Im Fantasieland der Germaniten
Eine in Sachsen bislang weitgehend unbekannte „Reichsbürger“-Gruppe plant einen Parallelstaat nach selbst definierten ethnischen Kriterien. Im Erzgebirge hat sie bereits ein ehemaliges Hotel gekauft. Nun versucht sie auch, neue Mitglieder zu rekrutieren.
Es ist ein kalter Wintertag nördlich von Dresden. In einem Dorf an der Elbe schlängelt sich die Straße vorbei an gepflegten Wohnhäusern. Etwas abseits, auf einem Landwirtschaftsweg, hält ein weißes Auto. Leute steigen aus. Sie wollen das letzte Stück lieber laufen, unauffällig bleiben. Andere halten direkt auf dem Gelände eines Vierseitenhofes. Im Torbogen steht die Jahreszahl 1817, am Briefkasten ein Aufkleber der Partei „Die Basis“, in der sich viele Querdenker tummeln.
Die Menschen, die sich hier versammeln, folgen einer Einladung einer Gruppierung, die sich „Indigenes Volk Germaniten“nennt. Die Veranstaltung ist konspirativ, erst wenige Stunden vor Beginn wurde der Ort des Treffens bekannt gegeben und als Handynachricht verschickt – an Interessenten, die sich per E-Mail angemeldet hatten. Es ist nicht das erste Treffen dieser Art in Sachsen. Wenige Wochen zuvor hat die Gruppierung bereits in Dresden mobilisiert, auch damals lief die Kommunikation über verborgene Chatgruppen. Die Organisatoren scheuen die Öffentlichkeit, sie sind vorsichtig.
Im Versammlungsraum des Vierseitenhofs prasselt ein Feuer im Ofen, es riecht nach Kaffee. Nach und nach treffen die Teilnehmer der geheimen Versammlung ein. Um die 20 Frauen und Männer werden es am Ende sein, die meisten sind zwischen 50 und 60 Jahre alt. Man wechselt freundliche Worte, einige haben Kuchen mitgebracht. Das Treffen erinnert an eine Familienfeier. Worum es an dem Abend tatsächlich geht: Eine extremistische Organisation, die mitten in der Bundesrepublik Deutschland einen germanischen Parallelstaat nach selbst definierten ethnischen Kriterien aufbauen will, sucht neue Mitglieder. Ein Reporter der Chemnitzer Freien Presse ist beim Treffen dabei – verdeckt.
Die Vereinigung „Indigenes Volk Germaniten“stammt aus Baden-Württemberg. Um das Jahr 2010 soll die Gruppierung nach Angaben von Verfassungsschützern entstanden sein. Als Gründerin gilt Ulrike Maria K. aus Schorndorf, einer Kleinstadt eine halbe Autostunde östlich von Stuttgart. Das Bundesamt für Verfassungsschutz beschreibt den Personenzusammenschluss als eine bundesweit aktive „Reichsbürger“-Gruppierung, die bereits seit 2011 mit typischen Schreiben und Eingaben an Behörden wie auch an internationale Organisationen auf sich aufmerksam macht.
„Anhänger der Gruppierung erkennen die Bundesrepublik Deutschland nicht als souveränen Staat an und lehnen daher bundesdeutsche Ausweisdokumente als rechtswidrig ab“, erläutert der Bundesverfassungsschutz in einer Publikation über sogenannte Reichsbürger und Selbstverwalter aus dem Jahr 2023. Weiter heißt es dort über die Germaniten: „Die Ausübung der Staatsgewalt sehen sie als Verstoß gegen geltendes Besatzungsrecht und sehen sich folglich in der Pflicht, dagegen Widerstand zu leisten.“Die Anhänger der Organisation bezeichneten sich als „Nachkommen der germanischen Völker/Stämme“oder als „autochthon-indigen“.
Die Germaniten halten sich für ein indigenes Volk, also für Ureinwohner Deutschlands. Im Jahr 2017 befasste sich das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig mit dem vermeintlich existierenden „indigenen Volk Germaniten“und stellte klar: Eine Anerkennung der Gruppierung als indigenes Volk ist nach internationalem und nationalem Recht ausgeschlossen.
In dem Dorf bei Dresden bitten die Organisatoren des Abends in einen Hinterraum. Auch der Hausherr ist da. Sein Vierseitenhof diene als Zentrale des Ortsverbandes der Partei „Die Basis“, erklärt er. Er selbst sei zwar kein Germanit, seinen Hof stelle er aber gern zur Verfügung. Stühle sind im Kreis aufgestellt, ein Beamer wirft das Bild einer Pyramide an die Wand. Ganz unten ein Pfeil mit dem Hinweis: „Du“. Darüber Logos großer Konzerne aus der Weltwirtschaft. An der Spitze das Symbol des „Auges der Vorsehung“mit der Bezeichnung „die Elite“. Es folgt ein Bild des deutsch-jüdischen Bankiers Rothschild. Es sind antisemitische Codes einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung.
Zwei Männer treten vor die Versammelten. Der eine trägt eine Stoffhose und ein Hemd. Mit seiner Brille und den graumelierten Haaren wirkt er eher unauffällig. Der andere: größer, bunt gekleidet, kleine Ledertasche am Gürtel. Seine schulterlangen Haare hat er zum Pferdeschwanz gebunden. Sie seien Mitglieder der Mission Dresden II, erklären sie. „Missionen“– so nennen Germaniten ihre Stützpunkte. In ihren Schreiben heißt es, es gebe solche Stützpunkte in Bochum, Kiel und Potsdam, aber auch im Ausland, etwa in den Niederlanden, der Schweiz und in Norwegen.
Im Ursprungsland der Vereinigung, in Baden-Württemberg, sind dem Landesamt für Verfassungsschutz vier solche Standorte bekannt. In der Antwort auf eine Landtagsanfrage in Stuttgart hieß es im Januar, man könne nicht davon ausgehen, dass sich hinter diesen „Missionen“gefestigte Organisationsstrukturen verbergen. Womöglich handle es sich um Wohnsitze einzelner Angehöriger der Gruppierung.
Die Germaniten sagen, sie hätten bundesweit rund 1.700 „Volksangehörige“, 600 davon seien aktiv. In Baden-Württemberg ordnen die dortigen Verfassungsschützer der Bewegung aktuell etwa 100 bis 150 Personen zu. In Sachsen spricht das Landesamt für Verfassungsschutz in Dresden von 15 Personen.
In Sachsen ist die Gruppierung offenbar noch klein. Aber im Erzgebirge hat sie bereits Vorbereitungen für einen eigenen Versammlungsort geschaffen. In Seiffen kauften Anhänger im vergangenen Jahr das ehemalige Hotel „Ahornberg“. Es werde gerade zum Schulungszentrum umgebaut, heißt es. Gegenüber einem Reporter der Freien Presse erklärte dort im Herbst einer der Aktivisten, er könne doch kein „Reichsbürger“sein, da sein Vater einst von den Nazis verfolgt worden sei. Sein „Volk“werde zu Unrecht vom sächsischen Verfassungsschutz beobachtet. Und „gefährliche Extremisten“, wie von der Behörde behauptet, seien die Germaniten schon mal gar nicht, sondern friedlich.
Der Mann ist einer der Organisatoren des Treffens bei Dresden. An diesem Abend ist er nicht da. Der Vortrag im Vierseitenhof beginnt mit der Frage: Wer kann Volksmitglied bei den Germaniten werden? Die beiden Referenten werfen eine Europakarte an die Wand. Wer germanische Ahnen habe und diese Herkunft in sich fühle, könne sich schriftlich zur Volksgemeinschaft bekennen, erklären sie. 500 Euro betrage die Aufnahmegebühr, 120 Euro der Jahresbeitrag.
Der Widerstand gegen „das System“der Bundesrepublik ist Konsens unter den Teilnehmern, das wird schnell klar. Die parlamentarische Demokratie wird von dem Mann mit dem Pferdeschwanz mit dem Spruch abgetan: „Demokratie, das ist die Betreuung der Dummen.“
Eine Teilnehmerin erzählt, sie habe bereits mehrere Haftbefehle erhalten. Wofür genau, das lässt die zierliche Frau mit den langen schwarzen Haaren offen. Eine andere Anwesende fragt, ob sie nach ihrem Eintritt ins „Indigene Volk Germaniten“noch Unternehmenssteuern zahlen müsse. Beide Referenten winken sofort ab. Sie könne ihre Firma der Gemeinschaft überschreiben. „Das Unternehmen wird dann volkseigen“, sagt der Redner mit dem Pferdeschwanz. Steuern seien somit keine mehr an das „System BRD“zu entrichten. Allerdings müsse ein pauschaler Satz in Höhe von zehn Prozent des Gewinns an die Germaniten gezahlt werden. „Als Verwaltungsentschädigung.“
Von genau solchen Methoden berichtet auch der Verfassungsschutz Baden-Württemberg. Das „Indigene Volk Germaniten“unternehme Versuche, in die Eigentumsverhältnisse seiner Anhänger einzugreifen, heißt es in einem Bericht auf der Internetseite der Behörde. Der Geheimdienst warnt: „Sollten entsprechende Überschreibungen tatsächlich rechtswirksam werden, riskieren die Anhänger erhebliche, eventuell sogar existenzielle, finanzielle Verluste.“
Die Unternehmerin, die nach den Steuern gefragt hatte, zögert. Dann holt sie kurz Luft, um eine Sache zu erklären, die ihr wichtig ist: In den zurückliegenden Jahren habe sie sich viel Geld geliehen, um ihre Immobilienfirma aufzubauen. Das habe sie nicht für den eigenen Erfolg getan. Vielmehr wolle sie sämtliche Objekte der Anastasia-Bewegung zur Verfügung stellen.
Die Anastasia-Bewegung ist eine um 1997 in Russland entstandene neureligiöse Sekte, die sich weltweit verbreitet und mittlerweile auch in Deutschland völkische Siedlungsprojekte verfolgt. Der Bundesverfassungsschutz führt die Gruppierung als rechtsextremen Verdachtsfall. Die Bewegung, so begründet die Behörde, basiere auf Romanen eines russischen Autors, der völkische, rassistische und antisemitische Ideologien verbreite. Für die Germaniten ist die Anastasia-Bewegung ein Vorbild, wie die Referenten während des Vortrages offen sagen. Man wolle ähnliche Strukturen aufbauen, also ebenfalls selbstverwaltende Kommunen im Hinterland.
In Deutschland wurde die AnastasiaSiedlung „Weda Elysia“in Wienrode im Harz bekannt. Sie bezeichnet sich selbst als „Gärtnerhof-Kleinsiedlungsprojekt“. Familien sollen sich dort auf je einem Hektar Land einen „autarken Lebens- und Schaffensraum“aufbauen. Weda Elysia, laut Verfassungsschutz Sachsen-Anhalt gesichert rechtsextremistisch, will sich ins Dorf einbringen, Einfluss gewinnen.
Droht nun Ähnliches im Erzgebirge? In Seiffen haben sich die Germaniten bereits bei Nachbarn vorgestellt. Sie seien freundlich gewesen, hätten sich umgeschaut, erzählt der Besitzer einer Holzkunstwerkstatt. Auch andere Anwohner kamen mit den selbst ernannten Indigenen ins Gespräch. Die Germaniten halten Pferde auf dem Gelände. Das sorgt für Interesse bei den Dorfbewohnern. Man müsse sich eben arrangieren, finden die Nachbarn. Es ist dieses harmlose Bild, das die Germaniten vermitteln möchten.
Das ehemalige Hotel „Ahornberg“sei ein Kulturzentrum und diene der „friedlichen Völkerverständigung“, hatten die Germaniten in Seiffen der Freien Presse gesagt. In ihren Schulungen gehe es um das Erlernen „indigener Praktiken“wie germanischer Heilkunde, um „diese nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen“.
Im Vierseitenhof schildern die beiden Referenten Pläne eines Parallelstaates, unter anderem mit eigener Bank und eigener Krankenversicherung. Auch das erinnert, genauso wie die Eigentumsüberschreibungen, an die Reichsbürgerbewegung „Königreich Deutschland“, deren selbst ernannter „König“Peter Fitzek in Sachsen über Strohmänner bereits mehrere Objekte kaufen ließ. Der Sektenbeauftragte der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche, Harald Lamprecht, warnt eindringlich vor dieser Masche und nennt Fitzek einen gefährlichen Betrüger.
In Fitzeks „Reich“wird, ebenso wie im Fantasiestaat der Germaniten, die gesetzliche Schulpflicht ignoriert. Auf der Rekrutierungsveranstaltung bei Dresden heißt es, bei den Germaniten gebe es eine Bildungspflicht. Und zwar germanische Bildung. Auf einer Folie zeigt der Referent, was damit gemeint ist: Volkstänze, Folklore, germanische Medizin. Mittlerweile gebe es bei den Germaniten sogar einen ersten „Bildungszirkel“. Sieben Kinder würden per Videoschalte zu Hause beschult.
Es sollen mehr Kinder werden. Die Referenten geben Ratschläge, wie Familien die staatliche Schulpflicht umgehen könnten. Schulakten der Kinder, die bei Bildungseinrichtungen liegen, könnten zurückgefordert werden, behaupten sie. Dass es strafbar ist, die Schulpflicht zu umgehen, sagen sie nicht.
„Demokratie, das ist die Betreuung der Dummen“, sagt der Mann mit dem Pferdeschwanz.
Erklärt wird auch, wie man auf amtliche Schreiben des Staates reagieren solle. Einige Teilnehmer wollen wissen, was man gegen den Rundfunkbeitrag tun könne. Solchen Schreiben begegne man mit massenweisen Eingaben und Widersprüchen, sagt der Mann mit dem Pferdeschwanz. Per Fax sollten sie, signiert von möglichst vielen Germaniten, an die Beamten geschickt werden.
Nach fünf Stunden endet das Treffen im Vierseitenhof. Der Mann mit dem Pferdeschwanz reicht ein Kärtchen herum: eine Identitätskarte, mit der Germaniten ihre Zugehörigkeit bekunden. Einige Gäste drehen sie interessiert hin und her. Kurz darauf setzen sich Autos in Bewegung. Die Teilnehmer verschwinden so, wie sie gekommen sind: unauffällig. (FP)
Frau Buyx, vor einem Jahr hat die Bundesregierung die letzten CoronaSchutzmaßnahmen auslaufen lassen. Im Mai 2023 hob die Weltgesundheitsorganisation dann den weltweiten Corona-Gesundheitsnotstand auf. Warum ist es wichtig, sich jetzt noch mit der Pandemie zu beschäftigen?
Wir haben das schon ein bisschen vergessen, aber es war nicht nur eine ungeheure Krise im Gesundheitssystem, sondern wohl die tiefgreifendste gesellschaftliche Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Nichts zuvor hat derart stark in unser aller Alltagsleben eingegriffen. Danach sind wir weitgehend zur Tagesordnung übergegangen, weil sofort die nächsten Herausforderungen kamen. Das kann nicht gesund sein, und die Folgen spürt man noch immer. Zusammenhalt und Vertrauen in viele Institutionen haben gelitten, Debatten sind toxischer geworden. Hass, Drohungen und extreme Positionen haben zugenommen. All das setzt sich jetzt fort.
Einigkeit herrscht darin, dass der Umgang mit Kindern und Jugendlichen nicht gut gelaufen ist. Sie selbst haben es als Versäumnis des Ethikrats benannt, die Situation der jungen Menschen bis 2022 nicht genug zu berücksichtigen. Wie konnte es dazu kommen?
Nach dem ersten Lockdown gab es erste Einschätzungen von Kinderpsychologen und -psychiatern. Die haben gesagt, dass laut erster Untersuchungen zum ersten Lockdown die jungen Menschen recht gut durchgekommen sind, was auch gar nicht überraschend war.
Warum?
Kinder sind anpassungsfähig, und der erste Lockdown dauerte „nur“sieben Wochen. Vielleicht etablierte sich in der Gesellschaft dadurch ein wenig die Wahrnehmung: „The kids are alright“. Aber je länger die Pandemie andauerte, desto mehr waren viele durch die Einschränkungen, den mangelnden Kontakt, aber auch durch die Erfahrung der Pandemie an sich belastet. Die Effekte auf die psychische Gesundheit bei den Jüngeren zeigen sich in Ländern mit sehr unterschiedlich strengen Maßnahmen, das scheint also nicht nur an den Maßnahmen zu hängen, sondern auch am Leben in der pandemischen Situation. Es gab verschiedene Stimmen, die darauf hingewiesen haben, dass es unausgewogen ist, wenn die Schulen zu sind und die Büros offen, auch ich selbst. Zu den Hochaltrigen, die in den Pflegeheimen über Monate isoliert lebten und einsam starben, hat der Ethikrat eine Ad-hoc-Empfehlung herausgegeben. Zu den Jungen haben wir uns aber erst Ende 2022 geäußert. Wir haben das bedauert, mit dem heutigen Wissen würden wir das wohl anders machen.
Schon früh in der Pandemie war klar, dass das Virus für Kinder und Jugendliche nicht sehr gefährlich ist. War es überhaupt ethisch gerechtfertigt, sie zum Schutz der Älteren zu isolieren? Wie viel Kinder zum Infektionsgeschehen beitragen, war lange unklar. Und natürlich gab es auch Kinder, die selbst gefährdet waren, wegen Vorerkrankungen. Aber zum ethischen Punkt: Es gehört zu unseren Grundüberzeugungen, dass wir uns alle in dieser Gesellschaft gegenseitig schützen, und da gehören die Kinder dazu. Auch sie können dazu beitragen, die Verbreitung eines Virus einzudämmen; auch die Jungen können solidarisch sein – und wollen das ja auch oft.
Die Frage ist dann aber, wie viel man ihnen zumutet. Im Rückblick lag die Priorität bei uns wohl eher auf Arbeit und Wirtschaft, das Land sollte am Laufen gehalten werden. Das ist durchaus nachvollziehbar. Doch eine der wesentlichen Lehren ist, dass man die Jüngeren nicht so stark belasten darf wie die älteren Generationen, dazu haben wir uns auch geäußert.
Es sind eher Erwachsene, die auf die Pandemie mit besonderem Groll zurückblicken. Dazu gehören Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten. Politik, Medien und Gesellschaft haben viel Druck ausgeübt – wie kam es dazu? Als die Impfkampagne Anfang 2021 begann, wurde monatelang darüber geredet, dass es zu wenig Impfstoff gab. Es wurden Vorwürfe laut, dass nicht genug eingekauft worden war, über Ungerechtigkeiten in der Priorisierung, über unzureichende Organisation wurde viel berichtet und geredet. Gefühlt alle wollten zu dieser Zeit einen Impftermin. Am 7. Juni wurde die Priorisierung aufgehoben, die Lage entspannte sich etwas. Und dann auf einmal, so ab September, lag innerhalb kürzester Zeit der Fokus sehr stark auf den Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten. Das ist sehr schnell umgeschlagen in Berichterstattung und öffentlicher Diskussion. Das wäre interessant, im Rückblick genauer anzuschauen und besser zu verstehen.
War der Druck gerechtfertigt?
Es war die Zeit der Deltavariante, und zu der Zeit hat die Impfung die Ausbreitung deutlich verringert, dafür gibt es gute Evidenz. Das hat sich mit Omicron verschlechtert. Als der zweite Winter der Pandemie begann, gab es im Raum München streckenweise auf 100 Kilometer kein freies Bett mehr für Schlaganfallpatienten. Wer einen Schlaganfall hatte, musste weit gefahren werden, das ist nicht gut fürs Gehirn. Es musste über die Verlegung schwerkranker Menschen von einem Bundesland ins andere nachgedacht werden, teils ist das ja auch passiert. Und ein Großteil der Menschen, die damals auf den Intensivstationen lagen, waren nun einmal nicht geimpft. Das war ein Gerechtigkeitsproblem, das haben wir vom Ethikrat auch beschrieben.
Vereinzelt gab es Menschen, die durch die Impfung erkrankten oder sogar starben. Ist es nicht menschlich, wenn einen das erschreckt?
Klar, erschrecken ist menschlich, aber das Risiko, durch das Virus zu sehr krank zu werden oder zu sterben, war zu jedem Zeitpunkt sehr viel größer. Impfschäden sind sehr seltene Ausnahmen. Die rationale Entscheidung war immer, sich impfen zu lassen. Das zu tun ist aber auch eine Frage des Vertrauens in Wissenschaft und Behörden. Wenn ich den Fachleuten etwa vom PaulEhrlich-Institut die Zahlen nicht glaube, dann wird es schwierig.
Wie konnte es zu der Polarisierung kommen?
Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich das bis heute nicht – warum sich Menschen nicht impfen lassen wollten. Ich kann es mir nur mit den vielen Fehlinformationen erklären, die zirkulierten. Es gab eine regelrechte „Infodemie“aus Fake News und Verschwörungstheorien. Heute weiß man, dass da die üblichen Verdächtigen unterwegs waren, die so etwas verbreiten, russische Bots, bekannte Verschwörungsunternehmer und so weiter. Das ist ein Jammer. Impfungen gehören zu den wirklich großen medizinischen Errungenschaften, wegen denen wir unter anderem heute viel länger leben als die Menschen früher. Wir vom Deutschen Ethikrat haben schon 2019 eine moralische Verpflichtung gesehen, sich impfen zu lassen, schon vor der Pandemie. Aber noch heute bekommen wir regelmäßig Hass-E-Mails im Zusammenhang der Impfungen.
Sie haben auch persönlich viel Hass und Bedrohung erfahren. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Man gewöhnt sich an vieles, aber manchmal nimmt es mich schon mit. Ich habe vor einiger Zeit eine Veranstaltung gehabt, und da haben mich Leute richtig angebrüllt. „Sie haben über uns geredet wie über Tiere!“, wurde mir dort vorgeworfen. Ich war baff, weil ich dachte, dass ich eigentlich immer recht moderat spreche. Es ging um einen Satz von mir, der völlig aus dem Zusammenhang gerissen wurde.
Welcher war das?
Ich hatte einmal gesagt: „Jede Impfdosis muss in einen Arm.“Es ging um die Situation am Anfang der Impfstrategie, wenn an einem Tag nicht genügend Menschen aus der richtigen Priorisierungsgruppe in einem Impfzentrum auftauchten. Da habe ich gesagt, dass man dann Menschen impfen sollte, die das gern hätten, bevor man die Impfdosen wegschmeißt. Und nun standen Menschen vor mir, die wirklich glauben, ich hätte über sie wie über Tiere geredet. Das ist nicht einfach. Aber irgendwie müssen wir es schaffen, wieder miteinander zu reden.
Was ist dafür nötig?
Es ist eigentlich vermessen, wenn ich mich dazu äußere, als jemand, die ein Gremium geleitet hat, das in der Pandemie beraten hat. Aber ich sage dennoch, und schon lange, drei Schritte sind notwendig: aufarbeiten, lernen, heilen. Bei der Aufarbeitung muss man sich anschauen, wie der damalige Wissensstand war, über welche Faktoren nachgedacht wurde. Das muss man dann kontrastieren mit dem heutigen Wissen. So kann man lernen, was verhältnismäßig war, was zu streng oder was auch zu spät kam.
Wie kann eine Heilung gelingen?
Im Prinzip hat das Land eine traumatische Erfahrung gemacht, die wir verarbeiten müssen. Das ist nicht meine Expertise, aber es gibt historische Beispiele wie Versöhnungskommissionen, verschiedene symbolische und auch ganz praktische Dinge. Im Stuttgarter Raum gab es zum Beispiel ein Projekt, das heißt „Well.come.back“. Stiftungen, Vereine, Unternehmen und Kommunalpolitik haben sich zusammengeschlossen und ein Aktionsbündel für junge Menschen geschnürt, von Sportveranstaltungen, über verschiedene Kurse und Coachingangebote bis hin zu Aktionstagen um Danke zu sagen.
Sie haben Ihre Magisterarbeit über Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen geschrieben: Was tun, wenn es zu wenige Beatmungsgeräte und Intensivbetten für zu viele Kranke gibt? Hat die Theorie Sie auf die Realität vorbereitet?
Weil die Kollegen und ich im Ethikrat uns in der Theorie mit vielen grundsätzlichen Fragen beschäftigt hatten, waren wir schnell sprechfähig. Die erste Empfehlung des Ethikrats haben wir am 27. März 2020 veröffentlicht. Das ging nur, weil viele von uns einiges vorher schon einmal in der Theorie durchdacht hatten, zumindest so ähnlich. Aber als der Chef der Intensivmedizin in München im April 2020 sagte: „Es ist absolut alles voll, wenn noch mehr kommen, dann müssen wir anfangen zu triagieren“– das war doch eine irre Erfahrung. Ich konnte auch nicht vorhersehen, wie lang die Pandemie dauern würde. Und ich hätte gedacht, wir kriegen manche Sachen besser hin. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass Leute ernsthaft glauben, dass man sich gegen ein Virus ein Bleichmittel injizieren soll. Auf so was war ich definitiv nicht vorbereitet.