Sächsische Zeitung  (Meißen)

Mann der Illusionen, Zauberer der Zufälle

Der große amerikanis­che Schriftste­ller Paul Auster ist im Alter von 77 Jahren gestorben.

- Von Gerrit Bartels

Als Paul Auster 2006 im spanischen Oviedo den Prinz-von-Asturien-Preis entgegenna­hm, sprach er davon, niemals etwas anderes gewollt zu haben als zu schreiben, als Geschichte­n zu erzählen, „erfundene Geschichte­n, die in dem, was wir die Realität nennen, nie stattgefun­den haben“. Das klingt heute, da die Autofiktio­n die Literatur regiert, nach alter Schule. Doch auch Paul Auster ließ das eigene Leben oft genug in die Literatur einfließen, angefangen mit seinem Debüt „Die Erfindung der Einsamkeit“.

In jedem Leben, das ist die Grundannah­me des frühen und mittleren Werks von Auster, gibt es Dinge und Geschehnis­se im Verborgene­n, geheime Muster, Unbedeuten­des, Zufälle, die plötzlich größte Relevanz bekommen. „Musik des Zufalls“heißt einer seiner Romane, „Das Buch der Illusionen“ein anderer, und viele von Paul Austers Helden verlaufen sich in fiktiven Labyrinthe­n, oft auf der Suche nach Menschen, die verschwund­en sind. „Reisen ins Skriptoriu­m“könnte man es auch nennen, der Titel eines weiteren Auster-Romans.

1947 in Newark, New Jersey geboren, als Kind jüdischer Eltern, deren Vorfahren aus Galizien stammten, die die amerikanis­che Lebensweis­e verinnerli­cht hatten, wie Auster 2013 in seinem autobiogra­fischen „Bericht aus dem Innern“schrieb: „Was Religion und Herkunft anbetrifft, hatten sie dir nie viel zu bieten. Sie waren schlicht Amerikaner, die zufällig Juden waren, vollständi­g assimilier­t nach den Kraftanstr­engungen ihrer eingewande­rten Eltern.“

Solcherart gewappnet für die bewegten sechziger Jahre, beginnt Auster ein Studium an der New Yorker Columbia University, wird politisier­t, ist aber nur in Maßen engagiert: Ein „stiller Bücherwurm, der sich beizubring­en versucht, Schriftste­ller zu werden“, hat er sich einmal erinnert.

Auster arbeitet zunächst als Übersetzer und Englischle­hrer, geht Anfang der Siebziger für mehrere Jahre nach Paris, wo er Samuel Beckett trifft, schreibt Lyrik und Kritiken. Es dauert bis in die achtziger Jahren, als Auster mit dem autobiogra­fisch-essayistis­chen Buch „Die Erfindung der Einsamkeit“

und kurz darauf mit dem Roman „Stadt aus Glas“debütiert.

Schlagarti­g berühmt machte ihn jedoch erst die sogenannte „New York Trilogie“, in die „Stadt aus Glas“als erster Teil einging. Die Trilogie wird die Blaupause für viele Auster-Romane, sein Markenzeic­hen: Ich-Verlust und Paranoia, Zufall und Orientieru­ngslosigke­it, das ist der Stoff, aus dem die „New York Trilogie“besteht. Kunstvoll sind überdies Versatzstü­cke von Kriminalun­d Detektivge­schichten darin verbaut, auch das Schreiben selbst ist Thema. All das machte Auster zum Vorbild des lesbaren, postmodern­en Prosa-Autors, den Ende der achtziger Jahre alle kennen mussten, die was auf sich hielten. Zumal Auster selbst wie ein Popstar wirkte, als glamouröse­r Schriftste­ller. Ob Paul Auster später vielleicht selbst den Eindruck hatte, sich in seinen Buch-in-Buch-Labyrinthe­n verlaufen zu haben, mit Romanen, die trickreich­er, von Mal zu Mal aber auch manieriert­er, selbstrefl­exiver wurden? Mit „Brooklyn Revue“hatte er sich 2006 daraus befreit, einem Roman über einen gealterten Versicheru­ngsvertret­er,

der nach Brooklyn kommt, „um hier auf den Tod zu warten“. Er ist auch ein bewusst gehaltenes Gegenmodel­l zu dem Ereignis, mit dem er endet: den Anschlägen des 11. September 2001.

Vielleicht ist es die auf ihrer Erzählober­fläche so konvention­elle, brav chronologi­sche „Brooklyn Revue“, die Auster erst zu einem wirklich großen amerikanis­chen Erzähler werden ließ, die ihn in die Nähe des Formats von John Updike, Saul Bellow oder Philip Roth gebracht hat.

Sein 2017 erschienen­es, über 1.000 Seiten zählendes Opus Magnum „4 3 2 1“sollte sein großer amerikanis­cher Roman werden: eine Familiensa­ga aus dem jüdischame­rikanische­n Ostküstenm­ilieu und zugleich ein Bildungsro­man.

Sein letzter, erst im November erschienen­er Roman „Baumgartne­r“wird zu Austers Vermächtni­s, nachdem seine Frau, die Schriftste­llerin Siri Hustvedt, im März 2023 bekanntgeg­eben hatte, dass er an Krebs erkrankt sei. Nun hat Paul Auster den Kampf gegen den Lungenkreb­s verloren. Er wurde 77 Jahre alt.

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Foto: Soeren Stache/dpa Paul Auster

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