Sprechverbot ist der erste Schritt
Bei jeder Lesung und jedem Interview wird sie nach der Mängelliste des Schriftstellers Ingo Schulze zu ihrem Erstling „Gittersee“gefragt. „Es ist, als säße er immer neben mir“, sagt Charlotte Gneuß. „Ich bin dessen langsam müde.“Ihr Roman spielt 1976 im gleichnamigen Dresdner Vorort und erzählt von einer Schülerin, die von der Staatssicherheit angeworben wird. Charlotte Gneuß kennt solche Geschichten von ihren Eltern. Sie verließen die DDR vor dem Mauerfall. Sie selbst wurde 1992 in Ludwigsburg geboren, studierte Soziale Arbeit in Dresden und Literarisches Schreiben in Leipzig. Die Qualität des Romans und die Bewerbung überzeugten die Jury: Charlotte Gneuß wird die Dresdner Stadtschreiberin 2024. Mit dem Amt ist eine mietfreie Wohnung für ein halbes Jahr und ein monatliches Stipendium von 1.500 Euro verbunden.
Sie haben in Dresden studiert und für Ihr Romandebüt recherchiert – warum möchte man Stadtschreiberin sein in einer Stadt, die man schon kennt, Frau Gneuß?
Es gibt Orte, an denen man jahrelang leben kann, aber man kann nicht über sie schreiben. Das geht mir mit Dresden ganz anders. Deshalb bin ich so glücklich über die Stadtschreiber-Stelle. Viele meiner Texte führen mich nach Dresden zurück. Es ist für mich ein literarisches Gebiet, und je mehr Zeit ich hier verbringe, desto tiefer kann ich mich fallen lassen. Wenn ich an der Elbe stehe, und das mag jetzt kitschig klingen, empfinde ich eine große Ruhe.
Manche Ihrer Vorgänger wurden gewarnt: Geh bloß nicht in das rechte Nest! Haben Sie so was auch gehört? Nein, und wenn, würde ich sagen: Dann muss man doch gerade hingehen! Man darf doch den Rechten nicht das Feld überlassen. Ich bin weder von Rassismus noch von Antisemitismus betroffen, da habe ich Glück. Ich brauche keine Angst zu haben. Angst habe ich, wenn ich die Entwicklung der rechtskonservativen Kräfte sehe. In meiner Generation sind viele sehr individuell unterwegs, weltoffen, aber vereinzelt. Wir können uns nicht zusammenschließen, weil schon drei Leute drei verschiedene Meinungen haben. Die Folgen erleben wir gerade mit dem Zerfall der Linken im Bundestag. Das trägt zum Erstarken der Rechten bei. Sie organisieren sich in Kollektiven. Die AfD folgt ganz deutlich einer Verharmlosungsstrategie, um rechte
Auffassungen in die Mitte der Gesellschaft zu rücken.
Sie haben keine Scheu, sich politisch zu äußern? Das galt unter Schriftstellern lange als unfein.
Ist das nicht nur in Ländern so, in denen es den Leuten relativ gut geht? Wo Repressionen herrschen, äußern sich Schriftsteller immer politisch. Damit meine ich nicht die Staatsdichter, die ihre Hymnen auf die Herrscher singen. Manche können die Wahrheit nur unter der Hand verbreiten bei Strafe ihres Todes. Aber egal, wo: Man muss doch eine Haltung haben, muss wissen, wofür man steht. Wenn man sich jetzt nicht einmischt, wann dann? Aber ich kenne natürlich auch Kolleginnen, die sich ins Schöngeistige zurückziehen, in die reine Ästhetik. Dann frage ich mich: Sehen sie nicht, was gerade geschieht? Hören sie nicht, wie gerade über unsere Mitmenschen gesprochen wird? Als Schriftstellerinnen
bekommen wir Aufmerksamkeit, und die, finde ich, können wir nutzen – unseren Mitmenschen zuliebe.
Auch Ihr Erzählband über Schwangerschaftsabbruch ist dicht dran an der Realität. Reizt Sie das Tabu?
Ich würde mir wünschen, dass es kein Tabu wäre. Schwangerschaftsabbruch war für mich persönlich ein Thema. Aber ich habe gemerkt, dass man kaum darüber sprechen kann. Man wird ins Schweigen geschoben, in die Isolation von Schuld und Scham. Ein Sprechverbot ist immer der erste Schritt zu einem richtigen Verbot. Dagegen wollte ich mit meiner Kollegin Laura Weber vorgehen, denn bisher waren ungewollte Schwangerschaften und ihre Abbrüche kaum Gegenstand literarischer Erzählungen. Im Band „Glückwunsch“versammeln wir Texte von Autorinnen und Autoren, die von religiösen und politischen Zwängen schreiben, von sexistischer oder rassistischer Gewalt, vor allem aber von dem Willen zur Selbstbestimmung.
Wie mischt sich bei Ihnen Erlebtes und Recherchiertes?
Man kann nicht außerhalb der eigenen Ideenwelt schreiben. Diese Welt wird von der eigenen Erfahrung geprägt. Und man kann empathisch sein, kann anderen zuhören, und das tue ich. Ich arbeite oft mit Interviews und lerne dabei viel dazu.
Haben Sie für „Gittersee“Ihre Eltern interviewt?
Sie haben viel von ihrem Leben in der DDR erzählt. Sie sind 1960 und 1962 geboren und in Vororten von Dresden aufgewachsen. Beim Schreiben habe ich manchmal eine SMS geschickt: Habt ihr im Osten eigentlich St. Martin gefeiert? Und dann haben wir lange telefoniert. Dabei habe ich auch gemerkt: Wir Nachgeborenen wissen manchmal gar nicht, wie viel wir nicht wissen. Ich glaube, man sollte in den Familien viel intensiver miteinander sprechen.
Die Debatte um Ihren Roman zeigte einmal mehr, dass offenbar jeder eine andere DDR erlebte.
Ich finde es total schön, dass dieses Land nicht überall gleich war. Die Menschen haben ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht, je nachdem, ob sie in Loschwitz oder in Prohlis lebten. Die Unterschiede gibt es heute genauso. Und ich kann verstehen, dass jeder auf seiner eigenen Erfahrung besteht. Bei einer meiner Lesungen stritten sich die Besucher miteinander, ob man in der DDR die Puhdys im Radio hören konnte oder nicht. Der Blick zurück scheint zu polarisieren. Auf der einen Seite gibt es die offizielle Sicht der Institutionen, wo man von Diktatur und Unrechtsstaat spricht. Auf der anderen Seite gibt es Zeitzeugen, die sagen: Wir haben hier ganz gut gelebt, es war eine schöne Zeit. Aber das ist nicht meine Geschichte.
Manche Leser meinten, sie hätten vom Thema Stasi genug. Was antworten Sie? Man muss das Buch ja nicht lesen. Aber wenn ich höre, es sei alles gesagt, dann werde ich stutzig. Meistens sollten sich gerade diejenigen, die das behaupten, noch mal intensiver damit auseinandersetzen – das ist meine ganz persönliche Erfahrung. Ich habe diesen Text geschrieben, weil ich wissen wollte, wie Menschen damals zur Staatssicherheit kamen, und nicht, um mit dem Finger auf irgendwen zu zeigen. Viele Menschen, die für das MfS tätig waren, waren ja Opfer und Täter zugleich. Ich möchte die Mechanismen von damals verstehen, um sie heute zu verhindern. Die Art, wie wir von der Vergangenheit erzählen, bestimmt unsere Gegenwart.
Sie zeigen einen Stasi-Mann, der nicht das Bösewicht-Klischee erfüllt. Er ist gebildet, einfühlsam. Können Sie nachvollziehen, dass die Schülerin im Roman ihm vertraut?
Ich kann sie verstehen. Ich kann mir aber auch vorstellen, wie ich mich an seiner Stelle verhalten hätte. Er ist Anfang dreißig und in seiner Biografie noch dicht am Nationalsozialismus dran. Das „Nie-wieder!“hat er verinnerlicht. Er hat idealische Vorstellungen, und das kenne ich von mir selbst. Der Glaube an eine Utopie ist verführerisch. Wer hätte die Welt nicht gern besser? Aber ich weiß auch, wie gefährlich Moralismus und Ideologie sind. Die große Idee vom Sozialismus führte in den Überwachungsstaat. Sie ist in der Praxis gescheitert. Trotzdem finde ich dort manches, was mich interessiert.
Was wäre das?
Zum Beispiel Prinzipien des Wirtschaftens. Ich besitze noch einige Gläser vom VEB Schwepnitz …
Diese Stapelgläser, die oben breiter sind als unten …
Richtig, sie sind Jahrzehnte alt und gehen nicht kaputt. Selbst wenn Nachhaltigkeit in der DDR dem Mangel geschuldet war, finde ich es eine richtig gute Idee, die Wirtschaft nach wirklichen Bedürfnissen auszurichten. Das ständige Wegwerfen und Neukaufen ist bestimmt keine sinnvolle Alternative.