Ein Wilsdruffer im Ehrengrab
Robert Hartert wurde am 2. April 2010 im Karfreitagsgefecht in Afghanistan getötet. Für die Bundeswehr war jener Tag eine Zäsur. Veteranen geht es um das Gedenken an die Gefallenen.
Auf dem hellen Stein steht nur der Vorname Robert. Frische Blumen säumen das gepflegte Grab auf dem Friedhof in Wilsdruff. Engelsfiguren, ein Licht und eine Steinkette sind darauf abgelegt. Ein Porträtfoto zeigt einen jungen Mann mit kurz geschorenen Haaren und gemustertem Kapuzenpullover. Sein Blick ist so fokussiert, als würde er jederzeit mit dem Betrachter in Verbindung treten können.
Die Grabstätte wirkt bescheiden. Auch wenn sie sich in die gerade Linie der anderen Grabsteine einreiht, ist sie doch besonders. Die letzte Ruhestätte von Robert Hartert ist eines von zwei Ehrengräbern für gefallene Bundeswehrsoldaten in Sachsen.
Sein Todestag jährt sich nun zum 14. Mal. An Bedeutung hat das Grab in den Jahren nichts eingebüßt, im Gegenteil. Das Gedenken an die Gefallenen der Bundeswehr ist aktueller denn je. Erst kürzlich fand erstmals ein Veteranenkongress statt. Es geht ihnen um Sichtbarkeit und Wertschätzung in der Gesellschaft. Das Ehrengrab von Robert Hartert steht exemplarisch dafür.
Soldaten, die sich hier in Wilsdruff einfinden, muss man den auf dem Stein fehlenden Nachnamen nicht nennen. Fast jeder Rekrut erfährt schon in der Grundausbildung vom Karfreitagsgefecht am 2. April 2010 im afghanischen Isa Khel, in dem Hartert gefallen ist. Und dass es eine Zäsur für die Bundeswehr darstellte. Es war das größte und verlustreichste Gefecht für deutsche Soldaten seit dem Zweiten Weltkrieg.
An jenem Tag fielen drei Soldaten des Fallschirmjägerbataillons 373: Hauptfeldwebel Nils Bruns, der Hauptgefreite Martin Augustyniak und der Stabsgefreite Robert Hartert.
Einigen der Soldaten, die dabei waren, fällt es noch heute schwer, davon zu berichten. Sie finden es dennoch wichtig. „Wir Soldaten waren nicht aus Reiselust am Hindukusch, sondern weil der Deutsche Bundestag es so entschieden hatte“, sagt Hauptmann a.D., Sebastian Koller, der als Pionier im Karfreitagsgefecht involviert war. Auch für die sächsische Soldatin Annika Schröder sollte es für den Rest ihres Lebens prägend sein. Sie hat im Gegensatz zu Robert Hartert überlebt und kann deshalb erzählen. „Die Namen dürfen nicht vergessen werden“, sagt die Rettungsassistentin.
Der Morgen dieses 2. April beginnt ruhig. Die Fahrzeuge, die aus dem Feldlager der Bundeswehr in der afghanischen Provinzhauptstadt Kundus rollen, wirbeln braune Staubwolken auf. Routiniert spulen die Soldaten ihren Auftrag ab. Deutsche Fallschirmjäger sichern belgische Einheiten ab, die an der Hauptstraße nach Sprengfallen suchen, die teils vergraben sind, per Druck auslösen oder auch Fernzünder haben. Sie sind die größte Gefahr für die Soldaten.
Im Laufe des Vormittags verändert sich die Situation. Die bis eben noch feiernde Dorfgemeinschaft von Isa Khel zieht sich in ihre Häuser zurück. Die Bundeswehrsoldaten lassen zur Aufklärung eine kleine Drohne aufsteigen, die jedoch abstürzt. Ein Vier-Mann-Spähtrupp des sogenannten Golf-Zugs des Fallschirmjägerbataillons will die Drohne bergen und gerät in einen Hinterhalt. Zwei Soldaten des Spähtrupps werden durch Schüsse von afghanischen Aufständischen radikal-islamischen Taliban verwundet. Die vier finden zwar Deckung an einer Baumgruppe, können aber in dem unwegsamen Gelände von den Fahrzeugen – gepanzerten Dingos – des restlichen Zuges nicht erreicht werden.
Zu den Ersten, die von den Dingos aus das Feuer in Richtung der Angreifer erwidern, gehört Robert Hartert. Der Maschinengewehrschütze geht in Stellung. Die gut ausgerüsteten und offenbar auch gut vorbereiteten Aufständischen sind jedoch in diesem Moment in der Überzahl.
Zwei Black-Hawk-Hubschrauber der USStreitkräfte fliegen zur Rettung der Verwundeten ein. Die Suche nach einem geeigneten Landeplatz wird zum taktischen Manöver. Bewusst ziehen die Piloten das Feuer der Angreifer auf sich. Am Mündungsfeuer der Waffen erkennen die deutschen Soldaten, die in flachen, aber trockenen Bewässerungsgräben Stellung bezogen haben, ihre Ziele im Gefecht.
Dann trifft ein Schuss Robert Hartert tödlich. Dass die Schwere seiner Verwundung auch mit seiner Schutzweste zu tun hat, wird erst später klar. Hartert ist der erste Gefallene an diesem Tag. Zwei weitere werden folgen.
Fast neun Stunden dauert das Gefecht. Am Ende haben die deutschen Soldaten mehr als 20.000 Schuss abgegeben. Als die Verwundeten endlich gerettet sind und der Rest des aufgeriebenen Golf-Zugs auf eine sichere Stellung wechseln will, löst eine auf dem Weg versteckte Sprengfalle aus. Die Detonation ist so stark, dass ein Krater entsteht und ein gepanzerter Dingo umhergeschleudert wird. Zwei der vier Soldaten, die neben dem Fahrzeug sichern, werden durch die Explosion getötet. Hauptfeldwebel Nils Bruns und der Hauptgefreite Martin Augustyniak. Die neun bei diesem Gefecht Verwundeten sind zum Teil bis heute gezeichnet.
Auch wenn in den vorangegangenen neun Jahren Afghanistan-Einsatz bereits 36 deutsche Soldaten bei Anschlägen und kleineren Gefechten gefallen waren, markiert dieser Tag in vielerlei Hinsicht eine Zäsur.
„Kundus, das ist für uns der Ort, an dem die Bundeswehr zum ersten Mal gekämpft hat, lernen musste zu kämpfen“, sagte dazu der spätere deutsche Verteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU). 2010 hatte dieses Amt Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) inne. Was deutsche Politiker lange Zeit vermieden, sprach er erstmals aus: dass deutsche Soldaten in Afghanistan im Kriegseinsatz waren. Die Auseinandersetzung mit Tod und Verwundung deutscher Soldaten wurde in und außerhalb der Truppe verschärft. Von der Ausrüstung der Soldaten bis zum würdigen Gedenken kamen Debatten in Gang, die bis heute andauern.
Robert Hartert hatte sich seine Schutzweste für den Einsatz privat gekauft. Die herkömmlichen Westen konnten Pistolenmunition
Wir Soldaten waren nicht aus Reiselust am Hindukusch, sondern weil es der Bundestag entschieden hat.
Sebastian Koller, Hauptmann a. D.
und Granatsplitter abhalten. Harterts hatte Keramikplatten, die auch Schutz vor Gewehrgeschossen bieten. Über die Bundeswehr konnte diese Weste zwar geordert werden, gehörte aber damals nicht zur Standartausrüstung.
Erhöhten Schutz bieten die Keramikplatten für frontalen Beschuss. Hartert und seine Kameraden wurden jedoch aus mehreren Richtungen angegriffen. Ein Geschoss traf ihn von der Seite im Schulterbereich. Es prallte von der Innenseite der Schutzplatten ab und traf Hartert sozusagen mehrfach. Jede Rettung kam zu spät.
In der Schießausbildung jedes Bundeswehrsoldaten wird mittlerweile nicht nur auf dieses Beispiel verwiesen, sondern auch die angepasste Schießhaltung trainiert. Dass die Ausrüstung der Bundeswehr im Kleinen wie bei Großgeräten mangelhaft war, wurde nach der Erfahrung des Karfreitagsgefechts jedoch nur an einigen Stellen korrigiert. So wurden danach beispielsweise fünf Panzerhaubitzen nach Afghanistan verlegt. Sie hätten mit ihrer Reichweite und Schussgenauigkeit sogar vom Feldlager Kundus aus im Gefecht in Isa Khel eingreifen können.
Woran es bis zum Schluss des Einsatzes der Bundeswehr haperte, macht eine Auswertung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags deutlich. In der nach dem Abzug 2021 entstandenen Ausarbeitung heißt es etwa, „dass sich Ausrüstungsmängel bitter rächen“. Zeitweise seien alle Kampfhubschrauber vom Typ Eurocopter Tiger beziehungsweise alle Transporthubschrauber vom Typ NH90 mit Flugverbot belegt gewesen. Auch beim Karfreitagsgefecht stand keiner zur Verfügung. Nur das Eingreifen von US-Hubschrauberpiloten sicherte dort die schnellstmögliche Rettung der Verletzten.
Welche herausragende Bedeutung jenes Gefecht, in dem auch Robert Hartert gefallen ist, für die Bundeswehr hatte, wird bei Ehrungen und Gedenken immer wieder deutlich. Die Auslandseinsätze nahmen derart an Gefährlichkeit zu, dass 2009 vom damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) eine Auszeichnung explizit für Tapferkeit gestiftet wurde. Sechs Soldaten allein aus dem Karfreitagsgefecht erhielten am 29. November 2010 das Ehrenkreuz für Tapferkeit, die nunmehr höchste Auszeichnung der Bundeswehr. Zuvor waren es insgesamt nur sieben gewesen, bis heute sind es lediglich 30. Erstmals wurde die höchste Auszeichnung posthum verliehen – an Robert Hartert und Martin Kadir Augustyniak.
In der Begründung hieß es, Hartert habe als Maschinengewehrschütze mit außergewöhnlicher Tapferkeit an vorderster Linie gekämpft. Seine selbstständige, kontinuierliche Feuerunterstützung habe einen wesentlichen Beitrag zur Bergung eines verwundeten Kameraden aus sehr schwieriger Lage geleistet.
Gefallene der Weltkriege genießen laut internationaler Übereinkunft dauerhaftes Ruherecht auf Soldatenfriedhöfen. Für Bundeswehrsoldaten galt das lange Zeit nicht. Erst 2009 wurde es im Bestattungsgesetz geändert. Auf dieser Grundlage ist Robert Harterts letzte Ruhestätte auf dem Friedhof in Wilsdruff seit 2011 ein Ehrengrab für einen gefallenen Bundeswehrsoldaten. „Robert war Soldat mit Leib und Seele“, sagt seine Mutter. Die Angehörigen müssen der Einrichtung eines Ehrengrabs zustimmen.
Robert Hartert starb mit nur 25 Jahren. Er war ein leidenschaftlicher Dynamo-Fan gewesen, hatte selbst Fußball bei Motor Wilsdruff gespielt, Kraft- und Kampfsport betrieben. Er hinterließ seine Eltern, einen Bruder und seine Freundin.
Oft wird sein Grab von Soldaten in der Ausbildung besucht. Die Kriegsgräberfürsorge organisiert dort Gedenkveranstaltungen. Die Stadt Wilsdruff legt jedes Jahr einen Kranz zum Todestag nieder. Selbst wenn sie ihn nicht persönlich kannten, besuchen auch viele Veteranen Harterts Grab. Nils Bruns (35) stammt aus der Region Göttingen, Martin Kadir Augustyniak (28) aus Bielefeld. Auch dort gibt es Ehrungen.
Seit Jahren kämpfen Veteranen dafür, die Leistung von Soldaten in der Gesellschaft sichtbarer zu machen, ihnen mehr Ehre und Wertschätzung zu geben. Auf Einladung des Bundeswehrverbands fand im Februar der erste Veteranentag statt, an dem auch einige Bundestagsabgeordnete teilnahmen. Im Grundsatz ist sich die Politik einig, dass Soldatinnen und Soldaten alljährlich mit einem Veteranentag geehrt werden sollen, wie es in vielen anderen Ländern üblich ist. Doch das genaue Datum ist weiter strittig. Nach letztem Stand soll es einem Bericht des Spiegel zufolge der 15. Juni werden.
Bis zu einer Entscheidung bleibt für viele Veteranen der Karfreitag beziehungsweise der 2. April der Tag des Gedenkens an gefallene Bundeswehrsoldaten – wegen des Gefechts in Isa Khel. An zahlreichen Orten treffen sie sich auch in diesem Jahr am vergangenen und am kommenden Wochenende zum sogenannten „14K3-Spendenmarsch“, so etwa in Riesa, Beiersdorf, Kodersdorf, Stützengrün und Breitenbrunn. 14K3, das steht für 14 Jahre nach dem Karfreitagsgefecht mit 3 Gefallenen. Marschiert wird eine 14-Kilometer-Strecke mit 14 Kilogramm Gepäck.
„Die K-Märsche haben sich in wenigen Jahren zu einem festen Bestandteil deutscher Veteranenkultur entwickelt“, sagt Oberstleutnant i.G. Marcel Bohnert, stellvertretender Vorsitzender des Bundeswehrverbands. Im vergangenen Jahr nahmen beim „13K3“bundesweit mehr als 10.000 Menschen teil. Dieses Jahr werden noch mehr erwartet. Der Erlös geht an den Verein „Angriff auf die Seele“, der sich um psychosoziale Hilfe für Angehörige der Bundeswehr kümmert.
Ein solcher Marsch fand am Sonnabend auch im nordsächsischen Schönwölkau statt. Initiiert hatte ihn die Sanitäterin Annika Schröder, die beim Abtransport von Robert Hartert am 2. April 2010 in Isa Khel geholfen hatte. Mehr zu ihr im 2. Teil unsere Serie in der morgigen Ausgabe.