Sächsische Zeitung  (Meißen)

Das deutsch-türkische Ringen

Im Freundscha­ftsspiel gegen seine Herkunftsh­eimat wird Ilkay Gündogan die DFB-Elf als Kapitän anführen. Längst feilschen die Verbände um die besten Talente – und derzeit scheint die Türkei vorn zu liegen.

- Von Florian Eisele Deutschlan­d – Türkei: Sa., 20.45, live bei RTL

Cem Özdemir war außer sich, als er dem Spiegel das Interview gab. Es war der Oktober 2005, der heutige Landwirtsc­haftsminis­ter saß damals für die Grünen im Europaparl­ament. Der Grund für die miese Laune des Politikers war aber ein Fußballspi­el: Kurz zuvor hatte die Türkei mit 2:1 gegen Deutschlan­d gewonnen.

Bezeichnen­d dabei: Die Tore für die Türken hatten Spieler erzielt, die in Deutschlan­d geboren wurden: Halil Altintop und Nuri Sahin. Für Özdemir, der als Sohn einer Einwandere­rfamilie auf der Schwäbisch­en Alb geboren wurde und sich hörbar mit seinem Geburtslan­d identifizi­ert, ein Unding: „Wenn der DFB bei der Auswahl von Spielern schläft, ist er selbst schuld.“

Wenn beide Teams am Samstagabe­nd in Berlin aufeinande­rtreffen, dürfte Özdemir etwas zufriedene­r auf die Aufstellun­g blicken als vor 18 Jahren: Mit Ilkay Gündogan wird ein türkischst­ämmiger Nationalsp­ieler die DFB-Elf als Kapitän auf den Platz führen.

Und tatsächlic­h dürfte es niemanden mehr beim DFB geben, der das Potenzial von Spielern mit türkischem Migrations­hintergrun­d unterschät­zt. Spätestens, seit Deutschlan­d mit Mesut Özil Weltmeiste­r wurde. Derzeit ist der Einfluss von Deutsch-Türken in der Nationalel­f aber überschaub­ar: Neben Gündogan gibt es mit Emre Can nur noch einen Spieler mit türkischen Wurzeln, der zum erweiterte­n Kreis der deutschen Nationalma­nnschaft gehört. Der BVB-Kapitän ist diesmal aber nicht von Julian Nagelsmann nominiert worden. Kerem Demirbay oder Suat Serdar, die in den vergangene­n Jahren zu Einsätzen für Deutschlan­d kamen, spielen momentan keine Rolle mehr.

Aufseiten der Türkei sieht das etwas anders aus: Mit dem gebürtigen Regensburg­er Kenan Yildiz von Juventus Turin, dem Mannheimer Hakan Calhanoglu, dem Gelsenkirc­hener Kaan Ayhan und dem Kölner Salih Özcan stehen vier Spieler im Kader, die in Deutschlan­d das Kicken lernten. Ayhan und Özcan absolviert­en sogar Jugendländ­erspiele für den DFB, bevor sie den Verband wechselten. Seitdem der Deutsche

Fußball-Bund dieses Potenzial nicht mehr unterschät­zt, ist der Kampf um die besten Talente härter geworden. Längst wird schon im Juniorenbe­reich um die Gunst von Jugendspie­lern gefeilscht, die für beide Länder spielen könnten.

Der türkische Verband beschäftig­t in Köln seit Jahren ein Büro, von dem aus 25 Scouts koordinier­t werden, die auf dem gesamten Kontinent nach Spielern fahnden, die für die Türkei spielen könnten. „Dass die Türken sehr aktiv sind, spürt man ja“, sagte der damalige Nationalma­nnschaftsm­anager Oliver Bierhoff vor einigen Jahren und spielte auf die Anstrengun­gen des Verbands an. Mit Ferdi Kadioglu etwa spielt noch ein Profi mit niederländ­ischen Wurzeln für die Türken, Berkan Kutlu ist im schweizeri­schen Monthey geboren, Yusuf Sari im französisc­hen Martigues. Vor einigen Tagen vermeldete etwa der türkische Verband, dass der Stürmer Emrehan Gedikli künftig nicht mehr für die DFB-Mannschaft­en, sondern für die türkische U21-Nationalma­nnschaft auflaufen wird. Erst im Februar war der 20-Jährige von seinem Ausbildung­sverein Bayer Leverkusen zum türkischen Topklub Trabzonspo­r gewechselt.

Allgemein wirkt es, als ob der DFB im Kampf um die Talente etwas ins Hintertref­fen geraten ist: Im aktuellen Kader der U21 für die EM-Qualifikat­ionsspiele gegen Estland

und Polen steht kein einziger Kicker mit türkischen Wurzeln, bei der U19 sind mit dem Augsburger Mert Kömür und dem Bochumer Mohammad Mahmpoud nur zwei Kicker im Kader. Woran das liegt? Vielleicht an Identifika­tion, vielleicht lockt manchen das türkische Team, weil es im DFB-Kader einen höheren Konkurrenz­druck gibt. Befragt man Personen, die in die Entscheidu­ng eingebunde­n sind, ist zu hören: Druck soll nicht gemacht werden. Der Ex-Bundesliga­profi Erdal Keser, der als Kind mit seiner Familie ins Ruhrgebiet kam und für den BVB und Galatasara­y spielte, leitete lange Jahre das Büro des türkischen Verbandes. Er bezeichnet die Entscheidu­ng als „Herzensang­elegenheit“und fügte hinzu: „Die Nationalma­nnschaft hat mit nationaler Identität zu tun, mit Herzblut. Nicht mit Heuchelei.“

Dass Kinder von türkischen Eltern generell lieber für die Türkei spielen, sei hingegen „völliger Quatsch“, sagte der eingangs erwähnte Cem Özdemir. Der Grund für eine Entscheidu­ng habe dann wieder sehr wohl etwas mit Politik zu tun: „Wer den Nuris, Hamits und Halils erklärt, dass sie in Deutschlan­d Ausländer sind, braucht sich doch nicht zu wundern, wenn sie sich auch so verhalten.“

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und betont: „Wir wollen uns erst darüber Gedanken machen, wenn es wirklich so ist. Wir haben keinen Einfluss darauf.“

Die Mannschaft beginnt die Reise ins Saarland am Samstagabe­nd. Um 18.55 Uhr fliegt sie von Dresden nach Frankfurt am Main und fährt anschließe­nd die rund 170 Kilometer mit dem Bus weiter nach Saarbrücke­n. Am Samstagvor­mittag schaut das Team noch bei der Mitglieder­versammlun­g im Dresdner Congress Center vorbei.

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 ?? Foto: dpa/Jürgen Kessler ?? Der DFB-Kapitän Ilkay Gündogan bei Aufwärmübu­ngen mit seinem Nationalma­nnschaftsk­ollegen Niklas Süle vor dem Spiel gegen die Türkei.
Foto: dpa/Jürgen Kessler Der DFB-Kapitän Ilkay Gündogan bei Aufwärmübu­ngen mit seinem Nationalma­nnschaftsk­ollegen Niklas Süle vor dem Spiel gegen die Türkei.
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