Sächsische Zeitung (Weißwasser)
Ein Verdacht tourt mit
Auch in Dresden machen Menschen darauf aufmerksam, dass die Vorwürfe gegen Till Lindemann wegen sexuellen Missbrauchs nicht aus der Welt sind.
ween-Tag in Windeln oder nackt, weil sie keine Kostüme hatten. Das Konzert im doch recht prüden Amerika wurde abgebrochen. Und beim Lied „Bück dich“simulierte der Sänger mit seinem Keyboarder homosexuellen Geschlechtsverkehr. Was prompt zur Anklage führte – Rammstein waren damit plötzlich in prominenter Gesellschaft, etwa mit dem Doors-Sänger Jim Morrison. Kurz: Für Rammstein heißt das Land der unbegrenzten Möglichkeiten: Deutschland. Bis heute müssen Lindemann und „Flake“bei der Einreise in die USA den Grenzbeamten Rechenschaft ablegen. umso mehr, zumal er es geradezu zelebriert, mal als Täter oder mal als Opfer zu erscheinen. Dabei sei das martialische, rollende „R“gar nicht mit Absicht entstanden. „Es kam von selbst“, sagt Lindemann. „Weil du in dieser tiefen Tonlage automatisch so singst. Wir wollten damit um Gottes Willen keine faschistische Attitüde erschaffen.“Trotzdem war man in den Anfangsjahren bei einigen Radiosendern besorgt, ob es nicht zur verzerrten Darstellung und Wahrnehmung Deutschlands im Ausland kommen könne.
Sie sind eine Minderheit, aber sie sind beharrlich: Wie schon im vergangenen Jahr vor einigen Rammstein-Konzerten wird es auch in Dresden am 15. Mai vor dem ersten Auftritt der Band Proteste geben. Das Motto lautet „Till Verschwindemann – keine Bühne für Täter“. Schon am 30. April war der Fall Lindemann ein Thema der Veranstaltung „Walpurgisnacht in Dresden“in der Neustadt. Seit einem Jahr werfen laut Medieninformationen Dutzende Frauen dem damals 60-Jährigen Missbrauch und Vergewaltigung vor. Was war damals geschehen?
Nach dem Besuch eines Rammstein-Konzerts Ende Mai 2023 hatte die Irin Shelby Lynn Fotos von ihrem Körper veröffentlicht. Sie behauptet, sie sei nach einer After-Show-Party und einer persönlichen Begegnung mit Lindemann mit blauen Flecken aufgewacht. Sie könne sich an nichts erinnern, vermutete aber, Drogen verabreicht bekommen zu haben. Danach äußerten sich immer mehr Frauen, denen Ähnliches passiert sein soll.
Recherchen mehrerer Redaktionen kamen zum Ergebnis, dass im Umfeld der Band ein Rekrutierungssystem existierte, über das sich der Sänger junge Frauen zuführen ließ. Diese seien laut Zeuginnenaussagen in psychische Druck-Situationen gebracht worden, die nichts mehr mit dem Ablauf herkömmlicher Aftershow-Partys zu tun hätten. Ebenso wenig mit dem klassischen Groupietum, in dem weibliche Fans es auf einvernehmlichen Sex mit Stars absehen.
Die Existenz des Rekrutierungssystems hat die Band nicht abgestritten und sich von der verantwortlichen „Zuführerin“getrennt. Dem Vorwurf des sexuellen Missbrauchs hingegen widersprach Lindemann. Gegen ihn wurde außerdem ins Feld geführt, dass er 2020 in dem Poem „Wenn du schläfst“aus seinem Buch „100 Gedichte“das Vergewaltigen mithilfe von K.-o.-Tropfen besingt. Zudem wurde im Zuge der Affäre einer breiten Öffentlichkeit bekannt, dass Lindemann mehrere Hardcore-Pornoclips veröffentlicht hat, in denen er Frauen misshandelt. Viele Kritiker werten das als Hinweise auf eine krankhafte Sexualität, andere halten es für eine der Rammstein-typischen Provokationen und damit für eine Form von Kunst.
Im Juni 2023 nahm die Berliner Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Till Lindemann wegen der ihm vorgeworfenen Sexualdelikte und Betäubungsmittel-Abgabe auf. Die Strafanzeigen hatten „unbeteiligte Dritte“aufgegeben. Doch die in Medien wiedergegebenen Angaben von Zeuginnen und Zeugen konnten durch die Ermittlungen nicht bestätigt werden, so die Staatsanwaltschaft. Vor allem, weil kein mutmaßliches Opfer sich selbst an die Behörde gewandt hatte.
Schon gegen Shelby Lynn war kurz nach deren Post mit den Fotos ein massiver Shitstorm losgebrochen mit Beleidigungen und Bedrohungen bis hin zur mehrfachen Mordankündigung.
Ähnliches war geschehen im Fall des US-Medienmoguls Harvey Weinstein, der mithilfe von Einschüchterung und Drohungen jahrelang die Opfer seiner schließlich doch beweisbaren Vergewaltigungen hatte einschüchtern können. Diese Vorfälle hatten seinerzeit die weltweite #metooBewegung ausgelöst.
Da der Verdacht gegen Lindemann wegen mangelnder Aussagen der mutmaßlich Betroffenen nicht weiterverfolgt werden konnte, stellte die Berliner Staatsanwaltschaft die Ermittlungen im August 2023 ein. Damit bleibt Lindemann, für den die Unschuldsvermutung gilt, juristisch unbescholten.
Durch die Einstellung der Ermittlungen konnten auch die Vorwürfe nicht gerichtlich widerlegt werden. Damit stehen sie weiterhin im Raum und begleiten die Rammstein-Tour auch in diesem Jahr.