Ab in die Mitte: Das Meißner Geheimprojekt „Sonnensegel“
Seit 20 Jahren zeigt ein Wettbewerb, dass in sächsischen Amtsstuben nicht nur verwaltet, sondern auch gestaltet wird. Da bleiben Überraschungen nicht aus.
Am Dienstagmorgen war auf dem Theaterplatz etwas anders als sonst. Ein größerer Pavillon stand vor dem Theater. Der Schriftzug Edeka und der dazugehörige Werbeslogan waren darauf zu lesen. Hat die „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin“nun auch das Theater übernommen? „Nein“, sagte Theaterchefin AnnKristin Böhme kurze Zeit später am Telefon. „Heute ist die Preisverleihung für den Ab-in-die-Mitte-Wettbewerb bei uns im Haus“, erklärte sie weiter.
Hört, hört. (Ober-)Bürgermeister aus ganz Sachsen, Wirtschaftsminister, Regionalentwicklungsminister, Landtagsabgeordnete – alle da. Die Veranstalter hatten sich für die Jubiläumspreisverleihung im Theater eingemietet, und irgendwie vergessen, der Presse Bescheid zu sagen. Kann passieren. Es ging bloß um Ideen, um sächsische Innenstädte attraktiver zu machen und mehr Touristen anzulocken. Im Übrigen: ein tagfüllendes Programm.
Über 300.000 Euro im Topf
Was Ann-Kristin Böhme zum Zeitpunkt des Telefonats noch nicht wusste, war, dass sie Stunden später selbst auf „ihrer“Bühne stehen würde; zusammen mit dem Oberbürgermeister, dem Stadtmarketingchef und einem 20.000 Euro schweren dritten Preis. Geheimhaltung bis ganz zum Schluss ist ein Markenzeichen des Wettbewerbs, den sich schlaue Leute vor 20 Jahren einfallen lassen haben.
„Dadurch konnten in den vergangenen Jahren aus kleinen, aber feinen Ideen große Geschichten werden – man denke an die Döbelner Pferdebahn, den Casper aus Hohnstein oder das Großenhainer Sommerflair“, erklärte Regionalentwicklungsminister Thomas Schmidt. Die Co-Produktion zwischen Freistaat Sachsen und Unternehmen der Privatwirtschaft förderte bis heute über 500 Projekte im Freistaat zutage. Edeka sitzt ebenfalls im Public-PrivatPartnership-Boot, was dann die Sache mit dem Pavillon schon mal erklärt.
Der Wettbewerb verfolgt seither das Ziel, der „städtebaulichen Erneuerung neue Impulse zu verleihen und gleichzeitig mit gezielten Aktivitäten für mehr Besucher in den Zentren der Orte zu sorgen“. So steht es im Leitbild von 2004. Man könnte auch sagen, es ist ein Ideenwettbewerb, um neuen Schwung in die Innenstädte zu bringen.
Alles niederschwellig organisiert. Es geht nicht um beschlussreife Projektunterlagen mit Finanzierungsschlüsseln und bis aufs Letzte ausgefeilten Plänen. Wer die Jury überzeugt, bekommt ein Preisgeld. Es reicht in der Regel nicht für die komplette Umsetzung, sondern ist als Anschubhilfe gedacht. Dieses Jahr war besonders viel im Topf – über 300.000 Euro. 40 Kommunen gingen mit 45 Projekten ins Rennen.
Über einen großen Teil aus diesem Topf darf sich dieses Jahr die Große Kreisstadt Flöha freuen. Wie Dr. Katrin Burk, Vizepräsidentin der IHK Dresden, in ihrer Laudatio erklärte, habe die Kleinstadt im Erzgebirge bislang keinen Marktplatz gehabt, jedenfalls keinen im klassischen Sinne. Die Stadt hat trotzdem eine neue Mitte geschaffen, und zwar aus einer alten Industriebrache. Die Einwohner werden eng eingebunden. Der Beitrag „Temporär statt leer – Grüne Oase auf Zeit“belegte den ersten Platz (Preisgeld: 60.000 Euro).
Kleinstadtladys und grüne Oasen
Nicht immer geht die Initiative von der Verwaltung aus. Manchmal sind es engagierte Bürger(innen) oder Vereine, die den ersten Schritt wagen. Gutes Beispiel: die „Kleinstadtladys“aus Borna. Eine bunte Mädelstruppe, die Geschäfte vor dem Untergang rettet, Trödelmärkte in Parkhäusern organisiert und zwischen Verwaltung und Händlern der Stadt vermittelt. Der neuste Clou der vier Frauen nennt sich „Borna hellt Hof“. Hinterhöfe und Gassen, die man sonst links liegen lässt, werden mit Licht illuminiert und damit sichtbar gemacht.
Die Damen sind inzwischen eine regelrechte Institution in der Stadt, haben sogar ein einheitliches Outfit, damit man sie erkennt. Dafür gab’s 40.000 Euro und den zweiten Platz. Silber ging ebenfalls an Penig. Mit „Hopfen und Malz – Penig erhalt’s“ will die Stadt an ihre lange Brautradition erinnern. Ganz anders die Lage in Auerbach. Die Große Kreisstadt im Vogtland will im Bereich des Neumarktes einen fast vergessenen Bach wieder offenlegen und damit das Areal aufwerten. „Vorausgesetzt, man findet den Hainbach“, sagte Laudatorin Mirjam Philipp vom Verband Sächsischer Wohnungsgenossenschaften. Die urbane Renaturnierungs-Idee war der Jury 20.000 Euro wert. Platz drei. Ebenfalls Dritter wurde das Wurzener Landeck.
Es ist inzwischen nach 16 Uhr, als Oberbürgermeister Olaf Raschke, Stadtmarketingchef Christian Friedel, Theaterchefin Ann-Kristin Böhme und Renate Fiedler (Freundeskreis Theater Meißen mit Zukunft e. V.) auf die Bühne gebeten werden. Spätestens hier dämmert es, dass die Stadt Meißen auch im Rennen (und sogar erfolgreich) war. Das Theater und die Anrainer hatten unbemerkt von der Öffentlichkeit, also klammheimlich, die Idee eines Sonnensegels für den Theaterplatz eingereicht. Titel: „Schiff der Träume oder alle unter einem Dach“.
„Wo heute eine Schauspielstätte liegt, lagen früher Schiffe im Hafen“, sagte Jan Hasek (Edeka Nordbayern, Sachsen, Thüringen) in seiner Anmoderation. Tatsächlich haben das Theater und der spitz zulaufende Platz davor die Form eines Schiffs, zumindest aus der Vogelperspektive. In Bugnähe, so der Plan, soll ein Schiffsmast errichtet werden, der ein trapezförmiges Sonnensegel trägt.
„Wir haben im Hochsommer das Problem, dass Veranstaltungen vor 16 Uhr nahezu unmöglich sind“, so Böhme mit Blick auf den „Heißen Sommer“und die OpenAir-Bühne vor dem Theater. Der Mast soll außerdem ein Lichterzelt tragen. Drahtseile mit Lichterketten und Wimpel, die den Theaterplatz überspannen.
Das Segel soll zudem vor Regenschauern schützen. Die Idee sei beim Weinfest im letzten Jahr entstanden. Auch dafür ist das Segel gedacht. Böhme betonte, dass es sich um eine Idee handele. Eine, an der viele Anlieger mitgewirkt hätten. Details und Finanzierung müsse man die nächsten Monate klären.
Sonnensegel schon im Sommer 2024?
„Wir haben tatsächlich die Bälle flach gehalten, es hätte ja auch schiefgehen können“, schmunzelte Ann-Kristin Böhme nach der Preisverleihung. Dass der Meißner Beitrag einen Preis bekommt, habe sie tatsächlich erst durch die freundliche Fotografin einer lokalen Tageszeitung erfahren. Sie hatte empfohlen, einen Blick in die Gewinnerliste zu werfen, die am Rande der Veranstaltung auslag.
Augenzeugenberichten zufolge soll sich die Theaterchefin riesig gefreut haben. „Damit gerechnet hatten wir nicht. Wir sind allesamt keine Stadtplaner oder Architekten“, sagte sie später gegenüber der Sächsischen Zeitung.
Auch Olaf Raschke war an dem Abend die Freude anzumerken. „Wir haben heute viele gute Ideen aus dem ganzen Freistaat erlebt. Insgesamt eine gute Möglichkeit, sich Anregungen zu holen“, sagte er. Der Sonnen- und Regenschutz soll ersten Schätzungen nach 60.000 Euro kosten. Meißens Oberbürgermeister zeigt sich optimistisch, dass man das Projekt bis kommenden Sommer hinbekommt, möglicherweise auch mit Geld aus der Gästetaxe.
Meißen war in den vergangenen 20 Jahren schon mehrfach Preisträger, unter anderem mit „Meißen geht am Stock“(2005, Nordic-Walking-Strecken) oder „Bitte eine Gasse bilden! In der Görnischen li(e)bt man Porzellan“(2015). Bevor jetzt Diskussionen beginnen, wie Fahrzeuge am Schiffsmast vorbeikommen, in welcher Höhe das Stoffsegel hängen soll und ob der Theaterplatz so was überhaupt braucht, bleibt ein bisschen Zeit, um sich zu freuen.