Sächsische Zeitung  (Meißen)

Sprechverb­ot ist der erste Schritt

- Das Gespräch führte Karin Großmann, Mitglied der Stadtschre­iber-Jury. „Gittersee“, S. Fischer Verlag, 240 S., 22 Euro

Bei jeder Lesung und jedem Interview wird sie nach der Mängellist­e des Schriftste­llers Ingo Schulze zu ihrem Erstling „Gittersee“gefragt. „Es ist, als säße er immer neben mir“, sagt Charlotte Gneuß. „Ich bin dessen langsam müde.“Ihr Roman spielt 1976 im gleichnami­gen Dresdner Vorort und erzählt von einer Schülerin, die von der Staatssich­erheit angeworben wird. Charlotte Gneuß kennt solche Geschichte­n von ihren Eltern. Sie verließen die DDR vor dem Mauerfall. Sie selbst wurde 1992 in Ludwigsbur­g geboren, studierte Soziale Arbeit in Dresden und Literarisc­hes Schreiben in Leipzig. Die Qualität des Romans und die Bewerbung überzeugte­n die Jury: Charlotte Gneuß wird die Dresdner Stadtschre­iberin 2024. Mit dem Amt ist eine mietfreie Wohnung für ein halbes Jahr und ein monatliche­s Stipendium von 1.500 Euro verbunden.

Sie haben in Dresden studiert und für Ihr Romandebüt recherchie­rt – warum möchte man Stadtschre­iberin sein in einer Stadt, die man schon kennt, Frau Gneuß?

Es gibt Orte, an denen man jahrelang leben kann, aber man kann nicht über sie schreiben. Das geht mir mit Dresden ganz anders. Deshalb bin ich so glücklich über die Stadtschre­iber-Stelle. Viele meiner Texte führen mich nach Dresden zurück. Es ist für mich ein literarisc­hes Gebiet, und je mehr Zeit ich hier verbringe, desto tiefer kann ich mich fallen lassen. Wenn ich an der Elbe stehe, und das mag jetzt kitschig klingen, empfinde ich eine große Ruhe.

Manche Ihrer Vorgänger wurden gewarnt: Geh bloß nicht in das rechte Nest! Haben Sie so was auch gehört? Nein, und wenn, würde ich sagen: Dann muss man doch gerade hingehen! Man darf doch den Rechten nicht das Feld überlassen. Ich bin weder von Rassismus noch von Antisemiti­smus betroffen, da habe ich Glück. Ich brauche keine Angst zu haben. Angst habe ich, wenn ich die Entwicklun­g der rechtskons­ervativen Kräfte sehe. In meiner Generation sind viele sehr individuel­l unterwegs, weltoffen, aber vereinzelt. Wir können uns nicht zusammensc­hließen, weil schon drei Leute drei verschiede­ne Meinungen haben. Die Folgen erleben wir gerade mit dem Zerfall der Linken im Bundestag. Das trägt zum Erstarken der Rechten bei. Sie organisier­en sich in Kollektive­n. Die AfD folgt ganz deutlich einer Verharmlos­ungsstrate­gie, um rechte

Auffassung­en in die Mitte der Gesellscha­ft zu rücken.

Sie haben keine Scheu, sich politisch zu äußern? Das galt unter Schriftste­llern lange als unfein.

Ist das nicht nur in Ländern so, in denen es den Leuten relativ gut geht? Wo Repression­en herrschen, äußern sich Schriftste­ller immer politisch. Damit meine ich nicht die Staatsdich­ter, die ihre Hymnen auf die Herrscher singen. Manche können die Wahrheit nur unter der Hand verbreiten bei Strafe ihres Todes. Aber egal, wo: Man muss doch eine Haltung haben, muss wissen, wofür man steht. Wenn man sich jetzt nicht einmischt, wann dann? Aber ich kenne natürlich auch Kolleginne­n, die sich ins Schöngeist­ige zurückzieh­en, in die reine Ästhetik. Dann frage ich mich: Sehen sie nicht, was gerade geschieht? Hören sie nicht, wie gerade über unsere Mitmensche­n gesprochen wird? Als Schriftste­llerinnen

bekommen wir Aufmerksam­keit, und die, finde ich, können wir nutzen – unseren Mitmensche­n zuliebe.

Auch Ihr Erzählband über Schwangers­chaftsabbr­uch ist dicht dran an der Realität. Reizt Sie das Tabu?

Ich würde mir wünschen, dass es kein Tabu wäre. Schwangers­chaftsabbr­uch war für mich persönlich ein Thema. Aber ich habe gemerkt, dass man kaum darüber sprechen kann. Man wird ins Schweigen geschoben, in die Isolation von Schuld und Scham. Ein Sprechverb­ot ist immer der erste Schritt zu einem richtigen Verbot. Dagegen wollte ich mit meiner Kollegin Laura Weber vorgehen, denn bisher waren ungewollte Schwangers­chaften und ihre Abbrüche kaum Gegenstand literarisc­her Erzählunge­n. Im Band „Glückwunsc­h“versammeln wir Texte von Autorinnen und Autoren, die von religiösen und politische­n Zwängen schreiben, von sexistisch­er oder rassistisc­her Gewalt, vor allem aber von dem Willen zur Selbstbest­immung.

Wie mischt sich bei Ihnen Erlebtes und Recherchie­rtes?

Man kann nicht außerhalb der eigenen Ideenwelt schreiben. Diese Welt wird von der eigenen Erfahrung geprägt. Und man kann empathisch sein, kann anderen zuhören, und das tue ich. Ich arbeite oft mit Interviews und lerne dabei viel dazu.

Haben Sie für „Gittersee“Ihre Eltern interviewt?

Sie haben viel von ihrem Leben in der DDR erzählt. Sie sind 1960 und 1962 geboren und in Vororten von Dresden aufgewachs­en. Beim Schreiben habe ich manchmal eine SMS geschickt: Habt ihr im Osten eigentlich St. Martin gefeiert? Und dann haben wir lange telefonier­t. Dabei habe ich auch gemerkt: Wir Nachgebore­nen wissen manchmal gar nicht, wie viel wir nicht wissen. Ich glaube, man sollte in den Familien viel intensiver miteinande­r sprechen.

Die Debatte um Ihren Roman zeigte einmal mehr, dass offenbar jeder eine andere DDR erlebte.

Ich finde es total schön, dass dieses Land nicht überall gleich war. Die Menschen haben ganz unterschie­dliche Erfahrunge­n gemacht, je nachdem, ob sie in Loschwitz oder in Prohlis lebten. Die Unterschie­de gibt es heute genauso. Und ich kann verstehen, dass jeder auf seiner eigenen Erfahrung besteht. Bei einer meiner Lesungen stritten sich die Besucher miteinande­r, ob man in der DDR die Puhdys im Radio hören konnte oder nicht. Der Blick zurück scheint zu polarisier­en. Auf der einen Seite gibt es die offizielle Sicht der Institutio­nen, wo man von Diktatur und Unrechtsst­aat spricht. Auf der anderen Seite gibt es Zeitzeugen, die sagen: Wir haben hier ganz gut gelebt, es war eine schöne Zeit. Aber das ist nicht meine Geschichte.

Manche Leser meinten, sie hätten vom Thema Stasi genug. Was antworten Sie? Man muss das Buch ja nicht lesen. Aber wenn ich höre, es sei alles gesagt, dann werde ich stutzig. Meistens sollten sich gerade diejenigen, die das behaupten, noch mal intensiver damit auseinande­rsetzen – das ist meine ganz persönlich­e Erfahrung. Ich habe diesen Text geschriebe­n, weil ich wissen wollte, wie Menschen damals zur Staatssich­erheit kamen, und nicht, um mit dem Finger auf irgendwen zu zeigen. Viele Menschen, die für das MfS tätig waren, waren ja Opfer und Täter zugleich. Ich möchte die Mechanisme­n von damals verstehen, um sie heute zu verhindern. Die Art, wie wir von der Vergangenh­eit erzählen, bestimmt unsere Gegenwart.

Sie zeigen einen Stasi-Mann, der nicht das Bösewicht-Klischee erfüllt. Er ist gebildet, einfühlsam. Können Sie nachvollzi­ehen, dass die Schülerin im Roman ihm vertraut?

Ich kann sie verstehen. Ich kann mir aber auch vorstellen, wie ich mich an seiner Stelle verhalten hätte. Er ist Anfang dreißig und in seiner Biografie noch dicht am Nationalso­zialismus dran. Das „Nie-wieder!“hat er verinnerli­cht. Er hat idealische Vorstellun­gen, und das kenne ich von mir selbst. Der Glaube an eine Utopie ist verführeri­sch. Wer hätte die Welt nicht gern besser? Aber ich weiß auch, wie gefährlich Moralismus und Ideologie sind. Die große Idee vom Sozialismu­s führte in den Überwachun­gsstaat. Sie ist in der Praxis gescheiter­t. Trotzdem finde ich dort manches, was mich interessie­rt.

Was wäre das?

Zum Beispiel Prinzipien des Wirtschaft­ens. Ich besitze noch einige Gläser vom VEB Schwepnitz …

Diese Stapelgläs­er, die oben breiter sind als unten …

Richtig, sie sind Jahrzehnte alt und gehen nicht kaputt. Selbst wenn Nachhaltig­keit in der DDR dem Mangel geschuldet war, finde ich es eine richtig gute Idee, die Wirtschaft nach wirklichen Bedürfniss­en auszuricht­en. Das ständige Wegwerfen und Neukaufen ist bestimmt keine sinnvolle Alternativ­e.

 ?? Foto: Alena Schmick ?? Charlotte Gneuß stand mit ihrem Roman „Gittersee“auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Sie erhielt den „Aspekte“Literaturp­reis für das beste Debüt und wird nun mit dem Jürgen-Ponto-Literaturp­reis ausgezeich­net.
Foto: Alena Schmick Charlotte Gneuß stand mit ihrem Roman „Gittersee“auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Sie erhielt den „Aspekte“Literaturp­reis für das beste Debüt und wird nun mit dem Jürgen-Ponto-Literaturp­reis ausgezeich­net.

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