Der Westen, eine Erfindung des Ostens
In ihrem neuen Buch beschreibt Ursula Weidenfelds anschaulich, auf wie vielen Ebenen sich einst die beiden deutschen Staaten einen Wettbewerb lieferten und welche Folgen das bis heute hat.
Gehört die Friedliche Revolution von 1989 eigentlich zur DDR-Geschichte? Sie tut es, meint Ursula Weidenfeld, denn erst danach war Schluss mit dem zweiten deutschen Staat. Wäre es dann nicht gerecht, die Geschichte dieses Staates DDR gleichberechtigt zur Geschichte der alten Bundesrepublik zu schreiben und eben nicht, wie es sich in der Praxis durchgesetzt hat, als eine „Verlierer-Geschichte“, die „Höchststrafe für untergegangene Staaten“? Gesagt, getan. Zwei gültige Stränge der deutschen Geschichte in einem Buch, das ist „Das doppelte Deutschland. Eine Parallelgeschichte 1949 – 1990“.
Weidenfeld, erfahrene Wirtschaftsjournalistin und Buchautorin (u.a. „Regierung ohne Volk“und „Die Kanzlerin“), erzählt darin weit mehr als nur die historischen Knackpunkte jener 40 Teilungsjahre – den 17.Juni 1953, Prag 1968, die Biermann-Ausbürgerung… Sie erzählt die Geschichte der zwei Staaten als Geschichte zweier sich ständig aufeinander beziehender Systeme. Ein Wettbewerb, bei dem jeder der beiden der Bessere sein wollte. Weidenfeld beschreibt die sehr unterschiedlichen Startbedingungen in Ost und West. Die Amerikaner, die ihre Besatzungszone (bzw. ganz
„Trizonesien“) mit dem Marshall-Plan aufund die Russen, die mit den Reparationsforderungen ihre Zone abbauen. Sie beschreibt die pragmatische Laxheit des Westens bei der Entnazifizierung. Diesen Wettbewerb gewann der Osten, wohingegen der Westen schneller wirtschaftlich florierte, vielleicht ja auch gerade deshalb.
Wettbewerb war überall, man kennt das vom Sport, wo im Medaillenspiegel der Osten die Nase vorne hatte, mit ungeheurer staatlicher Unterstützung und zum Ende hin immer mehr mit ungeheuerlichem staatlichen Doping im Rücken. Weniger beleuchtet wurde bisher, wie stark die beiden Staaten auch in Kunst und Kultur wetteiferten. Die Veröffentlichung von in der DDR undruckbaren Büchern im Westen zum Beispiel war eben mehr als nur Literatur – sie machte Politik.
Auch die Rückkehr der Preußen ins Geschichtsbild der beiden Staaten war eine Art Wettstreit, in dem die bis dahin – abgesehen vom antifaschistischem Widerstandskampf – geschichtslose DDR mit dem Westen mithalten wollte. Ebenso beim großen Luther-Jubiläum 1983, als die DDR von ihrem Dogma abrückte, die Reformation ausschließlich als frühbürgerliche Revolution zu interpretieren. Thomas Müntzer und die Bauern hatten im Arbeiter-und-Bauern-Staat immer schon ziemlich gute Karten, der „Fürstenknecht“Luther eher nicht. Unter Erich Honecker änderte sich das, er förderte das Luther-Gedenken – im Wettstreit mit dem Westen um internationale Aufmerksamkeit. Am Ende stand sogar ein gemeinsamer Festakt von Ost und West auf der Wartburg.
Ausführlich geht Weidenfeld auf einen bisher weitgehend unbeachteten Systemkampf
ein, der scheinbar nur Alltagsgeschichte ist, in Wahrheit aber sehr vielsagend. Er wurde mit Paketen ausgetragen. Initiiert von den Amerikanern, später von Privatpersonen getragen, wurden bekanntlich zahllose Pakete in den Osten geschickt. Der Inhalt war nicht selten vorher bekannt: Kaffee, Strumpfhosen, eine Creme21-Dose, ein Matchbox-Auto, eine Jeans. So ungefähr. Der Kaffee in den Westpaketen hatte eine volkswirtschaftlich bedeutsame Größenordnung, denn Kaffee war im Osten Mangelware. Hübsch übrigens dies: Anfang der 80er-Jahre baute die DDR den Kaffeeanbau in Vietnam mit auf, um ihr MangelProblem zu lösen. Ironie der Geschichte – die großen Ernten begannen nach 1990, was das Land also nicht mehr erlebte.
Dass aber pro Kopf die DDR-Bürger mehr Pakete in den Westen schickten, mutet überraschend an, und Ursula Weidenfeld wird hier im Osten viele Leser auch dadurch erfreuen, dass sie würdigt, wie viel schwerer es für Menschen in der DDR war, diese Pakete zu füllen. Es musste etwas Besonderes sein, was aus dem „Konsum“oder der „HO“schied aus. Also der berühmte Stollen oder eine Pyramide aus dem Erzgebirge. Die konnte man aber auch nicht jedes Jahr schicken... da ging die Suche von vorne los, während im Westen wie immer ein Besuch im Aldi genügte. Dieser Punkt geht an die DDR-Bürger.
Ursula Weidenfeld gelingt es mit scheinbar leichter Hand und immer mal wieder angereichert mit Zeitzeugen-Erinnerungen, die Geschichte der beiden Staaten spannend gegenüberzustellen, ohne sie zu verklären. Einerseits werden sie fair und faktisch genau geschildert, andererseits in einer Einleitung und einem
Schlusskapitel mit Relevanz für das Hier und Heute ausgestattet. Am Ende gibt es ein Kapitel namens „Der Westen ist eine Konstruktion der Ostdeutschen“, was kurz stutzen lässt. Das klingt nach Anti-Oschmann. Was es nicht ist: zu wenig Wut, zu wenig Nach-Vereinigungs-Geschichte. Immerhin aber genug, um deutlich zu machen, dass Ursula Weidenfeld sehr gut verstanden hat, was den Menschen im Osten in den 90er-Jahre widerfahren ist. Was sie durchmachen mussten nach dem größten Triumph der DDR-Geschichte. Dass sie letztlich nicht den Westen bekommen haben, den sie sich so sehr gewünscht hatten. Dass viele, obwohl es ihnen besser als zuvor geht, noch immer gekränkt sind, manche sogar verbittert.
Sogar von „Kleinigkeiten“(für den Westen) wie der Festlegung des Tags der Deutschen Einheit auf den 3.Oktober. Warum, so Weidenfeld, hat man sich nicht auf den 9. Oktober verständigen können, den Tag, an dem in Leipzig Zehntausende Demonstranten erstmals komplett den Ring umrundeten und die Friedliche Revolution unumkehrbar machten? Nun, der Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, wollte nicht, dass die DDR noch mal Geburtstag feiert. Als sei man immer noch im Wettbewerb.Die eine Geschichte ist ohne die andere Geschichte nicht zu verstehen, schreibt Ursula Weidenfeld in diesem lesenswerten Buch, dass ein Komplementär zu den im letzten Jahr viel debattierten Büchern von Katja Hoyer („Diesseits der Mauer“) und Dirk Oschmann ist.
Ursula Weidenfeld: Das doppelte Deutschland. Eine Parallelgeschichte 1949 – 1990 . Rowohlt Berlin, 416 Seiten, 25 Euro