Sächsische Zeitung (Weißwasser)
Norwegen und Dresdens Zerstörung
Was verbindet ein Dorf in Europas Norden mit dem 13. Februar 1945 an der Elbe? Lars Mytting zeichnet in seiner Schwesterglocken-Trilogie ein europäisches Geschichtsbild.
Wie eine Stabkirche aus einem norwegischen Dorf in die Residenzstadt Dresden kam, das erzählte Lars Mytting in den ersten beiden Teilen seiner Schwesterglockentrilogie. Die beiden Glocken dieser Kirche wurden getrennt. Eine hängt in Dresden, eine wird in Butangen versteckt. Im dritten Band, „Astrids Vermächtnis“, führt Mytting wieder ins Dorf Butangen im Jahr 1936 und erzählt die Geschichte der Familie Hekne weiter.
In dieser Familie wurden im 17. Jahrhundert siamesische Zwillinge geboren, zwei Mädchen, die später einen so kostbaren wie rätselhaften Wandteppich webten, dessen Bildprogramm als eine Prophezeiung des Weltuntergangs gelesen werden könnte. Der Vater dieser Mädchen ließ ihnen zu Ehren zwei Glocken gießen, die – so erleben es die Dorfbewohner über die Jahrhunderte – wie von allein läuten, sobald Gefahr droht. Pfarrer Kai Schweigaard hat es in seinem langen Leben dreimal gehört: 1880, bevor die Stabkirche abgebaut wurde. 1918, als die Spanische Grippe ins Dorf kam, und 1940, als Norwegen von den Nazis besetzt wurde. Die Glocken sollten eigentlich niemals getrennt werden, weil auch die Mädchen nicht zu trennen waren. Trotzdem hatte der junge Pfarrer 1880 zugelassen, dass eine Glocke nach Dresden gebracht wurde. Doch die zog ebenfalls wie von selbst an den Seilen, als am 13. Februar 1945 englische Jagdflieger Kurs auf die Stadt nahmen.
In der schwärzesten aller Nächte
Kai ist längst ein Greis, aber immer noch Pfarrer in Butangen, als Norwegen von den Nazis besetzt wird und Wehrmachtssoldaten das Pfarrhaus okkupieren. Die kluge und mutige Astrid Hekne wird zur Widerstandskämpferin. Ihr Bruder Tarald sympathisiert mit den Nazis, die sich nach Butangen freilich nicht verirrt haben, sondern zielgerichtet dort nach „deutschem Kulturgut“, also dem Webteppich und der zweiten Glocke suchen. Wie die Familie Hekne, so ist auch die Dorfgemeinschaft zerrissen, die doch so vieles, was das Leben leichter machte, einst gemeinsam gestemmt hatte: die Elektrifizierung des Dorfes, den Bau der Straße rauf zu den Almen, die Einrichtung der Molkerei und des Dorfladens. Mangelnde Zuversicht schlug dabei immer wieder auch in Neid um. Doch nun, in der Besatzung, entfaltete die Missgunst ungehemmt ihre zerstörerische Kraft. Auch „der Frieden kam nicht friedlich“. Dass am 13. Februar 1945 beide Kirchen brannten – die Stabkirche in Dresden und die, die Kai Schweigaard an ihrer Stelle in Butangen hatte errichten lassen Ende des 19. Jahrhunderts –, das ist kein Zufall.
Lars Mytting lässt Menschen wie Kai und Astrid, die Familie Hekne und das Ehepaar Röhme lebendig werden, das den Pfarrer selbst bei Gefahr für die eigenen Enkel nicht im Stich lässt. „Müssen mir, dann müssen mir!“– mit diesem Spruch motivieren sie sich in schwierigen Situationen. Die Ausdrucksweise der Dörfler mutet seltsam altertümlich an. Dazu muss man wissen, dass in Norwegen bis heute zwei – norwegische – Amtssprachen obligatorisch sind und darüber hinaus in jedem Tal ein eigener Dialekt oft mit eigenwilligen Begriffen gesprochen wird. Hinrich Schmidt-Henkel bringt das wunderbar ins Deutsche und findet bildstarke Worte wie Hoffnungsplunder und Frosttropfen, deren Bedeutung man erahnen kann. Kuchenbackmilde nennen die Butanger das Tauwetter im Advent. Männliche Geschwister, die nacheinander geboren werden, sind Folgebrüder. Und die Kratzlnacht ist die blauschwarze, die schwärzeste aller Nächte.
In dieser Nacht gipfelt Myttings Trilogie. 400 Jahre europäische Geschichte hat er im Mikrokosmos des kleinen, abgelegenen Ortes Butangen gebündelt. Rau schildert er die Natur, mit der die tatkräftigen
Dorfleute jedoch nicht im Clinch leben. Magisch ist es in den Wäldern, und mystisch geht es zu auf dem und im See, dem großen Lösnesvatn. Wer möchte da noch daran zweifeln, dass die Samen aus den Sträußen, die den Schwestern Gunhild und Halfrid mit ins Grab gegeben wurden, doch noch aufgegangen sind?! Nach dem großen Kirchenbrand sprießen auf dem Kirchhof blaue Disteln und roter Färberkrapp.
Lars Mytting: Astrids Vermächtnis“, Insel Verlag, 658 Seiten, 28 Euro