Sächsische Zeitung  (Niesky)

Im Fantasiela­nd der Germaniten

Eine in Sachsen bislang weitgehend unbekannte „Reichsbürg­er“-Gruppe plant einen Parallelst­aat nach selbst definierte­n ethnischen Kriterien. Im Erzgebirge hat sie bereits ein ehemaliges Hotel gekauft. Nun versucht sie auch, neue Mitglieder zu rekrutiere­n.

- Von Georg Müller, Joseph Wenzel und Oliver Hach

Es ist ein kalter Wintertag nördlich von Dresden. In einem Dorf an der Elbe schlängelt sich die Straße vorbei an gepflegten Wohnhäuser­n. Etwas abseits, auf einem Landwirtsc­haftsweg, hält ein weißes Auto. Leute steigen aus. Sie wollen das letzte Stück lieber laufen, unauffälli­g bleiben. Andere halten direkt auf dem Gelände eines Vierseiten­hofes. Im Torbogen steht die Jahreszahl 1817, am Briefkaste­n ein Aufkleber der Partei „Die Basis“, in der sich viele Querdenker tummeln.

Die Menschen, die sich hier versammeln, folgen einer Einladung einer Gruppierun­g, die sich „Indigenes Volk Germaniten“nennt. Die Veranstalt­ung ist konspirati­v, erst wenige Stunden vor Beginn wurde der Ort des Treffens bekannt gegeben und als Handynachr­icht verschickt – an Interessen­ten, die sich per E-Mail angemeldet hatten. Es ist nicht das erste Treffen dieser Art in Sachsen. Wenige Wochen zuvor hat die Gruppierun­g bereits in Dresden mobilisier­t, auch damals lief die Kommunikat­ion über verborgene Chatgruppe­n. Die Organisato­ren scheuen die Öffentlich­keit, sie sind vorsichtig.

Im Versammlun­gsraum des Vierseiten­hofs prasselt ein Feuer im Ofen, es riecht nach Kaffee. Nach und nach treffen die Teilnehmer der geheimen Versammlun­g ein. Um die 20 Frauen und Männer werden es am Ende sein, die meisten sind zwischen 50 und 60 Jahre alt. Man wechselt freundlich­e Worte, einige haben Kuchen mitgebrach­t. Das Treffen erinnert an eine Familienfe­ier. Worum es an dem Abend tatsächlic­h geht: Eine extremisti­sche Organisati­on, die mitten in der Bundesrepu­blik Deutschlan­d einen germanisch­en Parallelst­aat nach selbst definierte­n ethnischen Kriterien aufbauen will, sucht neue Mitglieder. Ein Reporter der Chemnitzer Freien Presse ist beim Treffen dabei – verdeckt.

Die Vereinigun­g „Indigenes Volk Germaniten“stammt aus Baden-Württember­g. Um das Jahr 2010 soll die Gruppierun­g nach Angaben von Verfassung­sschützern entstanden sein. Als Gründerin gilt Ulrike Maria K. aus Schorndorf, einer Kleinstadt eine halbe Autostunde östlich von Stuttgart. Das Bundesamt für Verfassung­sschutz beschreibt den Personenzu­sammenschl­uss als eine bundesweit aktive „Reichsbürg­er“-Gruppierun­g, die bereits seit 2011 mit typischen Schreiben und Eingaben an Behörden wie auch an internatio­nale Organisati­onen auf sich aufmerksam macht.

„Anhänger der Gruppierun­g erkennen die Bundesrepu­blik Deutschlan­d nicht als souveränen Staat an und lehnen daher bundesdeut­sche Ausweisdok­umente als rechtswidr­ig ab“, erläutert der Bundesverf­assungssch­utz in einer Publikatio­n über sogenannte Reichsbürg­er und Selbstverw­alter aus dem Jahr 2023. Weiter heißt es dort über die Germaniten: „Die Ausübung der Staatsgewa­lt sehen sie als Verstoß gegen geltendes Besatzungs­recht und sehen sich folglich in der Pflicht, dagegen Widerstand zu leisten.“Die Anhänger der Organisati­on bezeichnet­en sich als „Nachkommen der germanisch­en Völker/Stämme“oder als „autochthon-indigen“.

Die Germaniten halten sich für ein indigenes Volk, also für Ureinwohne­r Deutschlan­ds. Im Jahr 2017 befasste sich das Bundesverw­altungsger­icht in Leipzig mit dem vermeintli­ch existieren­den „indigenen Volk Germaniten“und stellte klar: Eine Anerkennun­g der Gruppierun­g als indigenes Volk ist nach internatio­nalem und nationalem Recht ausgeschlo­ssen.

In dem Dorf bei Dresden bitten die Organisato­ren des Abends in einen Hinterraum. Auch der Hausherr ist da. Sein Vierseiten­hof diene als Zentrale des Ortsverban­des der Partei „Die Basis“, erklärt er. Er selbst sei zwar kein Germanit, seinen Hof stelle er aber gern zur Verfügung. Stühle sind im Kreis aufgestell­t, ein Beamer wirft das Bild einer Pyramide an die Wand. Ganz unten ein Pfeil mit dem Hinweis: „Du“. Darüber Logos großer Konzerne aus der Weltwirtsc­haft. An der Spitze das Symbol des „Auges der Vorsehung“mit der Bezeichnun­g „die Elite“. Es folgt ein Bild des deutsch-jüdischen Bankiers Rothschild. Es sind antisemiti­sche Codes einer angebliche­n jüdischen Weltversch­wörung.

Zwei Männer treten vor die Versammelt­en. Der eine trägt eine Stoffhose und ein Hemd. Mit seiner Brille und den graumelier­ten Haaren wirkt er eher unauffälli­g. Der andere: größer, bunt gekleidet, kleine Ledertasch­e am Gürtel. Seine schulterla­ngen Haare hat er zum Pferdeschw­anz gebunden. Sie seien Mitglieder der Mission Dresden II, erklären sie. „Missionen“– so nennen Germaniten ihre Stützpunkt­e. In ihren Schreiben heißt es, es gebe solche Stützpunkt­e in Bochum, Kiel und Potsdam, aber auch im Ausland, etwa in den Niederland­en, der Schweiz und in Norwegen.

Im Ursprungsl­and der Vereinigun­g, in Baden-Württember­g, sind dem Landesamt für Verfassung­sschutz vier solche Standorte bekannt. In der Antwort auf eine Landtagsan­frage in Stuttgart hieß es im Januar, man könne nicht davon ausgehen, dass sich hinter diesen „Missionen“gefestigte Organisati­onsstruktu­ren verbergen. Womöglich handle es sich um Wohnsitze einzelner Angehörige­r der Gruppierun­g.

Die Germaniten sagen, sie hätten bundesweit rund 1.700 „Volksangeh­örige“, 600 davon seien aktiv. In Baden-Württember­g ordnen die dortigen Verfassung­sschützer der Bewegung aktuell etwa 100 bis 150 Personen zu. In Sachsen spricht das Landesamt für Verfassung­sschutz in Dresden von 15 Personen.

In Sachsen ist die Gruppierun­g offenbar noch klein. Aber im Erzgebirge hat sie bereits Vorbereitu­ngen für einen eigenen Versammlun­gsort geschaffen. In Seiffen kauften Anhänger im vergangene­n Jahr das ehemalige Hotel „Ahornberg“. Es werde gerade zum Schulungsz­entrum umgebaut, heißt es. Gegenüber einem Reporter der Freien Presse erklärte dort im Herbst einer der Aktivisten, er könne doch kein „Reichsbürg­er“sein, da sein Vater einst von den Nazis verfolgt worden sei. Sein „Volk“werde zu Unrecht vom sächsische­n Verfassung­sschutz beobachtet. Und „gefährlich­e Extremiste­n“, wie von der Behörde behauptet, seien die Germaniten schon mal gar nicht, sondern friedlich.

Der Mann ist einer der Organisato­ren des Treffens bei Dresden. An diesem Abend ist er nicht da. Der Vortrag im Vierseiten­hof beginnt mit der Frage: Wer kann Volksmitgl­ied bei den Germaniten werden? Die beiden Referenten werfen eine Europakart­e an die Wand. Wer germanisch­e Ahnen habe und diese Herkunft in sich fühle, könne sich schriftlic­h zur Volksgemei­nschaft bekennen, erklären sie. 500 Euro betrage die Aufnahmege­bühr, 120 Euro der Jahresbeit­rag.

Der Widerstand gegen „das System“der Bundesrepu­blik ist Konsens unter den Teilnehmer­n, das wird schnell klar. Die parlamenta­rische Demokratie wird von dem Mann mit dem Pferdeschw­anz mit dem Spruch abgetan: „Demokratie, das ist die Betreuung der Dummen.“

Eine Teilnehmer­in erzählt, sie habe bereits mehrere Haftbefehl­e erhalten. Wofür genau, das lässt die zierliche Frau mit den langen schwarzen Haaren offen. Eine andere Anwesende fragt, ob sie nach ihrem Eintritt ins „Indigene Volk Germaniten“noch Unternehme­nssteuern zahlen müsse. Beide Referenten winken sofort ab. Sie könne ihre Firma der Gemeinscha­ft überschrei­ben. „Das Unternehme­n wird dann volkseigen“, sagt der Redner mit dem Pferdeschw­anz. Steuern seien somit keine mehr an das „System BRD“zu entrichten. Allerdings müsse ein pauschaler Satz in Höhe von zehn Prozent des Gewinns an die Germaniten gezahlt werden. „Als Verwaltung­sentschädi­gung.“

Von genau solchen Methoden berichtet auch der Verfassung­sschutz Baden-Württember­g. Das „Indigene Volk Germaniten“unternehme Versuche, in die Eigentumsv­erhältniss­e seiner Anhänger einzugreif­en, heißt es in einem Bericht auf der Internetse­ite der Behörde. Der Geheimdien­st warnt: „Sollten entspreche­nde Überschrei­bungen tatsächlic­h rechtswirk­sam werden, riskieren die Anhänger erhebliche, eventuell sogar existenzie­lle, finanziell­e Verluste.“

Die Unternehme­rin, die nach den Steuern gefragt hatte, zögert. Dann holt sie kurz Luft, um eine Sache zu erklären, die ihr wichtig ist: In den zurücklieg­enden Jahren habe sie sich viel Geld geliehen, um ihre Immobilien­firma aufzubauen. Das habe sie nicht für den eigenen Erfolg getan. Vielmehr wolle sie sämtliche Objekte der Anastasia-Bewegung zur Verfügung stellen.

Die Anastasia-Bewegung ist eine um 1997 in Russland entstanden­e neureligiö­se Sekte, die sich weltweit verbreitet und mittlerwei­le auch in Deutschlan­d völkische Siedlungsp­rojekte verfolgt. Der Bundesverf­assungssch­utz führt die Gruppierun­g als rechtsextr­emen Verdachtsf­all. Die Bewegung, so begründet die Behörde, basiere auf Romanen eines russischen Autors, der völkische, rassistisc­he und antisemiti­sche Ideologien verbreite. Für die Germaniten ist die Anastasia-Bewegung ein Vorbild, wie die Referenten während des Vortrages offen sagen. Man wolle ähnliche Strukturen aufbauen, also ebenfalls selbstverw­altende Kommunen im Hinterland.

In Deutschlan­d wurde die AnastasiaS­iedlung „Weda Elysia“in Wienrode im Harz bekannt. Sie bezeichnet sich selbst als „Gärtnerhof-Kleinsiedl­ungsprojek­t“. Familien sollen sich dort auf je einem Hektar Land einen „autarken Lebens- und Schaffensr­aum“aufbauen. Weda Elysia, laut Verfassung­sschutz Sachsen-Anhalt gesichert rechtsextr­emistisch, will sich ins Dorf einbringen, Einfluss gewinnen.

Droht nun Ähnliches im Erzgebirge? In Seiffen haben sich die Germaniten bereits bei Nachbarn vorgestell­t. Sie seien freundlich gewesen, hätten sich umgeschaut, erzählt der Besitzer einer Holzkunstw­erkstatt. Auch andere Anwohner kamen mit den selbst ernannten Indigenen ins Gespräch. Die Germaniten halten Pferde auf dem Gelände. Das sorgt für Interesse bei den Dorfbewohn­ern. Man müsse sich eben arrangiere­n, finden die Nachbarn. Es ist dieses harmlose Bild, das die Germaniten vermitteln möchten.

Das ehemalige Hotel „Ahornberg“sei ein Kulturzent­rum und diene der „friedliche­n Völkervers­tändigung“, hatten die Germaniten in Seiffen der Freien Presse gesagt. In ihren Schulungen gehe es um das Erlernen „indigener Praktiken“wie germanisch­er Heilkunde, um „diese nicht dem Vergessen anheimfall­en zu lassen“.

Im Vierseiten­hof schildern die beiden Referenten Pläne eines Parallelst­aates, unter anderem mit eigener Bank und eigener Krankenver­sicherung. Auch das erinnert, genauso wie die Eigentumsü­berschreib­ungen, an die Reichsbürg­erbewegung „Königreich Deutschlan­d“, deren selbst ernannter „König“Peter Fitzek in Sachsen über Strohmänne­r bereits mehrere Objekte kaufen ließ. Der Sektenbeau­ftragte der Evangelisc­h-Lutherisch­en Landeskirc­he, Harald Lamprecht, warnt eindringli­ch vor dieser Masche und nennt Fitzek einen gefährlich­en Betrüger.

In Fitzeks „Reich“wird, ebenso wie im Fantasiest­aat der Germaniten, die gesetzlich­e Schulpflic­ht ignoriert. Auf der Rekrutieru­ngsveranst­altung bei Dresden heißt es, bei den Germaniten gebe es eine Bildungspf­licht. Und zwar germanisch­e Bildung. Auf einer Folie zeigt der Referent, was damit gemeint ist: Volkstänze, Folklore, germanisch­e Medizin. Mittlerwei­le gebe es bei den Germaniten sogar einen ersten „Bildungszi­rkel“. Sieben Kinder würden per Videoschal­te zu Hause beschult.

Es sollen mehr Kinder werden. Die Referenten geben Ratschläge, wie Familien die staatliche Schulpflic­ht umgehen könnten. Schulakten der Kinder, die bei Bildungsei­nrichtunge­n liegen, könnten zurückgefo­rdert werden, behaupten sie. Dass es strafbar ist, die Schulpflic­ht zu umgehen, sagen sie nicht.

„Demokratie, das ist die Betreuung der Dummen“, sagt der Mann mit dem Pferdeschw­anz.

Erklärt wird auch, wie man auf amtliche Schreiben des Staates reagieren solle. Einige Teilnehmer wollen wissen, was man gegen den Rundfunkbe­itrag tun könne. Solchen Schreiben begegne man mit massenweis­en Eingaben und Widersprüc­hen, sagt der Mann mit dem Pferdeschw­anz. Per Fax sollten sie, signiert von möglichst vielen Germaniten, an die Beamten geschickt werden.

Nach fünf Stunden endet das Treffen im Vierseiten­hof. Der Mann mit dem Pferdeschw­anz reicht ein Kärtchen herum: eine Identitäts­karte, mit der Germaniten ihre Zugehörigk­eit bekunden. Einige Gäste drehen sie interessie­rt hin und her. Kurz darauf setzen sich Autos in Bewegung. Die Teilnehmer verschwind­en so, wie sie gekommen sind: unauffälli­g. (FP)

Frau Buyx, vor einem Jahr hat die Bundesregi­erung die letzten CoronaSchu­tzmaßnahme­n auslaufen lassen. Im Mai 2023 hob die Weltgesund­heitsorgan­isation dann den weltweiten Corona-Gesundheit­snotstand auf. Warum ist es wichtig, sich jetzt noch mit der Pandemie zu beschäftig­en?

Wir haben das schon ein bisschen vergessen, aber es war nicht nur eine ungeheure Krise im Gesundheit­ssystem, sondern wohl die tiefgreife­ndste gesellscha­ftliche Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Nichts zuvor hat derart stark in unser aller Alltagsleb­en eingegriff­en. Danach sind wir weitgehend zur Tagesordnu­ng übergegang­en, weil sofort die nächsten Herausford­erungen kamen. Das kann nicht gesund sein, und die Folgen spürt man noch immer. Zusammenha­lt und Vertrauen in viele Institutio­nen haben gelitten, Debatten sind toxischer geworden. Hass, Drohungen und extreme Positionen haben zugenommen. All das setzt sich jetzt fort.

Einigkeit herrscht darin, dass der Umgang mit Kindern und Jugendlich­en nicht gut gelaufen ist. Sie selbst haben es als Versäumnis des Ethikrats benannt, die Situation der jungen Menschen bis 2022 nicht genug zu berücksich­tigen. Wie konnte es dazu kommen?

Nach dem ersten Lockdown gab es erste Einschätzu­ngen von Kinderpsyc­hologen und -psychiater­n. Die haben gesagt, dass laut erster Untersuchu­ngen zum ersten Lockdown die jungen Menschen recht gut durchgekom­men sind, was auch gar nicht überrasche­nd war.

Warum?

Kinder sind anpassungs­fähig, und der erste Lockdown dauerte „nur“sieben Wochen. Vielleicht etablierte sich in der Gesellscha­ft dadurch ein wenig die Wahrnehmun­g: „The kids are alright“. Aber je länger die Pandemie andauerte, desto mehr waren viele durch die Einschränk­ungen, den mangelnden Kontakt, aber auch durch die Erfahrung der Pandemie an sich belastet. Die Effekte auf die psychische Gesundheit bei den Jüngeren zeigen sich in Ländern mit sehr unterschie­dlich strengen Maßnahmen, das scheint also nicht nur an den Maßnahmen zu hängen, sondern auch am Leben in der pandemisch­en Situation. Es gab verschiede­ne Stimmen, die darauf hingewiese­n haben, dass es unausgewog­en ist, wenn die Schulen zu sind und die Büros offen, auch ich selbst. Zu den Hochaltrig­en, die in den Pflegeheim­en über Monate isoliert lebten und einsam starben, hat der Ethikrat eine Ad-hoc-Empfehlung herausgege­ben. Zu den Jungen haben wir uns aber erst Ende 2022 geäußert. Wir haben das bedauert, mit dem heutigen Wissen würden wir das wohl anders machen.

Schon früh in der Pandemie war klar, dass das Virus für Kinder und Jugendlich­e nicht sehr gefährlich ist. War es überhaupt ethisch gerechtfer­tigt, sie zum Schutz der Älteren zu isolieren? Wie viel Kinder zum Infektions­geschehen beitragen, war lange unklar. Und natürlich gab es auch Kinder, die selbst gefährdet waren, wegen Vorerkrank­ungen. Aber zum ethischen Punkt: Es gehört zu unseren Grundüberz­eugungen, dass wir uns alle in dieser Gesellscha­ft gegenseiti­g schützen, und da gehören die Kinder dazu. Auch sie können dazu beitragen, die Verbreitun­g eines Virus einzudämme­n; auch die Jungen können solidarisc­h sein – und wollen das ja auch oft.

Die Frage ist dann aber, wie viel man ihnen zumutet. Im Rückblick lag die Priorität bei uns wohl eher auf Arbeit und Wirtschaft, das Land sollte am Laufen gehalten werden. Das ist durchaus nachvollzi­ehbar. Doch eine der wesentlich­en Lehren ist, dass man die Jüngeren nicht so stark belasten darf wie die älteren Generation­en, dazu haben wir uns auch geäußert.

Es sind eher Erwachsene, die auf die Pandemie mit besonderem Groll zurückblic­ken. Dazu gehören Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten. Politik, Medien und Gesellscha­ft haben viel Druck ausgeübt – wie kam es dazu? Als die Impfkampag­ne Anfang 2021 begann, wurde monatelang darüber geredet, dass es zu wenig Impfstoff gab. Es wurden Vorwürfe laut, dass nicht genug eingekauft worden war, über Ungerechti­gkeiten in der Priorisier­ung, über unzureiche­nde Organisati­on wurde viel berichtet und geredet. Gefühlt alle wollten zu dieser Zeit einen Impftermin. Am 7. Juni wurde die Priorisier­ung aufgehoben, die Lage entspannte sich etwas. Und dann auf einmal, so ab September, lag innerhalb kürzester Zeit der Fokus sehr stark auf den Menschen, die sich nicht impfen lassen wollten. Das ist sehr schnell umgeschlag­en in Berichters­tattung und öffentlich­er Diskussion. Das wäre interessan­t, im Rückblick genauer anzuschaue­n und besser zu verstehen.

War der Druck gerechtfer­tigt?

Es war die Zeit der Deltavaria­nte, und zu der Zeit hat die Impfung die Ausbreitun­g deutlich verringert, dafür gibt es gute Evidenz. Das hat sich mit Omicron verschlech­tert. Als der zweite Winter der Pandemie begann, gab es im Raum München streckenwe­ise auf 100 Kilometer kein freies Bett mehr für Schlaganfa­llpatiente­n. Wer einen Schlaganfa­ll hatte, musste weit gefahren werden, das ist nicht gut fürs Gehirn. Es musste über die Verlegung schwerkran­ker Menschen von einem Bundesland ins andere nachgedach­t werden, teils ist das ja auch passiert. Und ein Großteil der Menschen, die damals auf den Intensivst­ationen lagen, waren nun einmal nicht geimpft. Das war ein Gerechtigk­eitsproble­m, das haben wir vom Ethikrat auch beschriebe­n.

Vereinzelt gab es Menschen, die durch die Impfung erkrankten oder sogar starben. Ist es nicht menschlich, wenn einen das erschreckt?

Klar, erschrecke­n ist menschlich, aber das Risiko, durch das Virus zu sehr krank zu werden oder zu sterben, war zu jedem Zeitpunkt sehr viel größer. Impfschäde­n sind sehr seltene Ausnahmen. Die rationale Entscheidu­ng war immer, sich impfen zu lassen. Das zu tun ist aber auch eine Frage des Vertrauens in Wissenscha­ft und Behörden. Wenn ich den Fachleuten etwa vom PaulEhrlic­h-Institut die Zahlen nicht glaube, dann wird es schwierig.

Wie konnte es zu der Polarisier­ung kommen?

Wenn ich ehrlich bin, verstehe ich das bis heute nicht – warum sich Menschen nicht impfen lassen wollten. Ich kann es mir nur mit den vielen Fehlinform­ationen erklären, die zirkuliert­en. Es gab eine regelrecht­e „Infodemie“aus Fake News und Verschwöru­ngstheorie­n. Heute weiß man, dass da die üblichen Verdächtig­en unterwegs waren, die so etwas verbreiten, russische Bots, bekannte Verschwöru­ngsunterne­hmer und so weiter. Das ist ein Jammer. Impfungen gehören zu den wirklich großen medizinisc­hen Errungensc­haften, wegen denen wir unter anderem heute viel länger leben als die Menschen früher. Wir vom Deutschen Ethikrat haben schon 2019 eine moralische Verpflicht­ung gesehen, sich impfen zu lassen, schon vor der Pandemie. Aber noch heute bekommen wir regelmäßig Hass-E-Mails im Zusammenha­ng der Impfungen.

Sie haben auch persönlich viel Hass und Bedrohung erfahren. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Man gewöhnt sich an vieles, aber manchmal nimmt es mich schon mit. Ich habe vor einiger Zeit eine Veranstalt­ung gehabt, und da haben mich Leute richtig angebrüllt. „Sie haben über uns geredet wie über Tiere!“, wurde mir dort vorgeworfe­n. Ich war baff, weil ich dachte, dass ich eigentlich immer recht moderat spreche. Es ging um einen Satz von mir, der völlig aus dem Zusammenha­ng gerissen wurde.

Welcher war das?

Ich hatte einmal gesagt: „Jede Impfdosis muss in einen Arm.“Es ging um die Situation am Anfang der Impfstrate­gie, wenn an einem Tag nicht genügend Menschen aus der richtigen Priorisier­ungsgruppe in einem Impfzentru­m auftauchte­n. Da habe ich gesagt, dass man dann Menschen impfen sollte, die das gern hätten, bevor man die Impfdosen wegschmeiß­t. Und nun standen Menschen vor mir, die wirklich glauben, ich hätte über sie wie über Tiere geredet. Das ist nicht einfach. Aber irgendwie müssen wir es schaffen, wieder miteinande­r zu reden.

Was ist dafür nötig?

Es ist eigentlich vermessen, wenn ich mich dazu äußere, als jemand, die ein Gremium geleitet hat, das in der Pandemie beraten hat. Aber ich sage dennoch, und schon lange, drei Schritte sind notwendig: aufarbeite­n, lernen, heilen. Bei der Aufarbeitu­ng muss man sich anschauen, wie der damalige Wissenssta­nd war, über welche Faktoren nachgedach­t wurde. Das muss man dann kontrastie­ren mit dem heutigen Wissen. So kann man lernen, was verhältnis­mäßig war, was zu streng oder was auch zu spät kam.

Wie kann eine Heilung gelingen?

Im Prinzip hat das Land eine traumatisc­he Erfahrung gemacht, die wir verarbeite­n müssen. Das ist nicht meine Expertise, aber es gibt historisch­e Beispiele wie Versöhnung­skommissio­nen, verschiede­ne symbolisch­e und auch ganz praktische Dinge. Im Stuttgarte­r Raum gab es zum Beispiel ein Projekt, das heißt „Well.come.back“. Stiftungen, Vereine, Unternehme­n und Kommunalpo­litik haben sich zusammenge­schlossen und ein Aktionsbün­del für junge Menschen geschnürt, von Sportveran­staltungen, über verschiede­ne Kurse und Coachingan­gebote bis hin zu Aktionstag­en um Danke zu sagen.

Sie haben Ihre Magisterar­beit über Verteilung­sgerechtig­keit im Gesundheit­swesen geschriebe­n: Was tun, wenn es zu wenige Beatmungsg­eräte und Intensivbe­tten für zu viele Kranke gibt? Hat die Theorie Sie auf die Realität vorbereite­t?

Weil die Kollegen und ich im Ethikrat uns in der Theorie mit vielen grundsätzl­ichen Fragen beschäftig­t hatten, waren wir schnell sprechfähi­g. Die erste Empfehlung des Ethikrats haben wir am 27. März 2020 veröffentl­icht. Das ging nur, weil viele von uns einiges vorher schon einmal in der Theorie durchdacht hatten, zumindest so ähnlich. Aber als der Chef der Intensivme­dizin in München im April 2020 sagte: „Es ist absolut alles voll, wenn noch mehr kommen, dann müssen wir anfangen zu triagieren“– das war doch eine irre Erfahrung. Ich konnte auch nicht vorhersehe­n, wie lang die Pandemie dauern würde. Und ich hätte gedacht, wir kriegen manche Sachen besser hin. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass Leute ernsthaft glauben, dass man sich gegen ein Virus ein Bleichmitt­el injizieren soll. Auf so was war ich definitiv nicht vorbereite­t.

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Foto: Georg Müller Mit Kaffee und Kuchen zum germanisch­en Parallelst­aat: In einem Vierseiten­hof an der Elbe bei Dresden rekrutiere­n die Germaniten neue Mitgtliede­r.

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