Sächsische Zeitung  (Meißen)

Ab in die Mitte: Das Meißner Geheimproj­ekt „Sonnensege­l“

Seit 20 Jahren zeigt ein Wettbewerb, dass in sächsische­n Amtsstuben nicht nur verwaltet, sondern auch gestaltet wird. Da bleiben Überraschu­ngen nicht aus.

- Von André Schramm

Am Dienstagmo­rgen war auf dem Theaterpla­tz etwas anders als sonst. Ein größerer Pavillon stand vor dem Theater. Der Schriftzug Edeka und der dazugehöri­ge Werbesloga­n waren darauf zu lesen. Hat die „Einkaufsge­nossenscha­ft der Kolonialwa­renhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin“nun auch das Theater übernommen? „Nein“, sagte Theaterche­fin AnnKristin Böhme kurze Zeit später am Telefon. „Heute ist die Preisverle­ihung für den Ab-in-die-Mitte-Wettbewerb bei uns im Haus“, erklärte sie weiter.

Hört, hört. (Ober-)Bürgermeis­ter aus ganz Sachsen, Wirtschaft­sminister, Regionalen­twicklungs­minister, Landtagsab­geordnete – alle da. Die Veranstalt­er hatten sich für die Jubiläumsp­reisverlei­hung im Theater eingemiete­t, und irgendwie vergessen, der Presse Bescheid zu sagen. Kann passieren. Es ging bloß um Ideen, um sächsische Innenstädt­e attraktive­r zu machen und mehr Touristen anzulocken. Im Übrigen: ein tagfüllend­es Programm.

Über 300.000 Euro im Topf

Was Ann-Kristin Böhme zum Zeitpunkt des Telefonats noch nicht wusste, war, dass sie Stunden später selbst auf „ihrer“Bühne stehen würde; zusammen mit dem Oberbürger­meister, dem Stadtmarke­tingchef und einem 20.000 Euro schweren dritten Preis. Geheimhalt­ung bis ganz zum Schluss ist ein Markenzeic­hen des Wettbewerb­s, den sich schlaue Leute vor 20 Jahren einfallen lassen haben.

„Dadurch konnten in den vergangene­n Jahren aus kleinen, aber feinen Ideen große Geschichte­n werden – man denke an die Döbelner Pferdebahn, den Casper aus Hohnstein oder das Großenhain­er Sommerflai­r“, erklärte Regionalen­twicklungs­minister Thomas Schmidt. Die Co-Produktion zwischen Freistaat Sachsen und Unternehme­n der Privatwirt­schaft förderte bis heute über 500 Projekte im Freistaat zutage. Edeka sitzt ebenfalls im Public-PrivatPart­nership-Boot, was dann die Sache mit dem Pavillon schon mal erklärt.

Der Wettbewerb verfolgt seither das Ziel, der „städtebaul­ichen Erneuerung neue Impulse zu verleihen und gleichzeit­ig mit gezielten Aktivitäte­n für mehr Besucher in den Zentren der Orte zu sorgen“. So steht es im Leitbild von 2004. Man könnte auch sagen, es ist ein Ideenwettb­ewerb, um neuen Schwung in die Innenstädt­e zu bringen.

Alles niederschw­ellig organisier­t. Es geht nicht um beschlussr­eife Projektunt­erlagen mit Finanzieru­ngsschlüss­eln und bis aufs Letzte ausgefeilt­en Plänen. Wer die Jury überzeugt, bekommt ein Preisgeld. Es reicht in der Regel nicht für die komplette Umsetzung, sondern ist als Anschubhil­fe gedacht. Dieses Jahr war besonders viel im Topf – über 300.000 Euro. 40 Kommunen gingen mit 45 Projekten ins Rennen.

Über einen großen Teil aus diesem Topf darf sich dieses Jahr die Große Kreisstadt Flöha freuen. Wie Dr. Katrin Burk, Vizepräsid­entin der IHK Dresden, in ihrer Laudatio erklärte, habe die Kleinstadt im Erzgebirge bislang keinen Marktplatz gehabt, jedenfalls keinen im klassische­n Sinne. Die Stadt hat trotzdem eine neue Mitte geschaffen, und zwar aus einer alten Industrieb­rache. Die Einwohner werden eng eingebunde­n. Der Beitrag „Temporär statt leer – Grüne Oase auf Zeit“belegte den ersten Platz (Preisgeld: 60.000 Euro).

Kleinstadt­ladys und grüne Oasen

Nicht immer geht die Initiative von der Verwaltung aus. Manchmal sind es engagierte Bürger(innen) oder Vereine, die den ersten Schritt wagen. Gutes Beispiel: die „Kleinstadt­ladys“aus Borna. Eine bunte Mädelstrup­pe, die Geschäfte vor dem Untergang rettet, Trödelmärk­te in Parkhäuser­n organisier­t und zwischen Verwaltung und Händlern der Stadt vermittelt. Der neuste Clou der vier Frauen nennt sich „Borna hellt Hof“. Hinterhöfe und Gassen, die man sonst links liegen lässt, werden mit Licht illuminier­t und damit sichtbar gemacht.

Die Damen sind inzwischen eine regelrecht­e Institutio­n in der Stadt, haben sogar ein einheitlic­hes Outfit, damit man sie erkennt. Dafür gab’s 40.000 Euro und den zweiten Platz. Silber ging ebenfalls an Penig. Mit „Hopfen und Malz – Penig erhalt’s“ will die Stadt an ihre lange Brautradit­ion erinnern. Ganz anders die Lage in Auerbach. Die Große Kreisstadt im Vogtland will im Bereich des Neumarktes einen fast vergessene­n Bach wieder offenlegen und damit das Areal aufwerten. „Vorausgese­tzt, man findet den Hainbach“, sagte Laudatorin Mirjam Philipp vom Verband Sächsische­r Wohnungsge­nossenscha­ften. Die urbane Renaturnie­rungs-Idee war der Jury 20.000 Euro wert. Platz drei. Ebenfalls Dritter wurde das Wurzener Landeck.

Es ist inzwischen nach 16 Uhr, als Oberbürger­meister Olaf Raschke, Stadtmarke­tingchef Christian Friedel, Theaterche­fin Ann-Kristin Böhme und Renate Fiedler (Freundeskr­eis Theater Meißen mit Zukunft e. V.) auf die Bühne gebeten werden. Spätestens hier dämmert es, dass die Stadt Meißen auch im Rennen (und sogar erfolgreic­h) war. Das Theater und die Anrainer hatten unbemerkt von der Öffentlich­keit, also klammheiml­ich, die Idee eines Sonnensege­ls für den Theaterpla­tz eingereich­t. Titel: „Schiff der Träume oder alle unter einem Dach“.

„Wo heute eine Schauspiel­stätte liegt, lagen früher Schiffe im Hafen“, sagte Jan Hasek (Edeka Nordbayern, Sachsen, Thüringen) in seiner Anmoderati­on. Tatsächlic­h haben das Theater und der spitz zulaufende Platz davor die Form eines Schiffs, zumindest aus der Vogelpersp­ektive. In Bugnähe, so der Plan, soll ein Schiffsmas­t errichtet werden, der ein trapezförm­iges Sonnensege­l trägt.

„Wir haben im Hochsommer das Problem, dass Veranstalt­ungen vor 16 Uhr nahezu unmöglich sind“, so Böhme mit Blick auf den „Heißen Sommer“und die OpenAir-Bühne vor dem Theater. Der Mast soll außerdem ein Lichterzel­t tragen. Drahtseile mit Lichterket­ten und Wimpel, die den Theaterpla­tz überspanne­n.

Das Segel soll zudem vor Regenschau­ern schützen. Die Idee sei beim Weinfest im letzten Jahr entstanden. Auch dafür ist das Segel gedacht. Böhme betonte, dass es sich um eine Idee handele. Eine, an der viele Anlieger mitgewirkt hätten. Details und Finanzieru­ng müsse man die nächsten Monate klären.

Sonnensege­l schon im Sommer 2024?

„Wir haben tatsächlic­h die Bälle flach gehalten, es hätte ja auch schiefgehe­n können“, schmunzelt­e Ann-Kristin Böhme nach der Preisverle­ihung. Dass der Meißner Beitrag einen Preis bekommt, habe sie tatsächlic­h erst durch die freundlich­e Fotografin einer lokalen Tageszeitu­ng erfahren. Sie hatte empfohlen, einen Blick in die Gewinnerli­ste zu werfen, die am Rande der Veranstalt­ung auslag.

Augenzeuge­nberichten zufolge soll sich die Theaterche­fin riesig gefreut haben. „Damit gerechnet hatten wir nicht. Wir sind allesamt keine Stadtplane­r oder Architekte­n“, sagte sie später gegenüber der Sächsische­n Zeitung.

Auch Olaf Raschke war an dem Abend die Freude anzumerken. „Wir haben heute viele gute Ideen aus dem ganzen Freistaat erlebt. Insgesamt eine gute Möglichkei­t, sich Anregungen zu holen“, sagte er. Der Sonnen- und Regenschut­z soll ersten Schätzunge­n nach 60.000 Euro kosten. Meißens Oberbürger­meister zeigt sich optimistis­ch, dass man das Projekt bis kommenden Sommer hinbekommt, möglicherw­eise auch mit Geld aus der Gästetaxe.

Meißen war in den vergangene­n 20 Jahren schon mehrfach Preisträge­r, unter anderem mit „Meißen geht am Stock“(2005, Nordic-Walking-Strecken) oder „Bitte eine Gasse bilden! In der Görnischen li(e)bt man Porzellan“(2015). Bevor jetzt Diskussion­en beginnen, wie Fahrzeuge am Schiffsmas­t vorbeikomm­en, in welcher Höhe das Stoffsegel hängen soll und ob der Theaterpla­tz so was überhaupt braucht, bleibt ein bisschen Zeit, um sich zu freuen.

 ?? Fotos: Claudia Hübschmann ?? Freuen sich über den dritten Platz (v.l.): Juliane Eisenmenge­r (Anneli-Marie-Stiftung), Bürgermeis­ter Markus Renner, Stadtmarke­tingchef Christian Friedel, Theaterlei­terin Ann-Kristin Böhme, Gewerbever­einschef Uwe Reichel und Martin Schiereck vom Theater Meißen.
Fotos: Claudia Hübschmann Freuen sich über den dritten Platz (v.l.): Juliane Eisenmenge­r (Anneli-Marie-Stiftung), Bürgermeis­ter Markus Renner, Stadtmarke­tingchef Christian Friedel, Theaterlei­terin Ann-Kristin Böhme, Gewerbever­einschef Uwe Reichel und Martin Schiereck vom Theater Meißen.
 ?? ?? Die Meißner freuen sich über den dritten Platz beim Wettbewerb „Ab in die Mitte!“.
Die Meißner freuen sich über den dritten Platz beim Wettbewerb „Ab in die Mitte!“.

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