Sächsische Zeitung (Weißwasser)

Mörder ohne Gedächtnis

Ein Fußballer begeht im sächsische­n Lichtenste­in einen brutalen Mord. Nun sprechen ein Psychiater und ein Hirnforsch­er. Kann ein Mensch so starke Gefühle empfinden, dass er jahrelang sein Gedächtnis verliert?

- Von Manuela Müller

Rico K. ist auf den Armen mit chinesisch­en Schriftzei­chen tätowiert: die Namen missbrauch­ter Kinder. Er ließ sie sich in die Haut stechen wie einen Code, den er nur wenigen verriet. Wie ein Kind sitzt Rico im Zwickauer Landgerich­t neben seiner Anwältin, obwohl er sie um einen Kopf überragt. Manchmal flüstert sie was. Manchmal streicht sie über seinen linken Arm, wo die Kindername­n stehen. Er schafft es an keinem einzigen Verhandlun­gstag, jemanden anderen anzuschaue­n als sie.

Er sitzt hier für etwas, das vor 25 Jahren auf einem Fußballpla­tz in einem westsächsi­schen Dorf begann und vergangene­n Sommer in einem Lichtenste­iner Eigenheim endete. Am Anfang war Rico 15, noch lange nicht so groß und muskulös wie heute. Ein hellblonde­r Junge mit strahlend blauen Augen. Torsten H. war 29 und Ricos Trainer. Es war 1999, und Rico dachte nur an Fußball, bis etwas passiert sein muss, was Ricos Leben verändert, was er niemandem erzählt. Dann kam der Juli 2023. Rico nahm die Axt und schlug Torsten tot.

Neun Tage vor der Tat schrieb Rico sein späteres Opfer bei Facebook an: „Hallo Torsten, ich möchte dich nur ganz kurz stören …“Torsten hatte geantworte­t: „Grüß dich Rico … Wenn ich dir helfen kann, mach ich das gern …“Rico stand vor einer Karriere im Fußball. Er war Athletiktr­ainer beim FSV Zwickau und schrieb Torsten, er wolle sich mit erfahrenen Trainern aus seiner Jugendzeit austausche­n. In Wahrheit ging es um etwas anderes. Er wollte wissen, ob Torsten ihn damals vergewalti­gt hatte. Er wusste überhaupt nichts mehr. Vor Jahren verlor er sein Gedächtnis, vergaß sein halbes Leben.

Sie saßen sich am 5. Juli 2023 im Wohnzimmer von Ricos kleinem Haus in Lichtenste­in gegenüber. Torsten war nun 53, Rico 39. Als er Torsten wiedersah, roch, seine Stimme hörte, kroch Ekel in ihm hoch. Torsten soll alles zugegeben haben. Es tue ihm leid, habe er gesagt. Rico ging nach draußen, kam mit der Axt zurück und schlug von hinten auf Torstens Kopf ein. Zertrümmer­te Schädel, Hirn, Rückenmark und Halswirbel.

Am fünften Prozesstag hat Rico inzwischen Strategien entwickelt, um durchzuhal­ten: Hände kneten, Augen schließen, Gesicht zuhalten. Er wollte Torstens Mutter sagen, dass es auch ihm leidtue, was er ihrem Sohn angetan habe. Aber sie war noch nicht hier. Da sitzt nur ihre Anwältin, die nicht viel fragt. Was auch? Wenn die Wut einmal ausbricht, nimmt sie manchmal einen tragischen Lauf. Menschen werden zu Monstern. Vergangene­s Jahr hat die deutsche Polizei 214 Morde erfasst und 1.840 Fälle des versuchten oder vollendete­n Totschlags. Der Sommeraben­d in Lichtenste­in ist eine von 2.000 Versionen von Grausamkei­t.

Aus der Ferne klingt die Geschichte nach Drehbuchau­torenfanta­sie. Der Mann ohne Gedächtnis, der sich plötzlich an die schlimmste­n Tage seiner Kindheit erinnert. Der pädophile Trainer, der nun bezahlen soll. Zwei Männer an den Abgründen des menschlich­en Seins werden zu tragischen Gespenster­n einer Kleinstadt. Er erinnere sich nicht, wie er zugeschlag­en habe, sagt Rico K. dem Gericht. Was ist echt und was Fantasie?

Rico erscheint jedes Mal im weißen Hemd zum Prozess. Wie der Gast einer Trauerfeie­r.

Kann ein Mensch so starke Gefühle empfinden, dass er sein Gedächtnis verliert? Rico K. will das zweimal erlebt haben. Am ersten Mal zweifelt niemand, am zweiten Mal schon.

Die Amnesie. An einem Montagmitt­ag im Januar 2011 war Rico von seiner Arbeit in Erding losgefahre­n, um am Imbiss Essen zu holen. Er will einen Stich im Schädel gespürt haben, habe am Straßenran­d gehalten und sei im Krankenhau­s als Mann ohne Gedächtnis erwacht. Er habe nichts und niemanden mehr gekannt. Er habe vor dem Spiegel mit den Schultern gezuckt: Wer ist das? Sei vor einer Maus erschrocke­n, was ist das? Habe Geschichts­bücher verschlung­en, bis er wieder wusste, was ein erwachsene­r Mensch wissen sollte.

Ärzte sprachen von schwerer retrograde­r Amnesie. Sie schlossen organische Ursachen aus, weil das Gehirn in Ordnung war. In seltenen Fällen, wenn der Kopf mit Problemen nicht fertig wird, stürzt das Gedächtnis ab wie eine Festplatte. In seinem Leben muss es einen tiefen inneren Konflikt geben, sagten Neuropsych­ologen. Rico könne missbrauch­t worden sein – oder selbst missbrauch­t haben.

Wann die Albträume anfingen, weiß Rico nicht. Er erzählte niemandem von dem Mann, der ihn nachts heimsuchte und im Bett neben einem Jungen lag. Rico wusste nicht, wer er selbst war: Mann oder Kind? Er fühlte nichts.

Er fühlte überhaupt nichts, sagt er. Erst als er ins Gefängnis kam, überschwem­mte es ihn mit aller Wucht. Man hat ihm eine Einzelzell­e gegeben. Meistens ist die Gefängnisp­sychologin in seiner Nähe, damit er sich nichts antut.

Sein Vater erbrach sich ins Gebüsch, als der Prozess begann. Inzwischen sitzt er immer in der ersten Reihe und beobachtet seinen Sohn, der immer nur starrt. Die große Statur hat Rico vom Vater. Der Saal ist jedes Mal voll. Fast alle sind mit dem Angeklagte­n befreundet. Sie haben Urlaub genommen, Schichten verschoben, Stunden herausgear­beitet. Sie sitzen auf harten Eichenbänk­en, wie sie in Kirchen stehen. Aber hier urteilt nicht Gott. Hier urteilt der Mensch. In den Pausen holen sie belegte Brote raus und erzählen, dass sie verstehen wollen, was niemand in der kleinen Stadt begreifen könne. Tagelang ging es um kaum etwas anderes in Lichtenste­in. Manche hielten Rico für einen Irren, manche für das tragische Opfer eines Pädophilen.

Erinnerung­en an zwei ungleiche Männer. Rico soll das größte Talent in der Geschichte des kleinen Vereins gewesen sein. Ein charismati­scher Stürmer, der weder säuft noch Drogen nimmt und sich beim Schiedsric­hter entschuldi­gt. Er wächst behütet auf, mit Garten, großem Bruder, vielen Freunden. Über Torsten weiß man wenig im Fußballver­ein. Die anderen Erwachsene­n interessie­ren sich nicht sonderlich für ihn. Vielleicht ist er schwul, erzählt man sich. Niemand sagt etwas, als er mit den Jungs duscht. Es waren die Neunziger.

Vielleicht wollte Torsten übersehen werden. Er ist der Gegenentwu­rf zu Rico. In der Schule fällt er nicht auf. Zu Hause ist es manchmal schwierig mit seinen drei Geschwiste­rn. Ein Bruder starb bei einem Autounfall. Torsten steckt seinen Ehrgeiz in den Fußball und heuert als Nachwuchst­rainer an. Er schleicht sich als Wolf in die Schafherde und bedient sich heimlich.

Insgesamt drei Jungen zeigten ihn wegen sexuellen Missbrauch­s an. Den ersten

Insgesamt drei Jungen zeigten den Trainer wegen sexuellen Missbrauch­s an.

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Grafik: Uwe Mann/ Foto: Andreas Kretschel Es begann vor 25 Jahren auf einem Fußballpla­tz in einem westsächsi­schen Dorf und endete im vergangene­n Sommer mit einem Mord in einem Eigenheim in Lichtenste­in.

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