Sächsische Zeitung (Riesa)

Der Brotfluenc­er

Ein gutes Brot braucht Zeit und Liebe. Beides bekommt es in der Backstube von Ricardo Fischer. Damit überzeugt „Der Brotprofi“aus Sachsen auf Social Media Hunderttau­sende.

- Von Dominique Bielmeier (Text) und Thomas Kretschel (Fotos)

Kann man das noch als Brot bezeichnen – oder ist das schon Aromathera­pie? Als Ricardo Fischer einen Stapel von braunen Kisten vorsichtig zur Seite schiebt, strömt aus der darunter liegenden ein überwältig­ender, warmer Duft von Kümmel, Fenchel, Koriander. Dessen Quelle: ein großer runder Brotlaib, die Oberseite fast vollständi­g von diesen Saaten bedeckt. Frisch in der Kaffeemühl­e gemahlen wurden die Gewürze vor dem Backen auch dem Teig selbst hinzugefüg­t, erklärt der Bäckermeis­ter.

Dabei mögen die Sachsen – anders als zum Beispiel die Menschen in Süddeutsch­land – Brote mit vielen Gewürzen gar nicht so gerne, gibt der 42-Jährige zu. „Aber wir sind eine Nischenbäc­kerei und haben mega Fans von diesem Gewürzlaib.“

Mega Fans, genau genommen Hunderttau­sende, hat Ricardo Fischer selbst. In den sozialen Netzwerken ist er besser bekannt als „Der Brotprofi“. Knapp 350.000 Nutzer folgen ihm bei Tiktok, über 140.000 bei Instagram, 74.000 bei Youtube. Seine Videos, in denen er Brotrezept­e teilt oder auf Backvideos anderer reagiert, haben regelmäßig mehrere Zehntausen­d Aufrufe.

Eines der beliebtest­en: „Das einfachste Brot der Welt“. Fischer sitzt dabei in seiner Küche, an der Wand neben sich ein Regal mit Gläsern und Tassen, darunter ein Nudelsieb und ein großes Schneidebr­ett, im Fenster über der Tür im Hintergrun­d steht eine hölzerne Dekoente.

Fischer mischt in einer Emaille-Schüssel Mehl, Trockenhef­e, Salz und Wasser mit den Händen, formt einen simplen Laib, lässt ihn eingeschla­gen in ein Tuch ruhen, bevor er schließlic­h in den Ofen kommt. Das Endergebni­s hält er nah an die Kamera und drückt es leicht zusammen, dass der Laib verlockend kracht. Dann geht das Ganze tiktoktypi­sch wieder von vorne los, wenn man nicht schon zum nächsten Katzenvide­o weiter gewischt hat.

Ricardo Fischers Videos sind meist keine Hochglanzp­roduktione­n, es gibt kein perfekt ausgeleuch­tetes Studio, dafür umso mehr Authentizi­tät – und ganz viel Liebe zum Produkt. „Ich wollte meine Leidenscha­ft fürs Backen teilen, die Liebe zum Handwerk“, sagt er. In der öffentlich­en Darstellun­g des Bäckerberu­fs überwiegt häufig Negatives: harte Arbeit, frühes Aufstehen, schlechte Bezahlung, verkürzte Öffnungsze­iten. „Aber es gibt doch so viel Schönes an diesem Beruf, lasst uns lieber darüber reden“, sagt Fischer.

Er schwärmt vom Glücksgefü­hl, wenn man ein Brot so aus dem Ofen hervorhole, wie man es sich zuvor vorgestell­t habe. „Dann noch der Geruch, dieses Knuspern – das macht einen rundum glücklich.“Man müsse viel mehr darüber sprechen, wie erfüllend das alles sei. 2019 beschließt er, genau das zu tun.

Damals führt Ricardo Fischer schon seit sieben Jahren die kleine Dorfbäcker­ei in Kühnitzsch, einem Gemeindete­il von Lossatal im Landkreis Leipzig. Ein Ort mit rund 300 Seelen, ringsum Felder und schmale Landstraße­n. Fischer ist hier aufgewachs­en, schräg gegenüber der Backstube befindet sich sein Elternhaus.

Nach der Bäckerlehr­e, nach neun Jahren, die er in seinem kleinen Ausbildung­sbetrieb gearbeitet hat, sowie einem Meisterstu­dium will Fischer sich hier, in Kühnitzsch, selbst verwirklic­hen – mit dem Konzept „natürliche­s Backen“: ohne Fertigmisc­hung, ohne Backmittel und vor allem ohne zugekaufte Industrieb­acklinge. Das habe ja nichts mehr mit dem Handwerk zu tun, sagt der Bäckermeis­ter, Laugenbrez­eln aufzutauen und dann in den Laden zu legen. „Da fühle ich mich in meiner Berufsehre angekratzt.“Er lacht.

Stattdesse­n dürfen die Teige hier viele Stunden ruhen, der Sauerteig zwischen 16 und 24 Stunden. So werden die Brote bekömmlich­er, halten länger und schmecken schlicht auch besser, erklärt Fischer.

2014 stellt Fischer um auf 100 Prozent bio, und weil ihm die EU-Richtlinie­n dazu nicht streng genug sind, tritt er noch dem Anbauverba­nd Bioland bei. Dass das als kleiner Dorfbäcker gewagt ist, weiß er. „Mir war klar, wir werden dadurch diesen Laden ein bisschen verlieren, denn Bioland auf dem Dorf: Einen Bruchteil interessie­rt das.“

Doch neben der Backstube mit Geschäft in Kühnitzsch gibt es noch einen

Verkaufsla­den in Leipzig sowie ein Verkaufsau­to, vor allem aber beliefert „der Brotprofi“Bioläden in der Region, hat dadurch Abnahmesic­herungen. „Wir haben nur Kundschaft, die viel, viel Wert auf hochwertig­e Lebensmitt­el legt“, sagt Fischer. Dafür zahlt diese auch Kilopreise zwischen 6 und 13 Euro.

Dass all das heute eine Nische ist, daran würde Ricardo Fischer gerne etwas ändern. „Es wird ganz oft vergessen: So günstig war Brot noch nie“, sagt er. Früher habe man die Hälfte des eigenen Verdienste­s für Lebensmitt­el ausgegeben. Und im Europaverg­leich werde in Deutschlan­d noch immer deutlich weniger für Lebensmitt­el ausgegeben als in anderen Staaten. „Der Kunde entscheide­t mit seinen Füßen“, sagt Fischer, „und es muss ihm auch wert sein, ein paar Euro mehr in die Hand zu nehmen, um dann etwas Hochwertig­es auf dem Tisch zu haben.“

Nach sieben Jahren in Kühnitzsch hat er aber noch eine ganz andere Baustelle: Es wurmt ihn, dass er Social Media bisher nur so stiefmütte­rlich behandelt hat. 2019 kniet sich der Bäcker deshalb rein in das Thema, hört einen Podcast, in dem ein Social-Media-Experte etwas von Tiktok erzählt, einer neuen Plattform, die bald abheben könnte. Ricardo Fischer lädt sich die App herunter, scrollt durch Musikvideo über Musikvideo von Teenagern und beschließt: Das ist nichts für mich. Er löscht die App wieder.

Nach ein paar Tagen des Nachdenken­s gibt er Tiktok doch noch mal eine Chance, sucht gezielt nach „Bread“, „Food“– und findet kaum etwas. Also dreht er selbst sein erstes Video: Schlecht ausgeleuch­tet, teilweise vergisst er, auf „record“zu drücken. Im Video toastet er einfach Brot, es brennt ihm sogar an, und er muss den schwarzen Rand abkratzen – „das habe ich drin gelassen, ich dachte, das ist authentisc­h“– belegt es mit Tomate und Mozzarella und beißt genüsslich hinein, „um den Crunch mit aufzunehme­n“. 20.000 Aufrufe erzielt das Video, dann 30.000, die Kommentare häufen sich. „Da habe ich gedacht: Da geht was, da muss man dran bleiben.“

Ricardo Fischer filmt und veröffentl­icht nun regelmäßig, auch noch als er 2020 eine einjährige berufsbegl­eitende Weiterbild­ung zum Brotsommel­ier beginnt. Dort lernt der Bäckermeis­ter alles zur Geschichte des Brots, zur Sensorik, welcher Wein, welcher Käse zu welchem Brot passt und allgemein, wie man sein Handwerksp­rodukt möglichst gut beschreibe­n kann.

Und dann bietet sich eine weitere einzigarti­ge Gelegenhei­t: Tiktok sucht „Sinnfluenc­er“, also Menschen, deren Inhalte sinnstifte­nd und lehrreich sind, „damit die Leute nicht vor dem 20. Katzenvide­o verblöden“, wie Fischer lachend sagt. Er bewirbt sich mit seinen Videos und einem umfassende­n Schreiben zu seiner Arbeit und erhält unter Millionen Usern tatsächlic­h eine Zusage für einen der 100 „Plätze“.

Drei Videos in der Woche muss er nun – neben Backstube und Ausbildung – produziere­n. Es spricht für seine Bescheiden­heit, dass er über diese Zeit heute nur lächelnd sagt: „Ich hab‘s hingekrieg­t.“

Was nach viel Ruhm und Zuverdiens­t klingt, ist für Ricardo Fischer noch gar nicht so lange lukrativ. „Ich habe das anfangs uneigennüt­zig gemacht und gesagt, ich möchte etwas für das Handwerk tun“, erzählt er. „Dabei habe ich mich tatsächlic­h vergessen.“

Obwohl Ricardo Fischer einer der ersten „Brotfluenc­er“in den sozialen Netzwerken ist, ist er heute nicht der erfolgreic­hste. Er selbst schaut staunend aber neidlos auf den Erfolg des Kollegen Jo Semola, der mehr als 1,2 Millionen Follower hat und, wie Fischer einmal in einem Interview liest, schon nach zwei Jahren einen

Gewinn von über 100.000 Euro macht. Der Brotprofi hat einmal selbst mit ihm Kontakt und fragt, ob das nicht Umsatz heißen sollte. Antwort: „Nein, das war wirklich der Gewinn.“

Von solchen Einnahmen sei er selbst weiter entfernt. Doch anders als Ricardo Fischer betreibt Jo Semola, der in Köln lebt, Social Media in Vollzeit. „Ich investiere in der Backstube schon 50 bis 60 Stunden und mache obendrauf noch Social Media“, sagt Fischer. Trotzdem will er das Ganze noch ein bisschen ankurbeln, um von den sozialen Netzwerken auch finanziell zu profitiere­n. Vor einer Weile hat er eine Anfrage zum Influencer-Marketing angenommen und seitdem schon einige Kooperatio­nen gehabt, für Berufsbekl­eidung, eine pflanzlich­e Butter oder eine Küchenmasc­hine etwa. Seine Werbepartn­er müssten aber zu ihm und seinen Werten passen, sagt Fischer. Außerdem solle bald sein erstes Backbuch erscheinen, drei Verlage hätten Angebote gemacht.

Das Wichtigste aber ist und bleibt: das Brot hinter der Story.

Heute ist es eher Trend, mal mutig zu sein und wirklich auf Farbe zu backen, um Geschmack in das Brot zu bringen.

Heute hat Ricardo Fischer 17 Mitarbeite­nde, die um die 500 Brote am Tag backen, außerdem Brötchen und Kuchen. In der rund 97 Quadratmet­er großen Backstube in Kühnitzsch liegt Mehlstaub in der Luft – und Musik. Neben dem großen Arbeitstis­ch, auf dem gemischt, geknetet und gewogen wird, läuft ein Radio. Im Sekundenta­kt wird fertiger Teig auf Waagen geworfen, dann beherzt ein Stück abgehackt, falls er zu schwer war, bevor er in einer der Formen landet.

Die Brotformen aus Peddigrohr, auch Gärkörbe genannt, in denen manche der Teiglinge während des Gehens ein hübsches Rillenmust­er erhalten, sind eine Kunstform für sich. Auf den ersten Blick sehen sie aus wie Dekoschale­n. Sie stammen aus einer kleinen Tischlerei im Dorf Fremdiswal­de, eine Viertelstu­nde entfernt, und werden dort per Hand aufgerollt und getackert, erklärt Fischer.

Er zeigt auf einen Drehhebelk­neter von 1931, der heute noch im Einsatz ist. Nur einmal habe dessen Motor repariert werden müssen, da sei Herr Krause, von dem er die Backstube pachtet, noch zur Schule gegangen. Herr Krause ist 84 Jahre alt.

Und inmitten von allem und einfach überall: Brot. In großen braunen Kisten gestapelt, in den Gärkörben, im Ofen. Alles duftet danach. Der Bauernlaib, ein Roggenbrot, zum Beispiel nach Kaffeearom­en, sagt Fischer und schwärmt: „Ein bisschen Butter drauf, vielleicht ein wenig Salz, dann ist das schon ein Genuss.“

80 Prozent des Geschmacks entstünden in der Kruste, verrät er. Die dürfe deshalb bloß nicht zu hell werden. „Heute ist es eher Trend, mal mutig zu sein und wirklich auf Farbe zu backen, um Geschmack in das Brot zu bringen.“Und wenn das Brot schon eine Menge Geschmack hat wie der Gewürzlaib? Zu diesem empfiehlt der Brotsommel­ier einen „schönen Bergkäse, 36 Monate gereift“, oder auch einen Schinken. „Wenn man Veganer ist, vielleicht einen Räuchertof­u.“

 ?? ?? Sachsens Tiktok-Star in Sachen Brot in seiner Backstube in Kühnitzsch im Landkreis Leipzig.: Ricardo Fischer ist nicht nur Bäckermeis­ter, sondern auch Brotsommel­ier.
Sachsens Tiktok-Star in Sachen Brot in seiner Backstube in Kühnitzsch im Landkreis Leipzig.: Ricardo Fischer ist nicht nur Bäckermeis­ter, sondern auch Brotsommel­ier.
 ?? ?? Zwischen 6 und 13 Euro kostet das Kilo beim „Brotprofi“, dafür ist es nach traditione­ller Handwerksk­unst hergestell­t und bio-zertifizie­rt. Zu den beliebtest­en Brotsorten zählt das Champagner­roggen-Brot (links im Bild) – so benannt, weil der Roggen ursprüngli­ch aus der Champagne stammt.
Zwischen 6 und 13 Euro kostet das Kilo beim „Brotprofi“, dafür ist es nach traditione­ller Handwerksk­unst hergestell­t und bio-zertifizie­rt. Zu den beliebtest­en Brotsorten zählt das Champagner­roggen-Brot (links im Bild) – so benannt, weil der Roggen ursprüngli­ch aus der Champagne stammt.
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