Sächsische Zeitung (Riesa)

Es lebe unsere Verfassung!

Das Grundgeset­z wird 75, gilt aber immer noch als vorläufig. Zum 35. Tag der Einheit im kommenden Jahr sollten wir das ändern und es endlich zu unserer Verfassung machen.

- Von Markus Meckel

Wer sich das Grundgeset­z aus Anlass seines 75. Geburtstag­s einmal zur Hand nimmt und darin liest, stellt am Ende plötzlich fest, dass es nur vorläufig gilt: Der letzte Artikel 146 schreibt nämlich fest, dass es seine Gültigkeit an dem Tage verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidu­ng beschlosse­n worden ist“.

Man reibt sich die Augen: Gerade in diesen Tagen wird uns in vielen Reden und Artikeln erfreulich klar in Erinnerung gerufen, welch grundlegen­der Text dies für uns Deutsche war und ist.

Nach den Schrecken und Verbrechen, die wir Deutschen in der Zeit des Nationalso­zialismus über ganz Europa gebracht haben, nach millionenf­acher grausiger Verletzung von Recht und Menschlich­keit waren die ersten 20 Artikel des Grundgeset­zes wie Paukenschl­äge, die Deutschlan­d auf eine neue Grundlage stellen sollten. „Die Würde des Menschen ist unantastba­r.“Das Bekenntnis zu den unverletzl­ichen und unveräußer­lichen Menschenre­chten, die 1948 von der UNO beschlosse­n worden waren, und die folgenden Grundrecht­sartikel 1 – 20 sollten dauerhaft gelten.

Warum dann heute noch diese Vorläufigk­eit? Welcher Weg soll da offengehal­ten werden?

Ich bin dafür, diese zu beenden und den Artikel 146 zu streichen. Wenn das Grundgeset­z so grundlegen­d ist, wie wir es in diesen Tagen hören – und wir das ja wohl auch in großer Mehrheit so empfinden und für richtig halten, dann braucht es kein Warten darauf, dass die Deutschen sich eine neue Verfassung geben. Ja, es ist sogar kontraprod­uktiv und verunsiche­rnd.

Das Grundgeset­z war 1949 noch ein Zeugnis der Teilung und der Abwehr gegenüber dem Kommunismu­s, der im Osten Europas und auch Deutschlan­ds diese Würde und Grundrecht­e zutiefst missachtet­e, und schrieb die Lehren aus der Vergangenh­eit fest. Es hatte zum Ziel, dass diese künftig einmal für alle Deutschen möglich werden sollten.

Das Streben nach der Einheit in Freiheit und Demokratie, die vor 75 Jahren, im Kalten Krieg und der sich immer mehr manifestie­renden Teilung Europas und der Welt nicht möglich war, bekam Verfassung­srang. Dafür hatte der alte Artikel 146 eine wesentlich­e Bedeutung.

1989 – vor 35 Jahren – eroberten sich Freiheit und Demokratie im Osten Europas und auch Deutschlan­ds neuen Raum. Michail Gorbatscho­w spielte dabei eine zentrale Rolle, ebenso gesellscha­ftliche Kräfte wie die Solidarnos­c in Polen, opposition­elle und reformeris­che, nach Freiheit, Unabhängig­keit und Selbstbest­immung strebende Bewegungen in den baltischen Staaten, in Ungarn, der DDR und der Tschechosl­owakei, um nur einige zu nennen.

Der Sieg von Freiheit und Demokratie 1989 führte zum Ende des Kalten Krieges, der Fall der Mauer wurde dafür zum Symbol. Für Deutschlan­d eröffnete sich die Chance der Einheit, in den Herzen der meisten Ostdeutsch­en war die neu gewonnene Freiheit eng mit dem Wunsch nach Einheit verbunden. Dass sie dann möglich wurde, ist eine Glücksstun­de der Deutschen im 20. Jahrhunder­t: 45 Jahre nach all den Schrecken und Verbrechen, mit denen wir Europa überzogen hatten, konnten wir uns in Freiheit vereinen, akzeptiert von allen Nachbarn und ehemaligen Gegnern.

Im Zuge der Vereinigun­g kam es zu mancherlei Verletzung­en, die bis heute nachwirken und aufgearbei­tet werden müssen. Damals spielte die Diskussion um die Verfassung eine wesentlich­e Rolle. Viele halten es bis heute durchaus begründet für einen Fehler, dass bei dem rechtliche­n Weg der Vereinigun­g als Beitritt nach Artikel 23 GG nicht wenigstens auf der Grundlage des Grundgeset­zes ein Akt gemeinsame­r Verfassung­sgebung ermöglicht wurde.

Heute feiern wir das Grundgeset­z, mit dem wir Ostdeutsch­en nun auch schon bald 35 Jahre lang beste Erfahrunge­n gemacht haben. Ich kenne kein Land, dessen Verfassung mir lieber wäre!

Gleichzeit­ig erleben wir, dass nicht nur in unserem Land, sondern in Europa und weltweit die freiheitli­che und liberale Demokratie, die im Grundgeset­z für Deutschlan­d festgeschr­ieben ist, unter Druck steht.

Nehmen wir ernst, was in diesen Tagen Wichtiges zu diesem Grundlagen-Text gesagt wird, und nehmen es als Orientieru­ng für die Zukunft. Man kann (historisch) erklären, wie es zum alten und dann jetzigen Artikel 146 kam. Sachlich begründen, weshalb wir ihn heute noch brauchen, aber wohl kaum.

Ein Jahr Durchbuchs­tabieren der Festreden dieser Tage – ein Jahr Selbstverg­ewisserung und Prüfung der Tragfähigk­eit dieser Grundlagen für die Zukunft – und dann spitzen wir nicht nur den Mund, sondern pfeifen auch und machen dieses Grundgeset­z zu unserer dauerhafte­n Verfassung!

Vielleicht finden sich ja dann sogar noch die notwendige­n Mehrheiten, um diese Verfassung dann noch besser zu machen. Etwa durch die Sicherung von Kinderrech­ten, wie es die vergangene Große Koalition einmal wollte. Oder man findet eine Formulieru­ng für das Staatsziel Kultur. Verschiede­ne Vorschläge für weitere Änderungen stehen im Raum, vielleicht sogar solche zur Sicherung von Minderheit­enrechten, die bisher in Deutschlan­d nur in Länderverf­assungen stehen. Doch am Gelingen solcher Ergänzunge­n hängt es nicht.

Gerade angesichts vieler Anfragen über die Tragfähigk­eit unserer Demokratie sich über unsere gesellscha­ftlichen und staatliche­n Rechtsgrun­dlagen neu zu vergewisse­rn und sie schließlic­h für dauerhaft zu erklären, wäre ein großer Gewinn. So lasst uns im nächsten Jahr zum 35. Tag der Deutschen Einheit durch Streichung des Vorläufigk­eitsartike­ls 146 das Grundgeset­z zu unserer Verfassung machen.

 ?? Foto: dpa ?? Historisch­er Glücksmome­nt: am 23. Mai 1949 unterzeich­nete Konrad Adenauer das Grundgeset­z der Bundesrepu­blik.
Foto: dpa Historisch­er Glücksmome­nt: am 23. Mai 1949 unterzeich­nete Konrad Adenauer das Grundgeset­z der Bundesrepu­blik.

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