Warum ich Rammstein liebe, es aber nicht mehr hören kann
Zwei Drittel seines Lebens war unser Autor glühender Rammstein-Fan, dann wurden Sex-Praktiken auf Konzerten bekannt. Damit wich seine Faszination dem Ekel. Doch er fragt sich: Was wirft er hier weg?
Der 11. Dezember 2004 war der beste Tag meines zehnjährigen Lebens. Am Nachmittag stand auf Schalke mein erster Besuch in einem Fußballstadion an. Doch das war nur das Zweitbeste. Abends fuhren wir weiter nach Dortmund zum Konzert meiner damals absoluten Idole: Rammstein.
Der 25. Mai 2023 war einer der schlechteren Tage. Die Irin Shelby Lynn erhob schwere Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann. Sie sei „gecastet“und dann unter Drogen gesetzt worden. Andere Opfer meldeten sich. Journalisten recherchierten. Die Band äußerte sich knapp. Sonst schwieg sie. Und mir, der zwei Drittel seines Lebens glühender Rammstein-Fan war, drehte sich der Magen um. Kann ich weiterhin Fan sein?
„Messer“beim Gedichte-Wettstreit
Bei Rammstein ging es für mich immer um mehr als um harte, mitreißende Musik. Das frühe, platt Provokante der Band hat mich selten begeistert. „Bück dich“, „Engel“und „Sonne“sind gute Songs, aber es steckt nicht viel dahinter. Noch schlimmer sind „Du hast“und „Feuer Frei“und „Benzin“, denn auch, wenn es sich um einige der größten Hits der Band handelt – diese Titel sind schlicht blöd und mir inzwischen egal. Die echte Liebe steckt im lyrischeren Rammstein, vor allem ab dem besten Rammstein-Album von allen – „Reise, Reise“von 2004. „Dalai Lama“, „Mein Teil“, „Feuer und Wasser“– damit konnte ein pubertierender Möchtegern-Lyriker wie ich damals so einiges anfangen. Feine Worte auf heftigen Rhythmen, meine Mutter fand es schrecklich – und damit war es für mich einfach perfekt.
2011 fand in meinem Gymnasium ein Rezitatoren-Wettstreit statt. Im Vorfeld hatte ich natürlich ein Gedicht aus Till Lindemanns erstem Gedichtband „Messer“eingereicht. Meine Deutschlehrerin fragte ein wenig unsicher: „Du bist ganz sicher, dass das nicht irgendwie rechts ist oder so?“Natürlich nicht, und die Vorwürfe sind bis heute Unsinn.
Das Gedicht, das ich wählte, heißt „Nele“. Es geht um das Beschützen eines Kindes, was in Lindemanns mächtiger, eher brutaler Sprache beschrieben wird. Mein Elftklässler-Ich schrie: „Ich würde Scheiße fressen, ich würde Eiter saufen, mir den Arsch versilbern lassen.“Nur um sich am Ende tränenerstickt zu wünschen, „bei dir sein“zu können. Dieses Gedicht trifft meine Faszination für die Person (oder Figur?) Till Lindemann. Nach außen: Feuer, Muskeln, tiefe Stimme, Finsternis. In seinen Texten verletzlich, melancholisch, voller Wut – aber nicht auf die Welt um ihn herum, sondern auch auf sich selbst. Und ich habe vertraut. Ich habe vertraut, dass diese Worte und Verse den echten Till Lindemann zeigen, dass die stählerne Provokation ein Spiel, weit entfernt von der Realität ist. Provokation ist das Stichwort. Sind wir ehrlich: Wen haben die Vorwürfe überrascht? Jahrelang hatte es Gerüchte gegeben. Das Album „Liebe ist für alle da“hatte 2009 mit „Ich tu dir weh“und „Wiener Blut“eine Richtung eingeschlagen, die mich bei jeder anderen Band abgestoßen hätte. Es ist keine schöne, kreative oder gar interessante Form der Provokation, sondern pure Gewalt.
2018 hat Till Lindemann eine solche Provokation übrigens noch einmal erreicht. „Mathematik“ist ein Song mit Haftbefehl, und er ist von vorn bis hinten so scheußlich, dass er bei den größten Rammstein-Fans in meinem Umfeld einfach nur Empörung auslöste – Gesprächsstoff und ein perfekter Mittelfinger an alle Hörer.
In einer Nacht vor ein paar Wochen habe ich mir ziemlich betrunken das ganze „Reise, Reise“-Album auf Platte angehört. Bei „Amour“musste ich abbrechen. „Lässt sich fallen weich wie Schnee. Erst wird es heiß, dann kalt, am Ende tut es weh.“Ich kann diese Zeilen angesichts des verursachten Leids und der Ignoranz der Band nicht mehr ertragen. Denn die Magie ist dahin. Plötzlich sind Zeilen über Liebe und Schmerz nicht länger ein Blick in eine verwundete Seele, sondern in einen zur Jagd bereiten Intimbereich. In meinem Kopf setzt sich Till Lindemann lachend auf eine riesige Penis-Kanone aus Metall und bespritzt sein Publikum mit weißem Schaum. Die hatten sie nach den Anschuldigungen von der Bühne verbannt, kramen sie in diesem Jahr aber offenbar wieder hervor.
Es zeigt einen völlig ignoranten, fast kindischen Umgang mit den Vorwürfen. Die massenhafte Anschuldigung von Vergewaltigung ist nichts, worauf man mit zwei knappen Statements antworten kann, danach wartet, bis der Sturm vorüber ist und sich dann wieder auf eine Penis-Kanone setzt. Auch die Porno-Musikvideos von Lindemann sind übertrieben, fast verzweifelt – Flucht nach vorn in die nächste Provokation. Wo ist der Lindemann aus den Gedichten, der so verletzlich über Schmerz schrieb? Ist er ihm nur dann Zeilen wert, wenn er ihm selbst widerfährt, nicht wenn er ihn verursacht? „Nicht bewiesen“steht in vielen Kommentaren zum Thema. Das stimmt. Vor Gericht gab es keine Verurteilung. Viele der Praktiken, das Casting, die
Row Zero, der Sex hinter der Bühne, das offenbar schlechte Verhältnis der Bandmitglieder jedoch sind unbestritten, und sie genügen völlig, um mein Bild von Rammstein zu zerstören – so naiv das auch gewesen sein mag.
Ich werde also in Dresden zu keinem der vier Rammstein-Konzerte gehen. Ganz ehrlich: Ich hätte Lust – auf das Erlebnis, auf den Sound, auf die Songs, die ich alle auswendig kann. Und ein Teil von mir beneidet die Massen, die da feiern und sich hingeben.
Rammstein haben mein Leben geprägt, in Musik, Sprache und einem Bild von Männlichkeit. Und sie haben mir alles bedeutet. Und heute könnten sie so einen gewaltigen Unterschied machen. Wenn sie sich ernsthaft auseinandersetzen, sich positionieren oder gar Fehler eingestehen würden. Niemand wäre glaubwürdiger im Kampf gegen männlichen Macht-Missbrauch. Stattdessen zeigt die Band allen Opfern von Gewalt öffentlich den Mittelfinger. Früher war Rammstein nicht greifbar, flüchtete sich gekonnt in Ironie und Provokation. Nach dem Skandal sind sie klarer zu erkennen. Und was ich sehe, kann ich nicht lieben.
Aber eines weiß ich auch ganz sicher: Rammstein kommt perfekt ohne mich klar.