Empathie, Trost und Hilfe
Eltern von Kindern und Jugendlichen, die das Essen verweigern, treffen sich regelmäßig in einer Selbsthilfegruppe in der Hafenstraße. Seit 15 Jahren schon.
40 Kilogramm. Unter Betroffenen und deren Angehörigen ist das so etwas wie ein magischer Wert. Liegt das Körpergewicht darunter, ist ein lebensbedrohlicher Zustand erreicht. Und es ist schwierig, dann einen Therapie-Platz in einer Klinik zu bekommen.
Was im allgemeinen Sprachgebrauch als Magersucht benannt und lange eher abgetan wurde, sind ernsthafte und gefährliche Erkrankungen. Das herbeigeführte Erbrechen nach dem Essen (Bulimie) oder der Verlust von Appetit und Verlangen nach Nahrung (Anorexie) sind inzwischen Gegenstand umfangreicher medizinischer Forschungen. Dass sich Ärzte verschiedener Fachrichtungen damit beschäftigen und Therapien entwickeln, ist auch dem Wirken von Angehörigen Betroffener zu verdanken.
In Meißen fanden sich Eltern zu einer Selbsthilfegruppe zusammen – und luden zu einer Infoveranstaltung am 12. November 2008 ein, erinnert sich Marianne Horns. Die frühere Gleichstellungsbeauftragte der Kreisverwaltung war durch berufliche und persönliche Kontakte mit Schicksalen von Essstörungen betroffener Menschen konfrontiert worden. Gemeinsam mit Kerstin Enders, deren Tochter infolge einer Essstörung verstorben war, brachte sie Angehörige zusammen.
Aus den anfänglich drei bis fünf Teilnehmern, die zu den zunächst 14-tägigen, später monatlichen Treffen kamen, wurden mehr als 20. In der Runde können sie über ihren Kummer reden. Darüber, wie die gesamte Familie unter der Verweigerung eines einzelnen Mitgliedes leidet. Das zeigt sich vielfältig und reicht vom genauen Betrachten der Infos auf den Lebensmittelverpackungen über ablehnendes Verhalten gegenüber anderen Familienmitgliedern bis hin zu offen ausgesprochenen suizidalen Gedanken. Ärztlicher Rat, sich etwas einfallen zu lassen, damit das Kind etwas isst, sorgt eher für Kopfschütteln. In der Selbsthilfegruppe hört sie von Erfahrungen anderer, berichtet die Mutter einer 17-Jährigen. Das habe ihr geholfen – weil sie sich nicht mehr allein mit ihrem Problem
fühlte, und weil sie Tipps und Ratschläge als ehrlich gemeint empfand.
Aus dem gesamten Landkreis und darüber hinaus kommen die Teilnehmer zu den Treffen in die Meißner Hafenstraße. Hier finden sie aufmerksame Zuhörer, auch Trost und Hilfe. Mit den Jahren sind auch persönliche Freundschaften entstanden, berichtet eine Mutter. Da könne man auch mal außerhalb der Gruppentreffs anrufen.
Ging es in den Runden zunächst um die Verbreitung von Infomaterial zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen oder Literaturund Klinik-Empfehlungen, so orientiert die Gruppe sich heute an einem Jahresplan. Thematische Vorgaben und Vorbereitung lassen dennoch Zeit und Raum, in jeder Zusammenkunft auf akute Probleme einzelner Teilnehmer einzugehen – etwa, wenn der ersehnte Klinikaufenthalt begonnen hat und Erfolge auf sich warten lassen, oder wenn sich Eltern plötzlich mit Selbstmordabsichten ihres Kindes konfrontiert sehen.
Neben Empathie, Trost und Rat für die Teilnehmer ging es auch darum, Ärzte, Lehrer und Ämter für das Thema Essstörungen zu sensibilisieren. Über verschiedene Ehrenämter und Netzwerke konnte Marianne Horns Kontakte nutzen, um einen Flyer zu erarbeiten, zu drucken und zu verteilen, der über Essstörungen informiert und der mit Adressen und Telefonnummern für Hilfesuchende versehen ist.
Das 15-jährige Bestehen der Selbsthilfegruppe war Anlass für ein besonderes Treffen. Am Donnerstagabend waren auch zwei Mütter eingeladen worden, welche die Gruppe in den vergangenen Jahren verlassen hatten, weil die Töchter „ihren Weg gefunden“hatten und nun im Leben stehen. Sehr emotional war auch der Bericht einer an der Krankheit leidenden Frau, die bis auf ein Körpergewicht von 38 Kilogramm abgemagert war. Der Neuanfang in ihrem Leben gelang durch den Freund, mit dem sie inzwischen sogar ein Kind hat.
Dass sie den Anwesenden Mut gemacht hatte, zeigte sich am Beifall.
Das Jubiläum war auch Anlass für einen Wechsel in der Leitung der Selbsthilfegruppe. Marianne Horns und Kerstin Enders übergaben den Staffelstab am Donnerstagabend an Susann Rietschel und Yvette Ryl. Beide werden die Gruppe im Sinne ihrer Vorgängerinnen weiterführen, regelmäßig zu Treffen im Soziokulturellen Zentrum Hafenstraße einladen und weiterhin dafür sorgen, dass die Essstörungen als das wahrgenommen werden, was sie sind – schlimme und lebensgefährliche Erkrankungen.
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