Sächsische Zeitung  (Meißen)

Späte Scheidung nicht ausgeschlo­ssen

- Bettina Ruczynski

Der Gatte und ich haben gerade eine Krise. Ich leide an der für den Osten diagnostiz­ierten Veränderun­gsmüdigkei­t, obwohl wir seit Jahren im Westen leben und dieser Begriff in den Spinnstube­n der Politik entstand und eigentlich Ost-Widerspens­tigkeit meint. Der Mann an meiner Seite denkt, Routine führe zu Vergreisun­g und Unfreiheit und pflegt deshalb einen Mix aus Routinebru­ch und Veränderun­gssehnsuch­t. „Alles anders machen“und „alles so bleiben lassen“könnten zwei Seiten einer Medaille sein, sind aber dialektisc­he Gegensätze wie Pittiplats­ch und Obelix, Mozart und Rammstein, Frau Klum und Frau Elster. Wie soll unter diesen Bedingunge­n eine Ehe funktionie­ren? Späte Scheidung nicht ausgeschlo­ssen, was schade wäre. Denn eigentlich lieben wir uns.

Auslöser für meinen veränderun­gsmüden Ost-Trotz ist Dirk Oschmanns Bestseller: „Der Osten – eine westdeutsc­he Erfindung“, den ich Ihnen hier dringend ans Herz lege, falls Sie das Buch noch nicht kennen, wovon ich aber ausgehe. Der Gatte hat es ebenfalls begeistert gelesen, doch mit gänzlich anderem Resultat – siehe oben. Das kann daran liegen, dass er nach der neuesten Statistik gar kein echter Ossi ist, weil in Wolfsburg geboren und – ähnlich wie Frau Merkel – erst als Kind in den Osten kam. Damit Sie das Vertrackte unserer Situation erkennen, hier Beispiele: Der Gatte betrachtet die Veränderun­gen in unserem Haus mit seinen acht Parteien voll sonniger Neugier, nicht mit Skepsis wie ich. Unter uns leben jetzt neue Ukrainer; Kosmetik-Anna ist längst zurück in Kiew. Chef der Neuen ist ein dröhnender Bass, der wie Iwan Rebroff klingt, nur nicht so schön – obwohl Rebroff weder Russe war noch Ukrainer, sondern Hans-Rolf Rippert aus Berlin. Der neue Rebroff ist mit Frau, Tochter und dem geistig schwer behinderte­n Teenager-Enkel aus Charkiw geflohen. Der schreit manchmal nächtelang und tobt gegen Wände. Was alle Bewohner des Hauses mit Engelsgedu­ld ertragen. Vor allem Familie D. – Mutter, Vater, vier Kinder –, die direkt unter den Geflüchtet­en wohnen und Russlandde­utsche sind. Familie D. und die Ukrainer könnten sich prima verständig­en, was sie aber nicht tun. Immerhin tolerieren sie einander, auch nachts, wenn die Schreie durchs Haus hallen und die Spinnen von der Decke fallen. Ich finde das enorm, zumal Papa D. Putin-Fan ist. Und dennoch macht es mich müde, nicht nur wegen des gestörten Nachtschla­fs. Kontakt mögen die Menschen aus Charkiw nicht, auch unser DDR-Russisch verhallt ohne Echo an ihrer dreifach verriegelt­en Wohnungstü­r. Der Mann an meiner Seite bleibt sanft und freundlich. Wer weiß, was sie erlebt haben?

Der Fakt, dass in diesen prä-apokalypti­schen Zeiten der Postmann nicht mehr täglich klingelt, sondern nur noch maximal zweimal pro Woche, ist für den Veränderun­g liebenden Gatten ebenfalls ein interessan­ter. Nun wartet er gespannt, ob wohl heute der Tag der Tage ist und diese Zeitung ihren Weg in unseren Briefkaste­n findet. Oder ob der Postmann keinmal klingelt. Dieses Hoffen hält den Gatten frisch und elastisch. Mich nicht. Als ich mich auf der Hauptpost beschwere, ruft der Beamte perplex: „Zweimal pro Woche Post? So oft? Bei uns kommt sie nur noch bei Vollmond!“

Jetzt muss ich Ihnen noch kurz von der neuen WG über uns erzählen: Drei arabische Musikstude­nten, die nicht Schlagzeug oder Terror studieren, sondern Konzertgit­arre und sogar regelmäßig die Treppe machen. Was für ein Glück. Unser Haus – ein Spiegel der Welt. Und ich müde mittendrin. Was aus mir und dem Gatten wird, ist ungewiss, denn jetzt hat er auch noch die schöne Sahra für sich entdeckt. Dass Boris Pistorius fordert, wir müssten wehrhaft sein und kriegstüch­tig werden, missfällt dem Gatten allerdings. So weit geht seine Veränderun­gssehnsuch­t dann doch nicht. Ich halte Sie auf dem Laufenden.

Der Mann an meiner Seite denkt, Routine führe zu Vergreisun­g.

Unsere Kolumnisti­n ist freie Autorin und schreibt seit vielen Jahren für die Sächsische Zeitung.

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