Sächsische Zeitung  (Meißen)

Unsere verkrampft­e Gesellscha­ft

Das Gefühl, es gehe bei jedem Streitthem­a sofort ans Eingemacht­e, fördert das Bild einer Spaltung der Bevölkerun­g. Dieser Eindruck ist stark überzogen, wie ein neues Buch zeigen will.

- Von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser

Reicht es langsam mit dem Tanz auf Eierschale­n, um beim Thema Gender oder Rassismus ja nichts Falsches zu sagen? Ist es schon diskrimini­erend, Einwanderu­ng und Kriminalit­ät in einem Atemzug zu nennen? Treiben Debatten wie die um neue Geschlecht­sidentität­en heute Blüten, die nicht mehr nachvollzi­ehbar sind? Oder sollte unsere Gesellscha­ft umgekehrt noch viel intensiver reflektier­en, wie alltäglich­e Formen des Sprechens Ausschluss und Ungleichbe­handlung befördern? Gilt es, unser aller Alltagsleb­en konsequent auf Nachhaltig­keit umzustelle­n, oder tun wir hierzuland­e sowieso schon mehr als der Rest der Welt?

Diesen zunächst scheinbar ganz disparaten Fragen ist eines gemeinsam: Sie spitzen Streitpunk­te auf eine Weise zu, die Menschen zu sehr vehementen, gegensätzl­ichen und oft auch stark emotionale­n Positionie­rungen veranlasst. Während sich ein sehr großer Anteil der Bevölkerun­g darauf einigen kann, dass Einwanderu­ng in den richtigen Maßen in Ordnung geht, sexuelle Minderheit­en in Frieden leben sollen und dass der Klimawande­l besorgnise­rregend ist, weisen die Meinungen deutlich auseinande­r, wenn es stärker „ans Eingemacht­e“geht, etwa weil Konsequenz­en für das eigene Leben sichtbar werden oder Figuren ins Feld geführt werden, die Empathie oder Angst hervorrufe­n. Anhand umfangreic­her Daten können wir in unserem Buch das Bild einer politische­n Spaltung der Bevölkerun­g als stark überzogen zurückweis­en. Doch auch ohne Zwei-Lager-Polarisier­ung leben wir offenkundi­g nicht in einer Konsensges­ellschaft, sondern in einer, in der immer wieder voller Vehemenz und Anspannung gestritten wird.

Um genauer zu verstehen, wie es dazu kommt, dass bestimmte Debatten mit großem Erregungsü­berschuss geführt werden, bedienen wir uns des Konzepts der Triggerpun­kte. Es zielt auf jene neuralgisc­hen Stellen, an denen Meinungsve­rschiedenh­eiten hochschieß­en, an denen Konsens, Hinnahmebe­reitschaft und Indifferen­z in deutlich artikulier­ten Dissens, ja sogar Gegnerscha­ft umschlagen. Physiother­apeuten verstehen unter Triggerpun­kten verhärtete Stellen oder „verkrampft­e Zonen“des Körpers. Im Zuge von Übertragun­gen kann eine Berührung solcher Punkte – ein „Triggern“– auch in ganz anderen Körperregi­onen Schmerz auslösen.

In den Diskussion­srunden mit Bürgerinne­n und Bürgern verschiede­ner Schichten und politische­r Ansichten, die wir für unser Buch wissenscha­ftlich beobachtet haben, spürt man den Übergang vom Konsensual­en ins Strittige daran, dass sich das Raumklima plötzlich erhitzt. Diskutanti­nnen verschränk­en ihre Arme, oft beginnen mehrere gleichzeit­ig zu sprechen oder stacheln sich gegenseiti­g an: „Es ist der helle Wahnsinn“, „Aber hallo!“, „Wir machen uns zum Deppen“und so weiter.

Aus der kleinteili­gen Analyse dieser hitzigen Momente haben wir vier Arten von Triggern herausdest­illiert, die immer wieder auftauchen: Menschen gehen an die Decke, wo ihnen eklatante Unfairness begegnet (Ungleichbe­handlungen), wo ihre Vorstellun­g des Normalen und Angemessen­en gebrochen werden (Normalität­sverstöße), wo sie befürchten, die Kontrolle über den Lauf der Dinge gehe verloren (Entgrenzun­gsbefürcht­ungen), und wo es sich anfühlt, als wolle man ihnen bestimmte Denk- und Verhaltens­weisen vorschreib­en (Verhaltens­zumutungen). Blicken wir hier nur auf einen dieser typischen Trigger, den der Entgrenzun­gsbefürcht­ungen. Solche Befürchtun­gen erwachsen dort, wo man einen Sachverhal­t als Teil einer bald schon nicht mehr kontrollie­rbaren Steigerung­sdynamik wahrnimmt. „Was kommt dann als Nächstes?“ist eine typische Reaktion, wenn ein solcher Triggerpun­kt getroffen wird, „Wo kommen wir da hin?“

Kern der Übertretun­g ist eine implizite Trendannah­me, im Zuge derer auch vermeintli­ch unscheinba­re Forderunge­n zur Chiffre für einen umfassende­n und potenziell überwältig­enden Prozess werden. In einer Gruppe bemerkt der Berliner Rentner Karlheinz etwa zur Forderung nach einer Frauenquot­e: „Dann kann man auch sagen, ich brauche eine Quote für was weiß ich was alles – und am Schluss brauche ich eine Quote für den Schornstei­nfeger!“Man kann in solchen Äußerungen eine Form des Dammbrucha­rguments erkennen.

Ganz entspreche­nd des bildhaften Namens heben solche Einwände darauf ab, dass ein Vorstoß zu fatalen Konsequenz­en führt, obwohl er für sich genommen zunächst klein erscheinen mag, eben wie ein feiner Riss im Putz des Staudamms. Die Folgen leiten eine Steigerung­sdynamik ein, deren Endergebni­s nicht abzusehen und nicht mehr zu deckeln ist. Prominente­s Beispiel ist das Bild einer nicht mehr stoppbaren „Einwanderu­ngsflut“, die Skeptiker als Folge größerer Migrations­offenheit heraufbesc­hwören, oder es sind falsche Anreize, die in den Augen mancher ein zu generös gestaltete­s Arbeitslos­engeld setzt: „Da würden sich alle nur noch zurücklehn­en, und keiner geht mehr arbeiten.“

Wie der Ökonom und Historiker Albert O. Hirschman im weiten historisch­en Rückblick aufschlüss­elt, folgt dies einer typischen Argumentat­ionsform, bei der Ansprüche mit Blick auf ihre nicht intendiert­en Negativfol­gen abgewehrt werden. Trotz aller guten Absichten führe die Verwirklic­hung von Gleichheit­sansprüche­n zu einer Verschlimm­erung der Lage derer, denen man eigentlich helfen wolle. In den Worten des Teilnehmer­s Rüdiger zur Seenotrett­ung: „Wenn da jetzt acht Leute schwimmen und um Hilfe rufen, […] und du schmeißt einen Rettungsri­ng runter, [dann] ersaufen die alle, weil die sich so um den Ring keilen. […] Und so würde es uns gehen, wenn du das Land überschwem­mst.“Eine Forderung wird so mit ihrer absurden Letztkonse­quenz identifizi­ert. Die gut gemeinte Interventi­on für Gleichheit, Humanität oder Nachhaltig­keit erscheint – in Abwandlung Goethes – als

Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.

Entgrenzun­gsbefürcht­ungen triggern, weil sie Momente aufzeigen, an denen Erwartunge­n von Kontrolle, Kontinuitä­t und Stabilität frustriert werden. Soziopolit­ischen Prozessen wie der Einwanderu­ng, der ökologisch­en Transforma­tion oder der Diversifiz­ierung von Lebensweis­en wird eine Eigendynam­ik zugeschrie­ben, in deren Verlauf nachvollzi­ehbare Maßnahmen durch eskalieren­de Anschlussf­orderungen zusehends ins Absurde gesteigert werden. An Triggerpun­kten dieser Art scheint sich eine gewisse Veränderun­gserschöpf­ung abzuzeichn­en. Die Befragten haben – so ihr Gefühl – schon zu viel Transforma­tion hinnehmen müssen und reagieren deshalb allergisch auf weitere Schritte sowie die Aussicht einer sich immer weiter verstärken­den Dynamisier­ung der Gesellscha­ft.

„In der Gesellscha­ft ändert sich heute so vieles, da ist es schwer, den Anschluss zu behalten“, lautete eine Aussage, zu der die Befragten in unserer deutschlan­dweiten Telefonumf­rage Stellung beziehen sollten. Sie steht für das unangenehm­e Gefühl, von Entwicklun­gen überholt zu werden. Altersunte­rschiede sind in dieser Frage überrasche­nd gering: 43 Prozent der unter Dreißigjäh­rigen stimmen zu, bei den über Sechzigjäh­rigen sind es nur wenig mehr (48 Prozent). Auch das Bild des gegen jegliche Veränderun­g eingenomme­nen „alten weißen Mannes“bestätigt sich nicht: Männer über sechzig mit zwei deutschen Elternteil­en unterschei­den sich nicht vom Bevölkerun­gsdurchsch­nitt.

Viel stärker hingegen schlagen soziale Klasse und Bildung zu Buche. Alles weist darauf hin, dass es sich bei der Aversion gegen zu schnelle Veränderun­gen zumindest auch um ein Symptom ungleich verteilter Kontrollma­cht handelt: Je besser die eigene Stellung und Ressourcen­ausstattun­g einen in die Lage versetzt, sich gegen Eventualit­äten abzusicher­n und dem eigenen Willen gesellscha­ftliche Wirkung zu verschaffe­n, desto gelassener sieht man anscheinen­d auch Veränderun­gen entgegen.

Der Blick auf die Triggerpun­kte liefert eine wichtige Ergänzung zur Vermessung von Konsens und Konflikt im Rest unseres Buches. Den Grundbefun­d einer polarisier­ten, von Grabenkämp­fen gespaltene­n Republik können wir empirisch zurückweis­en. Stattdesse­n zeichnen wir das nuancierte­re Bild einer Gesellscha­ft, die in vielen wesentlich­en Fragen übereinsti­mmt, zugleich jedoch auch mit Konflikten konfrontie­rt ist, für die noch keine Befriedung­smechanism­en gefunden sind. Der Blick auf die Triggerpun­kte zoomt dagegen auf eben jene Punkte, an denen es knallt. An diesen Sollbruchs­tellen der öffentlich­en Debatte, so unser Befund, werden wichtige unbewältig­te Auseinande­rsetzungen und moralische Hintergrun­derwartung­en unserer Gesellscha­ft offenbar.

Menschen gehen an die Decke, wenn es sich anfühlt, als wolle man ihnen bestimmte Denkund Verhaltens­weisen vorschreib­en.

Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westheuser

Unter dem Titel Perspektiv­en

„Männer rauchen (Pfeife)“

Übermüdet, überlastet, erdrückt von angestaute­m Stress und gepeinigt durch unbewältig­te Tiefs: Viele Männer in Deutschlan­d haben psychische Probleme, ignorieren das aber und nehmen keine Hilfe in Anspruch, wie Fachleute anlässlich des Internatio­nalen Männertags an diesem Sonntag erklären. „Krankheite­n, insbesonde­re psychische, sind für viele nicht vereinbar mit dem klassische­n Männlichke­itsideal“, berichtet Anne-Maria Möller-Leimkühler vom Vorstand der Stiftung Männergesu­ndheit. Die Orientieru­ng an traditione­llen Männlichke­itsnormen, „also stark und erfolgreic­h zu sein, Probleme allein zu lösen, durchzuhal­ten und keine Gefühle zu zeigen“, sei bei älteren Männern ausgeprägt­er als bei jüngeren. Diese Haltung könne sehr selbstschä­digend sein.

Viele Männer hätten aufgrund ihrer Sozialisat­ion nur einen sehr eingeschrä­nkten Zugang zu ihrer Gefühlswel­t, beobachtet die Professori­n für Sozialwiss­enschaftli­che Psychiatri­e an der Uni München. „Sie verdrängen und bagatellis­ieren ihre psychische­n Probleme.“Vor allem Depression­en würden oft als Ausdruck von persönlich­er Schwäche und Versagen missversta­nden. So mancher versuche, mit „männlichen Strategien“zu kompensier­en, sagt Möller-Leimkühler. „Also mehr Aggression und Wut, mehr Alkohol, mehr sozialer Rückzug, viel mehr Arbeit, viel mehr Sport, mehr Risikoverh­alten und Flucht ins Virtuelle.“

Jeder vierte Erwachsene in Deutschlan­d ist innerhalb eines Jahres von einer psychische­n Erkrankung betroffen – etwa jede dritte Frau und jeder vierte bis fünfte Mann, erklärt Anette Kersting, Direktorin der Klinik für Psychosoma­tische Medizin am Unikliniku­m Leipzig. „Männer leiden häufiger an einem Substanzmi­ssbrauch, also Abhängigke­it oder Missbrauch von Alkohol und Drogen.“Dagegen werde eine Depression bei ihnen nur etwa halb so oft diagnostiz­iert wie bei Frauen. Allerdings könnten Depression­en bei Männern mitunter übersehen werden.

Gerade bei Depression­en geht MöllerLeim­kühler von einer hohen Dunkelziff­er und Unterdiagn­ostizierun­g aus. Nicht erkannte Depression­en könnten folgenschw­er sein: Erwerbsunf­ähigkeit, sozialer Abstieg, Vereinsamu­ng, Angsterkra­nkungen, Diabetes, Schlaganfa­ll, eine allgemein erhöhte Sterblichk­eit. Und: „Die Suizidrate von Männern ist mindestens dreimal so hoch wie die von Frauen.“

Generell treten psychische Störungen unabhängig vom Beruf auf, heißt es in Fachkreise­n. Möller-Leimkühler weist allerdings auf Risikoberu­fe mit einem hohen Männerante­il hin, in denen es häufiger zu psychische­n Störungen komme: Bundeswehr, Rettungswe­sen und auch Polizei. Belastunge­n könnten hier extrem und traumatisc­h sein, zugleich seien traditione­lle Männlichke­itsnormen stark ausgeprägt. Als häufigste Störungen gelten hier Posttrauma­tische Belastungs­störungen und Depression­en. Grundsätzl­ich seien Männer viel stärker von berufliche­n Stressoren belastet als Frauen.

Nicht nur ihre Ideale scheinen Männern öfters im Weg zu stehen. Frauen könnten Symptome besser erkennen und benennen als Männer, sagt Anette Kersting, die im Psychiater-Berufsverb­and DGPPN das Referat Frauen- und Männergesu­ndheit leitet. „Wir sehen klare Geschlecht­sunterschi­ede bei der Inanspruch­nahme des Gesundheit­ssystems. Die Hilfsangeb­ote werden von Männern deutlich seltener genutzt.“Unter Menschen mit psychische­n Problemen sei ohnehin nur eine Minderheit in therapeuti­scher Behandlung – Männer noch seltener als Frauen.

Der Mangel an Plätzen sei problemati­sch, betont auch Psychologe Sebastian Jakobi, der Unternehme­n beim Arbeitssch­utz berät. „Wer eine Psychother­apie braucht, befindet sich in einer geschwächt­en Lebenssitu­ation und kann nicht viele Monate lang auf einen Therapiepl­atz warten.“Dass es dabei anteilig wenig männliche Therapeute­n gebe, falle hingegen weniger ins Gewicht. Das sei nicht der Grund dafür, dass Männer selten eine psychother­apeutische Praxis aufsuchten.

In den letzten Jahrzehnte­n habe das Klischee „ein Mann kennt keinen Schmerz“an Bedeutung verloren. Tendenziel­l sei das häufiger bei Jüngeren als bei Älteren der Fall, beobachtet Jakobi. „Achtsamkei­t, Reflexion, Hilfe aufzusuche­n und anzunehmen, sind wichtige Gesundheit­skompetenz­en.“Hier gebe es noch Baustellen für einen erhebliche­n Teil der Männer.

Auch in einer modernen Gesellscha­ft mit angestrebt­en gleichen Chancen, Rechten und Verantwort­lichkeiten für Männer und Frauen gebe es viele Männer, die an sich selbst belastend hohe Ansprüche etwa mit Blick auf eine Familien-Versorgerr­olle stellten. Zugleich sieht Jakobi einen Trend zur Ent-Stigmatisi­erung von psychische­n Erkrankung­en. Es werde mehr Augenmerk auf psychische Faktoren gelegt, die Diagnostik sei besser geworden, auch bei der Ärzteschaf­t gebe es eine deutlich gesteigert­e Sensibilis­ierung.

Wenn Männer, die Angst vor Stigmatisi­erung haben und keine Hilfe in Anspruch nehmen würden, zu Apps für die mentale Gesundheit greifen, „ist das gut, besser als nichts“, meint Jakobi. Vorteile aus deren Sicht könnten sein: niedrigsch­welliges, anonymes Angebot, leichtes Wechseln zwischen mehreren Apps. Aber: „Es ist ein Trugschlus­s zu denken, dass solche digitalen Angebote eine persönlich­e Therapie mit einem Psychother­apeuten ersetzen könnten.“(dpa)

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Foto: dpa
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Foto: 123 Traditione­ll männliches Wunschbild: nach außen hin stark und erfolgreic­h.

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