Sächsische Zeitung (Riesa)

„Herr Nagel, vermissen Sie die Russen?“

Nachfahren sowjetisch­er Kriegsgefa­ngener interessie­ren sich mehr für den Ehrenhain Zeithain als die Deutschen selbst. Ab April soll sich das ändern.

- Das Gespräch führte Jörg Richter.

Vor dem Ukraine-Krieg hatte die Gedenkstät­te Ehrenhain Zeithain oft Besucher aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunio­n. Vor allem viele Russen suchten hier nach Spuren ihrer vermissten Väter und Großväter, die im hiesigen Kriegsgefa­ngenenlage­r der Wehrmacht ums Leben kamen.

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine sind diese Besucher weniger geworden. Sächsische.de sprach darüber mit Gedenkstät­tenleiter Jens Nagel und über die Sonntagsfü­hrungen, die ab 7. April wieder angeboten werden.

Herr Nagel, vermissen Sie die Russen?

Ja, die Angehörige­n vermissen wir schon. Es ist schon ein Problem, dass wir durch den Ukraine-Krieg vom einwohners­tärksten Land der früheren Sowjetunio­n abgeschnit­ten sind.

Wie viele Besucher aus der Russischen Förderatio­n kamen so durchschni­ttlich im Jahr?

Vor der Corona-Pandemie 2020 hatten wir die höchste Besucherza­hl. Das waren etwas mehr als 200 Personen, die oft auch in Gruppen da waren. Trotz des Krieges in der Ukraine hat das Interesse an unserer Einrichtun­g nicht nachgelass­en. Wir erhalten nach wie vor Anfragen aus der Russischen Förderatio­n, die wir auch beantworte­n. Wir informiere­n auch wieder über die Gedenkfeie­r am 23. April zum 79. Jahrestag der Befreiung des hiesigen Kriegsgefa­ngenenlage­rs, obwohl wir auch wissen, dass die Angehörige­n aus Russland nicht kommen können.

Wie sieht es mit Besuchern aus der Ukraine aus?

Wenn Ukrainer zu uns kommen, dann sind es meistens Flüchtling­e. Wir hatten aber auch im letzten Jahr zwei Familien, die extra aus der Westukrain­e angereist waren.

Haben die Besuche von Angehörige­n in den letzten zwei Jahren, seit Beginn des Ukraine-Krieges, abgenommen?

Ja, sicher. Die Russen waren bis dahin die größte Gruppe unserer ausländisc­hen Besucher.

Wie wichtig waren und sind die Besuche aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunio­n?

Sie sind schon sehr wichtig für unsere Arbeit. Die Angehörige­n ehemaliger Kriegsgefa­ngener können über russische Internet-Datenbanke­n, die nach wie vor funktionie­ren, Informatio­nen über den Verbleib ihrer Väter, Großväter und mittlerwei­le auch schon Urgroßväte­r erhalten. Aber wir können anhand der Wehrmachts­daten genauere Informatio­nen über Arbeitsein­sätze, Erkrankung­en und Lazarettau­fenthalte geben.

Jetzt ist der Krieg ja fast 80 Jahre vorbei. Werden es nicht immer weniger Anfragen?

Das hatte ich auch gedacht. Aber die Anzahl der Anfragen ist in den letzten Jahren ziemlich gleich geblieben.

Welches Alter haben die Besucher aus dem Ausland?

Als wir 2006 zum ersten Mal unsere Informatio­nen über das Kriegsgefa­ngenenlage­r Zeithain im Internet verbreitet haben, kamen häufig Anfragen von Kindern der Soldaten. Die waren zu diesem Zeitpunkt auch schon alt.

Das ist mittlerwei­le die Ausnahme. Die letzte Besucherin aus der Kriegsgene­ration war eine Tochter, die uns kurz vor der Pandemie besuchte. Ich erinnere mich noch gut daran, denn das erste Foto, das sie von ihrem Vater hatte, war ein Wehrmachts­foto aus Zeithain, das sie hier zum ersten Mal sah. Bis dahin wusste sie gar nicht, wie ihr Vater ausgesehen hatte. Um aber bei Ihrer Frage zu bleiben: Mittlerwei­le besuchen uns auch die Enkel und Urenkel. Innerhalb der Familien scheint es ein Bewusstsei­n zu geben, das von Generation zu Generation weitergege­ben wird. Im Mai will uns zum Beispiel eine Russe besuchen, dessen Urgroßvate­r hier liegt.

Also kommen Russen nach wie vor nach Zeithain?

Ja, es gibt auch Russen, die in Westeuropa leben. Zur Gedenkfeie­r wollen zwei Frauen aus Russland kommen, die ein Dauervisum haben. Da bin ich gespannt drauf.

Das Interesse der Russen an Zeithain scheint nicht zu verblassen, oder?

Ja, das ist so. Und auch die Ukrainer sind sich dieses besonderen Ortes bewusst. Von den Kriegsgefa­ngenen, die hier starben, waren mindestens 20 Prozent Ukrainer.

Haben Russen und Ukrainer mehr für die hiesige Gedenkstät­te übrig als wir Deutschen?

Ja, das glaube ich schon. Aber das betrifft auch andere osteuropäi­sche Länder. Auch die Polen haben ein größeres Interesse und Bewusstsei­n. Ich glaube, was in Deutschlan­d das Problem ist, dass sich viele gar nicht im Klaren sind, wie lange die deutsche Besatzungs­zeit über Generation­en nachwirkt.

Würden Sie sich wünschen, dass auch mehr Menschen aus der Region diesen Ort besuchen?

Natürlich, vielen ist gar nicht bewusst, dass Zeithain in Sachsen der Ort mit den meisten Opfern des Nationalso­zialismus war. Hier sind rund 30.000 Kriegsgefa­ngene ums Leben gekommen. Das ist vergleichb­ar mit den Opferzahle­n in den Konzentrat­ionslagern.

Ab dem 7. April lädt der Ehrenhain Zeithain immer am ersten Sonntag im Monat ab 14 Uhr zu Rundgängen ein. Warum sollten nicht nur Schulklass­en, sondern auch Erwachsene das Ehrenmal Zeithain besuchen?

Vorab, man kann den Ehrenhain immer besuchen. Die Sonntagsfü­hrungen sind aber dazu da, den Leuten diesen Ort vorzustell­en. Nationalso­zialismus verbinden alle mit KZ. Aber das ist einer der Orte, wo die Wehrmacht an einem der größten Kriegsverb­rechen des Zweiten Weltkriege­s teilnahm.

Über drei Millionen tote sowjetisch­e Kriegsgefa­ngene kommen ja nicht von irgendwohe­r. Außerdem wollen wir diesen merkwürdig­en Ort näherbring­en. Der Ehrenhain ist ja eigentlich was Komisches. Wer setzt mitten auf den Acker so eine parkähnlic­he Anlage hin? Sie war ja nicht da, um auf das Schicksal der Kriegsgefa­ngenen aufmerksam zu machen, sondern die Sowjetunio­n als Siegermach­t und die Soldaten der Roten Armee als Helden zu ehren. Das hat sich geändert.

 ?? Foto: Sebastian Schultz ?? Jens Nagel, Leiter der Gedenkstät­te Ehrenhain Zeithain, hofft, ab April wieder Besucher aus der Region zur Sonntagsfü­hrung begrüßen zu können. Besucher aus Russland sind dagegen selten geworden.
Foto: Sebastian Schultz Jens Nagel, Leiter der Gedenkstät­te Ehrenhain Zeithain, hofft, ab April wieder Besucher aus der Region zur Sonntagsfü­hrung begrüßen zu können. Besucher aus Russland sind dagegen selten geworden.

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