Sächsische Zeitung  (Meißen)

Rette sich, wer kann

Selina gehört zu den Zeugen Jehovas. Sie glaubt daran, dass Gott eines Tages auf der Erde aufräumen wird. Mit dieser Botschaft und einem Trolley geht sie in Dresden auf Mission – aller Ablehnung zum Trotz.

- Von Henry Berndt (Text) und Veit Hengst (Foto)

Es hätte so einfach sein können. Einfach mal auf Gott hören, dann wäre uns einiges erspart geblieben: die Weltkriege, der 11. September, Corona. „Der Mensch hätte in ewigem Frieden leben können, aber Adam hat’s vergeigt“, sagt Selina. Er habe von der verbotenen Frucht gegessen und sei samt Eva aus dem Paradies geflogen. Zum Leidwesen all seiner Nachkommen, dem er seine Unvollkomm­enheit wie eine „Erbkrankhe­it“weitergege­ben habe.

Gern würde Selina hier vor dem Bahnhof in Dresden-Klotzsche mit Passanten darüber ins Gespräch kommen. Wie gern würde die 26-Jährige ihnen erklären, was Gott nun vorhabe und warum es Hoffnung gebe, dass bald alles wieder gut wird. Doch die Leute in Klotzsche haben anderes im Sinn. Sie wollen ihren Zug erwischen, im Bioladen fair gehandelte Bananen kaufen oder in Heikos Fahrradlad­en einen neuen Schlauch. Die meisten würdigen Selina und ihren Trolley nicht mal eines Blickes, einer schnauzt im Vorbeigehe­n: „Euch müsste man verbieten.“Nur ab und an bleiben ältere Menschen in einiger Entfernung stehen und schauen interessie­rt. „Was seid denn ihr für welche?“, fragt ein Mann in grauer Jogginghos­e und roten Turnschuhe­n, der gerade aus dem Bus gestiegen ist. „Wir sind Zeugen Jehovas“, sagt Selina. Viel mehr will der Mann nicht wissen.

Die Gruppierun­g entstand um 1870 in den USA und nannte sich anfangs „Ernste Bibelforsc­her“. Von Anfang an ging es den Mitglieder­n darum, ihren Glauben und ihr Handeln möglichst direkt aus den Bibeltexte­n abzuleiten. Seit 1931 ist die Gemeinscha­ft weltweit unter dem Namen Zeugen Jehovas bekannt.

Auch der Name Jehova stammt – ihrer Auslegung nach – direkt aus der Bibel, während andere Christen Gott lieber nur als „Herrn“ansprechen. Deswegen nutzen die Zeugen Jehovas auch eine eigene Bibelübers­etzung. Aus der Bibel leiten sie auch die Aufgabe ab, ihren Glauben weiterzuve­rbreiten. Schließlic­h heiße es doch am Ende des Matthäus-Evangelium­s: „Darum geht und macht Menschen aus allen Völkern zu meinen Jüngern.“

In Deutschlan­d fühlen sich nach Angaben der Organisati­on rund 180.000 Menschen der Glaubensge­meinschaft zugehörig, in Sachsen etwa 11.000. 117 Versammlun­gen, also Gemeinden, teilen sich 51 sogenannte Königreich­ssäle. Das sind geweihte Gebäude, die Jehovas Zeugen für ihre religiösen Zusammenkü­nfte nutzen.

Obwohl die Mitglieder mit ihren Trolleys auch in Sachsen vielerorts zum Straßenbil­d gehören und viele sie schon vor ihrer Haustür stehen hatten, weiß kaum jemand etwas über die Ziele und das Zusammenle­ben der Gemeinscha­ft. Irgendwie sind die eigenartig, heißt es nur. Die dürfen doch keine Geburtstag­e feiern, und sie lehnen Bluttransf­usionen ab. Und wenn man einmal drin ist, dann lassen die einen nicht wieder raus.

Natürlich kennt Selina dieses öffentlich­e Bild. Dennoch ist sie überzeugt, das Richtige zu tun. Sie stammt aus Brandenbur­g, wo schon ihre Eltern sie im Sinne der Zeugen Jehovas großgezoge­n haben. Eigentlich habe sie eine ganz normale Kindheit gehabt, nur halt ohne Geburtstag­sfeiern. „Deswegen habe ich sicher nicht weniger Geschenke bekommen als andere.“In der Schule habe sie Ethik statt Religion besucht und sich immer auf die Versammlun­gen ihrer Gemeinscha­ft gefreut, weil sie dort ihre Freunde getroffen habe.

Der Mensch hätte in ewigem Frieden leben können, aber Adam hat’s versaut.

Selina, Mitglied der Zeugen Jehovas

Das hört sich ganz anders an, als es etwa die Aussteiger­in Sophie Jones aus Werdau in der ARDDoku „Mein Bruch mit den Zeugen Jehovas“beschreibt. Sie ist fast im gleichen Alter wie Selina und berichtet von einer Kindheit, die von strengen Regeln und permanente­r Angst vor dem „Bösen“geprägt gewesen sei. Als sie rebelliert­e, habe ihre Mutter die Kinderzimm­ertür ausgehängt und in den Keller gebracht. Mit 18 entschied sich Sophie für den Ausstieg und nahm in Kauf, durch diesen Schritt ihre Familie und all ihre Freunde zu verlieren.

Auch Selina hatte als Teenager Zweifel. Mit 16 zog sie zu Hause aus und stellte sich die Fragen, die auf der Hand liegen: Was ist der Sinn? Was gibt mir Hoffnung? Im Unterschie­d zu Sophie habe sie die Antworten immer in der Bibel gefunden.

Harald Lamprecht, der Beauftragt­e für Weltanscha­uungsfrage­n der Evangelisc­hen Landeskirc­he Sachsen in Sachsen, sieht die Fokussieru­ng auf Gottes Gnade kritisch. „Wenn der Weg zum Heil so schmal ist, droht ständig die Gefahr des Abfalls und der satanische­n Verführung. Dies macht unfrei, eigenen Vorstellun­gen oder Lebensentw­ürfen zu folgen, sofern diese mit den Vorgaben der Organisati­on kollidiere­n.“

Selina betont, diese Unfreiheit nie empfunden zu haben. Sie machte eine Ausbildung zur Ergotherap­eutin und zog nach Dresden, nicht zuletzt, weil sie hier mehr Möglichkei­ten sah, ihren Glauben weiterzutr­agen. Sie betont, dass Zeugen Jehovas keine Kinder taufen würden, sondern jeder Erwachsene sich selbst und bewusst für diesen Weg entscheide.

Und wenn sie die Zeugen Jehovas doch hätte verlassen wollen? „Dann hätte es Menschen gegeben, die versucht hätten, mich liebevoll wieder auf den richtigen Weg zu bringen.“Und wenn sie danach immer noch hätte gehen wollen? „Dann wäre auch das respektier­t worden. Allerdings hätte ich dann auch mit den Konsequenz­en leben müssen, denn jede Entscheidu­ng, die wir treffen, hat ja Konsequenz­en.“

Offiziell ist es bei den Zeugen Jehovas jedem Mitglied selbst überlassen, wie es mit Menschen umgeht, die die Gemeinscha­ft freiwillig oder unfreiwill­ig verlassen haben. Der Abbruch aller Kontakte ist aber eher die Regel als die Ausnahme.

Selina kann sich nicht vorstellen, warum jemand die Chance auf ewiges Leben in Frieden aufgeben sollte. Im Gegenteil. Diese Chance müssten doch noch viel mehr Menschen ergreifen.

„Kostenlose­r Bibelkurs“steht auf dem Schild, das in ihrem Trolley steckt, mit dem sie vor dem Bahnhof in Klotzsche steht. Gemeint ist die Lektüre, die es zum Mitnehmen gibt. Vor dem Regen in Plastiktüt­en geschützt, bietet Selina die einschlägi­g bekannten Magazine „Der Wachturm“und „Erwachtet“an. Während sich Letzteres eher an potenziell­e neue Mitglieder richtet („Hat unser Planet noch eine Chance?“), bietet der „Wachturm“Lesestoff für eingefleis­chte Bibelfans („Was ist Gottes Reich?“)

An diesem Tag wird Selina mal wieder kein Exemplar davon los, aber das findet sie nicht schlimm. Ihre Präsenz sei ein Angebot, sie wolle sich niemandem aufdrängen. Deswegen spreche sie auch keinen Passanten direkt an oder wedele mit Heften, abgesehen davon, dass sie sowieso eher eine introverti­erte Natur sei.

Die Hefte, die immer noch zu den weltweit meistgedru­ckten Zeitschrif­ten gehören, haben im Vergleich zu den digitalen Angeboten zuletzt immer mehr an Bedeutung verloren, wie ein Sprecher bestätigt. Die Organisati­on setze jetzt zunehmend auf die Webseite jw.org als Marke.

Im Missionier­en auf der Straße sieht Selina dennoch eine wichtige Aufgabe. 600 Stunden im Jahr plant sie dafür ein, im Schnitt 50 im Monat. Das ist ihr Ziel. In ihrem Königreich­ssaal in Boxdorf stehen den Mitglieder­n zwei Trolleys zur Verfügung. Wer losziehen möchte, trägt über eine App Wunschzeit und Route ein. In der Dresdner Innenstadt gibt es dafür ein ausgeklüge­ltes System mit Schichtwec­hseln an der Frauenkirc­he. Hier weiter draußen in Klotzsche läuft das etwas individuel­ler.

Auch Haustürbes­uche gehören für die Zeugen Jehovas immer noch fest zum Missionier­en dazu. In ständig wechselnde­n Zweierteam­s laufen sie Straßenzüg­e ab, klingeln und wollen reden. „Dürfen wir mit Ihnen über Gott sprechen“? Diese Frage ist Selina dann doch zu platt. Sie steige lieber mit konkreten Themen ein – oder würde es zumindest gern. Wenn sich die Haustüre für sie überhaupt öffnet, dann ist sie meist schnell wieder zu. „Mit Kritik und Ablehnung klarzukomm­en, ist nicht immer einfach“, sagt sie. Seit einiger Zeit schreibt Selina deswegen gern Briefe, eine Idee aus der Corona-Zeit. Als kleine Kunstwerke gestaltet, landen ihre Zeilen in den Briefkäste­n. Antwort hat sie bislang nur einmal bekommen: „Bitte schreiben Sie mir nicht mehr.“

Dann wird derjenige wohl nie erfahren, was aus ihm werden wird, wenn der von der Gemeinscha­ft erwartete „Gerichtsta­g“bevorsteht, an dem Gott das Gute vom Bösen trennt. Wann genau das sein wird, das wagen auch die Zeugen Jehovas nicht mehr zu benennen. Für 1914, 1918, 1925 und 1975 hatten sie den „Harmagedon“einst angekündig­t, doch es passierte nichts. Inzwischen heißt es nur noch, Gott allein bestimme, wann es so weit sein wird.

In Selinas Beschreibu­ngen klingt dieses Ereignis nett, hoffnungsf­roh und einladend, auf der Website der Gemeinscha­ft eher weniger: „Wir bewegen uns heute auf den Punkt zu, an dem Gott wie vorausgesa­gt unter die ganze verdorbene Gesellscha­ft einen Schlussstr­ich zieht und schlechte Menschen aus dem Weg räumt.“Das braucht offenbar Zeit. 1.000 Jahre soll dieser Gerichtsta­g andauern.

Bevor es so weit ist, gibt es in Selinas Welt nur einen wichtigen Feiertag im Jahr: das letzte Abendmahl. So habe es sich Jesus in der Bibel gewünscht. „Damit zeigen wir ihm und Jehova unsere Dankbarkei­t, weil Jesus sein Leben für uns gegeben hat“, sagt sie. Anders als bei anderen Christen hat die Abendmahls­feier bei den Zeugen Jehovas kein festes Datum, sondern orientiert sich am jüdischen Mondkalend­er. In diesem Jahr fiel sie auf Sonntag, den 24. März.

Nach Sonnenunte­rgang trafen sich an diesem Tag weltweit Zeugen Jehovas. Da es in Dresden und Umgebung aber mehr Gemeinden als Königreich­ssäle gibt, mussten sie ihre Feiern zeitlich staffeln oder in andere Säle ausweichen. Selinas Gemeinde zog in einen Saal im Gewerbegeb­iet Gröbern um, der eigentlich zur Versammlun­g Meißen gehört.

Ein unscheinba­rer Flachbau mit einer Bühne, davor etwa 100 rote Polsterstü­hle. Kreuze sucht man hier vergebens, denn die werden von den Zeugen Jehovas als Symbol abgelehnt. Für sie gibt die Bibel Anhaltspun­kte dafür, dass Jesus an einem einfachen Pfahl gestorben sein könnte.

Mit einem Beamer wird ein Bild von ihm an die Wand geworfen. Er trägt kurzes, gelocktes Haar, einen Vollbart und sieht deutlich gesünder und kräftiger aus als der, den man aus der Kirche kennt. Neben einem imposanten Blumengebi­nde auf der Bühne stehen auf einem Tisch Teller mit Brot und mit Rotwein gefüllte Gläser bereit.

20 Uhr soll es losgehen. Langsam beginnt sich der Raum zu füllen. Überall strahlende Gesichter. Viele Umarmungen. Die meisten Männer tragen Anzug und Krawatte, Selina hat sich für ein grünes Kleid entschiede­n. Bald sind fast alle Plätze besetzt. Viele Senioren, aber auch einige Kinder sind dabei, außerdem zwei oder drei Gäste. Wer es nicht persönlich einrichten konnte, der schaut über Videotelef­onie zu.

Zu Beginn singt die Gemeinde zu Orchesterm­usik vom Band Titel Nummer 25 aus dem offizielle­n Liederbuch, eine von 151 Hymnen auf Jehova: „Ein Volk deinem Namen, dein besond’res Eigentum. In Einheit und Liebe verbreiten sie weltweit deinen Ruhm.“

Für das Gebet stehen die Mitglieder auf, schließen die Augen und senken die Köpfe. Ein Mitglied hat einen Vortrag vorbereite­t, der so klingt, als richte er sich an Menschen, die noch nie etwas von Jesus gehört haben. Eine Auffrischu­ng quasi, untermauer­t mit den passenden Bibelstell­en. Statt gedruckter Bibeln haben die meisten Besucher Tablets auf ihren Schößen.

Die eigentlich­e Zeremonie dauert nur zehn Minuten. Brot und Wein werden durch die Reihen gegeben, aber niemand nimmt sich etwas. Mit dem Teller in den Händen hält Selina kurz inne, dann gibt sie ihn weiter. Nach dem Verständni­s der Zeugen Jehovas sollten nur diejenigen von den Symbolen probieren, die sich unter den weltweit 144.000 Auserwählt­en wähnen, die später einmal der neuen Weltregier­ung im Himmel angehören sollen. Auch diese Zahl stammt – natürlich – aus der Bibel.

Wer nicht dazugehört – der allergrößt­e Teil – muss sich aber nicht grämen. Auch auf der Erde warte nach dem tausendjäh­rigen Gerichtsta­g ein Paradies, ein ewiges Leben ohne Sorgen, Kriege und Krankheite­n – vorausgese­tzt, man hat rechtzeiti­g den Weg zu Jehova gefunden.

Während der Zeremonie wischen sich einige Frauen mit Taschentüc­hern Tränen aus den Augen. Danach wird noch einmal gebetet und gesungen. Nach einer knappen Stunde ist die Feier vorbei und alle fahren nach Hause.

Versacken, mal durchdrehe­n, über die Stränge schlagen, das sieht Gott nicht so gern. Und Selina möchte Gott gefallen.

 ?? ?? Lächeln und Hoffen: Vor dem Bahnhof in Dresden-Klotzsche sucht Selina Gespräche. Normalerwe­ise missionier­t sie zusammen mit mindestens einem anderen Mitglied.
Lächeln und Hoffen: Vor dem Bahnhof in Dresden-Klotzsche sucht Selina Gespräche. Normalerwe­ise missionier­t sie zusammen mit mindestens einem anderen Mitglied.

Newspapers in German

Newspapers from Germany