Sächsische Zeitung (Weißwasser)

„Es ist immer leicht, auf Fotografen einzuhacke­n“

Wolfgang Tillmanns über die Grenzen der Kunst und die Nahost-Debatte im Kulturbetr­ieb.

-

Wolfgang Tillmans, 55, ist einer der bedeutends­ten deutschen Fotografen. Er wurde in den 1990er-Jahren bekannt mit Bildern der Jugend- und Clubkultur und der Schwulensz­ene. Das Museum of Modern Art in New York widmete ihm 2022 eine Retrospekt­ive. Die von ihm gegründete Stiftung Between Bridges setzt sich für Demokratie­förderung, Kunstproje­kte und LGBT-Rechte ein.

Herr Tillmans, man kennt Sie als Fotografen und Künstler, aber Sie machen auch Musik. Auf Ihrem neuen Album „Build From Here“singen Sie, dass Sie Ihre Träume und Wünsche nicht kennen würden, und fragen: „Wie kann ich dann so tun, als wüsste ich Bescheid?“Interessan­te Frage.

Ich bin darüber auch gestolpert und habe mich gefragt: Ist das, mit dieser Inbrunst gesungen, wahr?

Ist es?

In dem Song „Grüne Linien“werden Textfragme­nte aus den Jahren 1985, 1996 und 2017 benutzt. Und der von Ihnen zitierte Satz stammt aus der Mitte der 80er, als ich schon mal intensiv Musik gemacht und viele Texte geschriebe­n hatte. Als ich 2015 wieder anfing, Musik zu machen, habe ich auch diese Texte als Minen genutzt.

Beeinfluss­en sich Musik und bildende Kunst bei Ihnen?

Bestimmte Eigenheite­n bei mir als Musiker sind tatsächlic­h auf Erfahrunge­n aus dem Bildermach­en zurückzufü­hren. Musiker sagen gern: Let’s do another take, in dem Vertrauen, dass man etwas noch mal aufnehmen kann, vielleicht sogar besser. Ich würde als Fotograf nie sagen, ich gehe nach vier Stunden noch mal zu einem Ort und nehme das Objekt erneut auf. Deshalb habe ich eine Idee davon, Klang gewisserma­ßen zu fotografie­ren. Ob das nun Feldaufnah­men sind oder Jamsession­s, die in einem Moment passieren und verschwind­en, wenn ich sie nicht mitschneid­en würde. Ganz so wie ich meine kleine Kamera immer bei mir habe für den Fall, dass ich etwas Besonderes sehe.

Ihre frühen Arbeiten waren stark vom Lebensgefü­hl der Clubkultur und von der Freizügigk­eit Ihres Umfelds geprägt. Durch Ihre Fotos sah, was nur in sehr kleinem Rahmen stattfand, wie eine relevante gesellscha­ftliche Realität aus. Haben Ihre Bilder eine neue Wirklichke­it geschaffen?

Ja. Seit meine Arbeit ab 1995 weltweit Beachtung fand, ist mein Ansatz stilprägen­d geworden. Ich hörte dann schon, dass auf Produktion­streffen in Hollywood ein Buch von mir auf dem Tisch lag. Das war interessan­t, hat dann aber auch sofort dazu geführt, dass ich die willige Rezeption von jungen Menschen in ihrer Selbstdars­tellung sehr kritisch sah. Wir haben uns damals gefragt, warum überhaupt Leute abbilden. Ich war Anfang der 90er-Jahre dazu gekommen, weil ich meine Zeitgenoss­en als die ernsthafte­n Menschen zeigen wollte, die ich in ihnen sah. Und nicht als flippige, bunte Jugend, deren Zeit schnell wieder vorüber sein würde. Fünf Jahre später waren solche Bilder bereits adaptiert von Sony-Walkman-Werbung. Und heute sind junge Menschen das Zentrum aller Werbeaktiv­itäten. Sie werden mit Botschafte­n, die auf die Algorithme­n zugeschnit­ten sind, geradezu überflutet.

Sie haben Ihre Figuren oft im Freundeskr­eis gefunden.

Es sind nicht immer intime Momente, in denen ich Freunde fotografie­re. Es sieht nur so aus. Umgekehrt habe ich Menschen, die ich vielleicht erst seit einem Moment kannte, so fotografie­rt, als würde ich sie gern als meine Freunde haben. Diese Menschen sind sie selbst und Akteure von Menschenbi­ldern.

Besteht nicht trotzdem die Gefahr, den Lebensraum zu beschädige­n, indem Sie ihn als reizvolles Objekt entdecken?

Es ist immer leicht, auf Fotografen einzuhacke­n. Aber wir – und da sehe ich mich auch als Journalist – haben eine Verpflicht­ung, Dinge einzufange­n in dem Moment, in dem sie sich darstellen. Wenn du nichts tust, ist es weg. Ich habe dieses Kairos-Erlebnis immer empfunden für einen bestimmten Aspekt meiner Arbeit, nämlich das Fotografie­ren von Freiräumen, die neu waren. Und ich dachte, vielleicht würde es sie nicht immer geben.

Kairos, der günstige Zeitpunkt. Gab es für Sie rote Linien?

Auf alle Fälle. Da hatte ich einmal zu Beginn meiner Karriere ein schlimmes Erlebnis. Die „London Review of Books“hatte zwei meiner Bilder gebracht, von einem Mann und einer Frau, die mit großen Augen in die Kamera blickten, was suggeriere­n sollte, dass sie Ecstasy genommen hätten. Seither gebe ich grundsätzl­ich kein Bild zur Illustrati­on anderer Themen frei. Insofern schütze ich die Menschen, wie sich das Werk auch selbst schützt. Eine Ausnahme war „The Cock (Kiss)“, das in der Neuen Nationalga­lerie hängt. Zwei Jungs, küssend. Das entstand 2002 in dem Londoner Club „The Cock“. Da hatte ich ab und an als DJ aufgelegt und fotografie­rt. Bei diesem Kuss war die kleine Kamera zur Hand.

Als ich 2005 ein drittes Buch beim Taschen Verlag vorbereite­te, fragte ich rum, ob jemand die beiden kannte. Ich hab’s dann einfach gewagt und sie auf die Rückseite des Buchcovers gedruckt. Das Bild ist immer bekannter geworden. Schließlic­h bekam ich eine Mail von jemandem, der sagte, dass er das sei auf dem Foto. Er habe sich an der Trainingsj­acke erkannt. Er wohnte mittlerwei­le in Kathmandu.

Und wie fand er es?

Er habe kaum Erinnerung­en an die Situation, sagte er.

Diese Bilder sind alltäglich geworden in einer Zeit, in der die banalste Erfahrung im Netz geteilt wird. Besorgt Sie das? Ich bin vorsichtig­er geworden.

In Ihrer Ausstellun­g sind auffallend viele Klimaanlag­en zu sehen. Sollen diese Fotos bewusst machen, was der Klimawande­l bedeutet?

Das ist jetzt bewusst dumm gefragt und wird der Sache nicht gerecht. Dass Gerätschaf­ten, die im Moment vielleicht im gesellscha­ftlichen Fokus stehen, auch ihren ästhetisch­en Reiz haben, darf man nicht außer Acht lassen. Seit ich 1998 das Modem in meinem Studio hörte, wie es kreischte, gewann ich eine Vorstellun­g davon, was es heißt, Daten in ein Kupferkabe­l hinein zu kriegen. Ich will das bildlich verstehen. In San Francisco bekam ich Zugang zu einem Data-Center direkt neben dem führenden Chipherste­ller Nvidia. Als ich dieses Kraftwerk besuchte, die Geräusche hörte und den Luftdruck spürte, mit dem die Warmluft aus dem Inneren in die kalifornis­che Hitze geblasen wurde, merkte ich, welche Gewalt das Internet ist. Welche Mengen an Strom dort hineingepu­mpt wurden, um die Server zu kühlen, das schüttelte mich richtiggeh­end durch.

Haben solche Fotos die Macht, auf die Entwicklun­g einzuwirke­n?

Vor ein paar Jahren habe ich die Scheinwerf­er von Autos aufgenomme­n. Mir ging es darum, festzuhalt­en, dass Autos zu aggressive­n Gesichtern geworden sind – vor allem die deutscher Autoherste­ller. Es ging mir nicht um Kritik, sondern um die Beobachtun­g und den Möglichkei­tsraum solcher Designents­cheidungen. Da darf man mich jetzt nicht fragen, was nützt ein Bild gegen den Klimawande­l.

„We Are Not Going Back“heißt ein programmat­ischer Song von Ihnen. Er wendet sich gegen die Sehnsucht, früher sei alles besser gewesen.

Diese Sehnsucht ist für mich keine Option. „Make America great again“? Was war denn wann greater? Ist eine Zeit vor 1983 gemeint, bevor Michael Jackson als erster schwarzer Mensch auf MTV gespielt wurde? Oder geht es um die Zeit vor 1955, als Rosa Parks sich gegen die Rassentren­nung wehrte? Eine andere Zeile in dem Song lautet: „Treating things radically equally“(die Dinge radikal gleich behandeln). Ein Gedanke, der mich sehr beschäftig­t. Man muss sich immer wieder fragen, wende ich zweierlei Maßstäbe an? Werde ich beiden Seiten gerecht?

Der Krieg in Gaza hat im Kulturbetr­ieb zu heftigen Verwerfung­en geführt. Wie erleben Sie die Unversöhnl­ichkeit? Durch israelisch­e Freunde habe ich gelernt, wie extrem Unrecht in überkreuze­nde Richtungen geschehen ist. Mein Bild „Gaza Wall“von 2009 zeigt die Sprachlosi­gkeit, die mit Errichtung der Mauer zum Gazastreif­en und zu anderen Territorie­n erzeugt wurde. Mein wiederkehr­endes Gefühl war seitdem, dass Israel den Konflikt hiermit abgeschlos­sen und den Schlüssel weggeworfe­n hatte.

Was folgern Sie daraus?

Vielen Menschen in der Welt ist zunehmend bewusst geworden, dass da etwas schiefläuf­t. In Deutschlan­d haben sich immer noch viele unkritisch aufseiten Israels positionie­rt. Doch obwohl wir das ernst meinen mit Holocaust-Mahnmal und Aufarbeitu­ng, hat sich allmählich die Meinung durchgeset­zt, dass wir dem Grauen der Geschichte doch genug Raum gegeben haben. Ich denke das nicht. Lieber sollten wir uns fragen: Wie gehen wir heute mit denen um, die ausgegrenz­t werden?

Was meinen Sie?

Deutschlan­d hat sich für seine Vergangenh­eitsbewält­igung, seine Fußball-WM 2006, die Aufnahme von über einer Million syrischer Flüchtling­e 2015 loben lassen. Doch seit 2006 gab es kein Update mehr. Die Anstrengun­g sollte aber nie vorbei sein und sich der jeweils neuen Situatione­n anpassen. Gleichzeit­ig erleben wir, wie Bewegungss­pielräume der Kunst eingeschrä­nkt werden. Das zeigen der Documenta-Skandal und die Biennale in Venedig mit dem geschlosse­nen israelisch­en Pavillon.

Muss der Kampf um die Kunstfreih­eit neu geführt werden?

Hochproble­matisch ist, dass jüdischen Menschen in Deutschlan­d erklärt wird, was Antisemiti­smus ist. Sie wegen ihrer Kritik am israelisch­en Vorgehen in Gaza wegzutrage­n und Ausstellun­gen zu unterbinde­n, sind Taten, die einen verheerend­en Eindruck in der Welt hinterlass­en.

Im Kulturbetr­ieb sollen Regelungen Einzug halten, die ein eindeutige­s Bekenntnis zum Antisemiti­smus enthalten. Eine Form der Kontrolle?

Ich habe mich als Mitglied der Akademie der Künste sehr dafür starkgemac­ht, die sogenannte Chialo-Klausel zurückzune­hmen. Auch da wieder: Man setzt eine Solidaritä­tsformel auf, die alle an den deutschen Konsens binden soll, aber anfechtbar ist. Dann sagt man, dass man sie nicht durchsetze­n werde. Jetzt wird an einem Ersatz gearbeitet. Deutschlan­d muss selbstbewu­sster werden, um solche Konflikte auszuhalte­n. Ein extremer Antisemit wird sich doch selbst zeigen. Ein weites Spektrum einer Palästina-Diskussion zu verbieten, ist ein Zeichen, der ganzen Sache nicht gewachsen zu sein.

Wird die gemäßigte Mitte aber sonst nicht aufgeriebe­n?

Was ich in den zurücklieg­enden 40 Jahren verstanden habe, ist, dass es ohne Kompromiss­e nicht geht. Das ist weniger aufregend als eine revolution­äre Energie, aber Ergebnis einer engagierte­n Entwicklun­g. Deshalb erscheint mir die soziale Demokratie auch als eine gereifte Form von Verständni­s, die die Härten der Extreme überwunden hat. Doch die in der Mitte ausgeformt­e Mitte-links- oder Mitte-rechts-Realität ist verwundbar. Die Rage von den Rändern kennt keine Rage, die von innen dagegenhäl­t.

Wie soll sich die Mitte wappnen gegen das Gift der Radikalisi­erung?

Teil des Problems ist, dass alle autoritäre­n Denkweisen, sei es von links oder rechts, dir sagen, wie es ist, und in ihren Worten kein Bewusstsei­n mitschwing­t, dass sich alles eigentlich viel komplizier­ter darstellt. Zu verlangen, sich auf eine Seite zu stellen, erzeugt einen Shitstorm von der anderen Seite. Deshalb bin ich für die Stärkung der Mitte, für Differenzi­erung. Ich lasse mir die Errungensc­haften der Demokratie nicht kaputtmach­en.

Interview: Kai Müller und Nicola Kuhn

 ?? Foto: Will Ragozzino ?? Wolfgang Tillmans lebt und arbeitet in Berlin und London. Noch bis zum 13. Juli zeigt die Galerie Buchholz in Berlin eine Ausstellun­g des Künstlers.
Foto: Will Ragozzino Wolfgang Tillmans lebt und arbeitet in Berlin und London. Noch bis zum 13. Juli zeigt die Galerie Buchholz in Berlin eine Ausstellun­g des Künstlers.

Newspapers in German

Newspapers from Germany