben sich vor dem Einlass unter eine gold-silber glänzende Rettungsdecke gekauert, um so der Sonne zu entgehen. Wenn die beiden sich bewegen, knistert die Decke so laut, dass man sie kaum verstehen kann. Mila Kot ist aus Polen angereist, Brendan Cleary auf Deutschlandbesuch aus den USA. Die beiden kennen sich nicht, haben aber durch den gleichen Musikgeschmack zueinandergefunden. „Wir haben uns erst hier auf dem Gelände kennengelernt“, sagt Cleary. „Es ist sicher besser, bei so vielen Menschen zusammen unterwegs zu sein.“Seine neue Begleiterin nickt.
Bis zum Abend werden mehr als 50.000 Menschen auf das Gelände strömen. Dann wird Rammstein das erste von insgesamt vier Konzerten in der Flutrinne spielen. Bei den Shows am Mittwoch, Donnerstag, Samstag und Sonntag werden mehr als 200.000 Fans in der Stadt erwartet.
Nicht nur an der Flutrinne, sondern auch überall sonst in der Stadt herrscht Aufruhr wegen Rammstein. Überall in der Stadt sind Menschen mit Bandshirts unterwegs, das weiße „R“auf schwarzem Grund ist allgegenwärtig.
Fans auf dem Weg nach Dresden verstopfen zeitweise die A 4 in Richtung Chemnitz, zwischen den Abfahrten Wilder Mann und Dresden-neustadt gibt es einen Rückstau. Im Zentrum sieht es ähnlich aus: Viele Autofahrer stehen lange im Stau, weil sich der Verkehr von der Marienbrücke in
Richtung Altstadt zurück bis zum Neustädter Bahnhof nur zentimeterweise bewegt. An vielen anderen Orten in der Stadt bieten sich ähnliche Szenen.
In der Seestraße in der Altstadt ist ein Rammstein Popup-store entstanden, in dem sich Fans vor den Konzerten noch mit passendem Merch eindecken können. Gegen 12 Uhr hat sich dort bereits eine lange Schlange gebildet, mehrere Dutzend Fans warten geduldig darauf, eins der Shirts zu bekommen, das extra für diesen Anlass gedruckt wurde. Auf den „Rinne“-shirts ist die Dresdner Altstadt zu sehen, mehrere Lichtkegel schießen Richtung Himmel.
Eine Stadt im Ausnahmezustand
Laura und Tobias aus Trier haben zwei Stunden für das Rammstein-textil angestanden. Später werden die beiden zum Konzert gehen, für Donnerstag ist eine Stadterkundung geplant. „Wenn wir schon mal hier sind“, sagt Tobias.
Auch an der Flutrinne bilden sich lange Schlangen an den Souvenirs- und Essensständen. Es gibt: Shirts, Basecaps, Anstecker – alles mit Rammstein, dazu Fleischspieße, Hamburger und Bratwürste. Auch Pommes sind da, die heißen „Dicke Fritten“, eine Anlehnung an den Rammsteinsong „Dicke Titten“.
Die Fans haben gute Laune, aus Lautsprechern schallen Rammstein-songs, an
den Bordsteinen sammeln sich leere Bierflaschen und Cola-dosen. Mehrere Pfandsammler schlängeln sich zwischen den Konzertbesuchern hindurch, heben die leeren Flaschen auf. Die ersten verlassen schon am Nachmittag das Gelände, mit voll beladenen Einkaufskörben oder Tragetaschen. Ein älterer Mann läuft über die Pieschener Allee und brüllt: „Ticket zu verkaufen, Ticket zu verkaufen!“Doch vergeblich: Die Fans sind bereits alle versorgt.
Trotz der ausgelassenen Stimmung gibt es ein Thema, das in den Gesprächen vor Ort immer wieder anklingt: die Missbrauchsvorwürfe gegen Rammstein-sänger Till Lindemann.
Mehrere Frauen hatten im vergangenen Jahr geschildert, dass sie während Konzerten gefragt worden seien, ob sie zur Aftershowparty kommen wollten. Dabei soll es auch zu sexuellen Handlungen gekommen sein. Ende August stellte die Staatsanwaltschaft Berlin ein Ermittlungsverfahren gegen Lindemann ein. Entscheidend war damals, dass sich die mutmaßlich Geschädigten selbst nicht an die Behörden gewendet hatten.
„Es ist ja nichts bewiesen“, sagt Rammstein-fan Marko. Er fände die Vorwürfe „schwierig, weil da ja nicht nur die Band, sondern viele Mitarbeiter dranhängen“. Marko meint: „Bis nichts bewiesen ist, lautet das Motto: im Zweifel für den Angeklagten.“
Die meisten anderen Fans sehen das an diesem Mittwoch ähnlich. Viele berufen sich auf die eingestellten Ermittlungen.
Am Jorge-gomondai-platz in der Dresdner Neustadt ist man anderer Meinung: Gegen 16.30 Uhr ziehen etwa 250 Demonstranten zum Konzertgelände. „Das Einstellen des Verfahrens ist kein Freispruch“, sagt eine Demonstrantin. Das Geld, das bei den Konzerten eingenommen wird, solle man an Initiativen spenden, die sich für Opfer sexueller Gewalt einsetzen. Auf dem Weg zur Flutrinne buhen die Demonstrierenden Rammstein-fans aus. Einige Beleidigungen und Mittelfinger sind die Antwort, die Lage bleibt jedoch ruhig.
Pünktlich 18.30 Uhr eröffnet das französische Klavier-duo Abélard das Konzert. Zaungäste gibt es laut einem Reporter vor Ort kaum. Sonderlich viel sehen kann man von außerhalb des Geländes ohnehin nicht – das Areal wurde großflächig eingezäunt. An vielen Orten in Dresden ist das Konzert dafür aber zu hören – etwa in Pieschen, nur wenige hundert Meter Luftlinie vom Konzertgelände entfernt.
Gegen halb Acht gehen dann La-olawellen durchs Publikum. Lange haben die Fans auf diesen Moment gewartet. Plötzlich geht ein Ruck durch den Fahrstuhl, der die sechs Bandmitglieder auf die Bühne fährt. Showstart mit Händels Feuerwerksmusik. Der Ausnahmezustand geht weiter.