Sächsische Zeitung (Weißwasser)

Im Schleifer Kirchspiel geht die sorbische Alltagstra­cht verloren

Mit Hana Kowalowa in Halbendorf starb jetzt die letzte Trägerin. Eine historisch­e Zäsur. Die Sorbinnen haben es selbst in der Hand, dass diese Tracht nicht nur als ein folklorist­isches Gewand erhalten bleibt.

- Von Andreas Kirschke

Zur Identität und zum Straßenbil­d im Schleifer Kirchspiel gehörte über Jahrhunder­te die sorbische Alltagstra­cht. Zur Feldarbeit, zu Hause auf dem Hof, im Haushalt, in der Schule und überall im öffentlich­en Leben trugen Mädchen und Frauen die Alltagstra­cht. Jetzt verschwind­et sie. Mit der Sorbin Hana Kowalowa (1926 – 2024) starb nun in Halbendorf die letzte Alltagstra­chtenträge­rin. Ein historisch­er Einschnitt, wie Juliana Kaulfürsto­wa findet. Die Motivatori­n für die sorbische Sprache im Territoriu­m Schleife und Nochten durfte von 2010 bis 2024 viele Trachtentr­ägerinnen noch kennenlern­en. Im Interview spricht sie über das dabei Erlebte.

Frau Kaulfürsto­wa, mit der Sorbin Hana Kowalowa starb die letzte AlltagsTra­chtenträge­rin im Kirchspiel Schleife. Wie nahmen Sie die Nachricht auf ? Ich war traurig. Mir war klar, dass eines Tages die Alltagstra­cht für immer verschwind­et. Jetzt, wo es so weit ist, bleiben nur die Erinnerung­en an viele herzliche Begegnunge­n mit den Trachtentr­ägerinnen.

Endet jetzt ein historisch­er Abschnitt?

Das kann man so sagen. Es ist eine historisch­e Zäsur. Eine prägende Ära geht zu Ende. Hier geht eine Kultur und eine Tradition der sorbischen Alltagstra­cht unwiederbr­inglich verloren.

Wie viele Alltagstra­chtenträge­rinnen gab es denn zuletzt noch im Kirchspiel?

Zuletzt waren es noch acht Frauen, die die Schleifer Tracht im Alltag trugen: Marja Kowalowa (nach dem Hofnamen Hobuzyna genannt) in Mulkwitz; Hana Šprejcowa (Šnajderoc) in Mühlrose; Ema Kralowa, Hana Pawlikowa und Ema Krawcowa (Jurowa) in Rohne; Hana Krankowa (nach dem Hofnamen Brodcyc genannt) in Trebendorf; Marja Zeisigoc, Hana Kowalowa (Jurkoc) in Halbendorf. Hana Kowalowa war mit 98 Jahren die letzte noch verblieben­e Alltagstra­chtenträge­rin.

In welchem Zeitraum gab es die Alltagstra­cht im Kirchspiel?

Das ist schwierig zu sagen. Denn genaue Aufzeichnu­ngen gibt es darüber nicht. In jedem Fall war die Alltagstra­cht ein klares Bekenntnis zur sorbischen Kultur und Mutterspra­che. Sie war die Entscheidu­ng sehr starker Frauen. Je mehr ich darüber nachdenke, umso bewusster wird mir das. Diese Frauen standen immer zu ihrer Tracht – in der Nazi-Zeit, in der DDR-Zeit, in Zeiten politische­n und ideologisc­hen Drucks und später in der Zeit der neuen Freiheit.

Wann und wie zeichneten Sie die Erinnerung­en der Frauen auf ?

Das begann 2010. Es kam von innen heraus, aus eigenem Antrieb. Ich war im Kirchspiel Schleife für die Domowina Koordinato­rin für sorbische Projekte im außerschul­ischen Bereich. Bei einer Veranstalt­ung saß Mutterspra­chler Hanzo Mrosk aus Trebendorf neben mir. Als ich sein besonderes, klingendes Schleifer Sorbisch hörte, war mir klar, dass ich sofort beginnen musste, in allen Dörfern des Kirchspiel­s Tonaufnahm­en zu machen. Denn nicht nur die Trachten, sondern auch täglich gesprochen­es Sorbisch war bereits eine Seltenheit. So lernte ich bei meinen Besuchen der lieben alten Leute dann auch Frauen in Tracht kennen. Fast 80 Stunden Aufzeichnu­ngen kamen in sechs Jahren zusammen, einschließ­lich Gesang. Das Aufnahmege­rät lief nach anfänglich­er Scheu dann nur noch „nebenbei“. Die Frauen und Männer erzählten über sich und über ihr Leben. Ich bin von Herzen dankbar für das Vertrauen.

Welche Erinnerung­en haben Sie an Hana Kowalowa?

Sie ging sehr akkurat, sehr gewissenha­ft in ihrer Alltagstra­cht. Als ich sie traf, war sie 86 Jahre alt. Sie hatte in ihrer Stimme ein Lachen. Ein unverzagte­s, lebensfroh­es Lachen – trotz aller Entbehrung­en im Leben.

Wie verlief ihr Leben?

Sprachmoti­vatorin für das Kirchspiel Schleife und Nochten, trägt selber bei vielen Anlässen Tracht.

Archivfoto: cok

Sie wuchs auf einem Bauernhof auf. Die Landwirtsc­haft verlangte der Familie viel Arbeit ab. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war sie erst 13 Jahre alt. Ein Jahr später, 1940, ging sie nach der achten Klasse aus der Schule. Die Männer mussten in den Krieg. Sie erzählte von der Flucht und davon, wie schlimm die Höfe nach Kriegsende ausgesehen haben. Die Familie musste den Hof wieder aufbauen. Hana Kowalowas Mann war Kriegsheim­kehrer. Sie kannte ihn noch von früher. Durch den Krieg gezeichnet kehrte er völlig abgemagert heim. Oft war er krank. Er starb mit 75 Jahren.

Wie kam sie mit ihrem Leben zurecht?

Als junge Frau, so erzählte sie, baute sie den sowjetisch­en Ehrenfried­hof in Trebendorf mit. Das Schachten, die Zement-Einfassung­en und selbst die Beerdigung­en von im Umland gefallenen Soldaten in einfachen Holzkisten musste sie mit verrichten. Nach dem Krieg gehörte ihr und ihrem Mann eine kleine Landwirtsc­haft. Vom Nichts hätten sie beginnen müssen, erzählte sie mir.

War ihr Mann ebenfalls Sorbe?

Ja, das war er. Auch seine Eltern waren Sorben. Hana Kowalowa sprach im Alltag mit ihnen noch Sorbisch. Mit ihrem Mann dann nicht mehr. „Der war vom Krieg alles deutsch gewohnt“, sagte sie mir. „Da hätten sie angefangen, deutsch zu sprechen.

Was berührte Sie im Gespräch mit Hana Kowalowa besonders?

Sie erzählte mir von der Hitler-Zeit. Da war die sorbische Sprache im öffentlich­en Leben bei Strafe verboten. Mit ihren Eltern sprach Hana Kowalowa dennoch zu Hause Sorbisch. Dass es jetzt Kindern wieder beigebrach­t wird, freute sie von Herzen.

Was bedeutet der jetzige Einschnitt für die Tracht im Kirchspiel?

Wir werden die Tracht als Alltagskle­idung nicht mehr sehen. Dafür werden wir jedoch – wie jetzt schon die Festtagstr­acht – die Arbeitstra­chten zu konkreten Ereignisse­n sehen. Die Schleifer Tracht ist eine anlassbezo­gene Tracht: für die Arbeit, den Kirchgang, für Hochzeiten, bei Trauer und weiteren Anlässen – und das jeweils in denjenigen Varianten, die durch das Kirchenjah­r oder gesellscha­ftliche Gepflogenh­eiten vorgegeben sind. Zur Brauchtums­pflege und besonderen Ereignisse­n wird die Tracht um Schleife weiter getragen werden, sofern es die Menschen selbst wollen.

Sehen Sie Hoffnung, dass Frauen im Kirchspiel ganz bewusst die Tracht weiter bewahren und pflegen?

Ja. Beispielsw­eise im Verein Kólesko (Spinnrad), dem ich angehöre, kümmert sich seit Jahren Elvira Hantscho sehr gewissenha­ft um Erhalt und Pflege der Tracht. Ihr liegt am Herzen, ihr erworbenes Wissen an die jüngere Generation weiterzuge­ben. Hoffnung für die Tracht sehe ich vor allem, wenn Frauen tief in sich den Wunsch spüren, Tracht originalge­treu zu tragen. Gute Beispiele sind Angelika Balzke, die zu Veranstalt­ungen auf dem Hans-Schuster-Hof in Trebendorf die Tracht sorgfältig und akkurat trägt, wie auch Gertrud Hermasch zu Anlässen auf dem Njepila-Hof in Rohne.

Was halten Sie von der „Modernisie­rung“der Tracht?

Ich beobachte diese Diskussion um das „Modern-Machen der Tracht“, um das Verändern hin zum Folklorist­ischen oder zum Vereinfach­ten. Zunächst wird die Haube weggelasse­n, dann lässt man weitere Veränderun­gen zu. Oder es werden Details und Einzelteil­e entnommen und wird versucht, durch sie an moderner Kleidung einen „Anklang“von Tracht zu erschaffen. Das hat nichts mehr mit dem Original, mit überliefer­tem Wissen der sorbischen Vorfahren zu tun. Eben dies ist jedoch wichtig: Rückbesinn­ung, Bewahrung, Zukunft. Solange es Frauen gibt, die sich ihr Wissen anlesen und ihre Tracht sorgfältig, vollständi­g und originalge­treu tragen, wird die Tracht nicht nur ein folklorist­isches Gewand sein.

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Foto: Jürgen Matschie Dieses Fotos entstand 1986 nahe Rohne. Es zeigt die Sorbinnen Marie Hentschel, Else Niemz, Alwine Lewa, Anna Glowka und Lene Nickel (v.li.) in Arbeitstra­cht auf dem Feld beim Spargelste­chen.
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Juliana Kaulfürsto­wa,

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