Die neue große Depression
Auszug aus James Rickards neuem Buch
Am Montag, 24. Februar 2020, fiel der Aktienmarkt um 3,6 Prozent. Im Vergleich zu den finsteren Tagen, die darauf folgten, war das nur ein kleiner Rücksetzer, er zählte nicht einmal zu den 20 größten Tagesverlusten der Geschichte des Dow Jones. Aber er war in anderer Hinsicht bedrohlich – er signalisierte einen plötzlichen Stimmungsumschwung unter den Marktteilnehmern. Vor dem 24. Februar hatten sich Auf- und Abwärtstage abgewechselt, und die Marktindizes lagen nur knapp unter ihren Allzeithochs. Die Märkte hatten gelernt, mit der »Wuhan-grippe« zu leben, und neigten dazu, sie für ein Problem Chinas zu halten, das bald unter Kontrolle gebracht sein würde. Der 24. Februar war der Tag, an dem die Marktteilnehmer aufwachten, die ganze Tragweite der globalen Pandemie erkannten und begannen, die Kurse an die neue, realistischere Perspektive anzupassen. Aktienmärkte stehen in dem Ruf, vorauszuschauen und zu erwartende Ereignisse schon vorher in die Kurse einzupreisen. Darin liegt ein Körnchen Wahrheit, doch es bedeutet keineswegs, dass die Märkte immer klar erkennen, was kommt – nur allzu oft orientieren sie sich an einer Sicht der Ereignisse, die völlig unrealistisch ist. Wenn das passiert, bauen sich Spannungen auf zwischen der Realität und den Erwartungen der Märkte. Letztlich setzt sich immer die Realität durch, doch das kann dauern. Von Ende Januar bis zum 21. Februar dominierte eine positive Sicht auf China und Covid-19. Es schien so, als würde die Zahl der Fälle immer langsamer steigen und das Virus eingedämmt sein. An dem Wochenende vom 21./22. Februar bewirkten die italienischen Zahlen einen plötzlichen Realitätscheck gegenüber der chinesischen Schimäre. Am Montag, dem 24. Februar, war der Bann gebrochen, und die Märkte landeten unsanft auf dem harten Boden der Realität einer globalen viralen Krise. Von da an ging es unaufhaltsam bergab. [...]
Die Prognose
Die Schwere der neuen Depression ist klar. Den meisten Beobachtern ist jedoch nicht klar, wie das Wesen und der zeitliche Verlauf der wirtschaftlichen Erholung aussehen werden. Es ist zu erwarten, dass die Arbeitslosigkeit auf Jahre hinaus hoch bleiben wird und die USA das Produktionsniveau von 2019 nicht vor 2023 erreichen werden. Das Wachstum wird noch schwächer sein als in der Zeit von 2009 bis 2019, dem schwächsten Aufschwung der Geschichte. Das ist vielleicht nicht das Ende der Welt, aber wesentlich schlimmer als selbst die pessimistischsten Prognosen. Die Daten, die diese Vorhersage erhärten, liegen klar zutage. Ein bisschen Mathematik auf Sechstklässlerniveau ist ein guter Anfang für die Analyse. Setzen wir die Produktion der Wirtschaft im Jahr 2019 gleich 100. (Der tatsächliche Wert ist 21 Billionen Dollar. Die »100« entspricht 100 Prozent dieser Zahl; eine praktische Methode, um Veränderungen nach oben oder unten darzustellen.) Nehmen wir an, die Produktion geht über das zweite und dritte Quartal 2020 um 20 Prozent zurück. (Viele Prognosen gehen von einem stärkeren Rückgang aus; 20 Prozent ist eine plausible, aber konservative Schätzung.) Ein Rückgang von 20 Prozent in sechs Monaten entspricht einem Rückgang von 10 Prozent über das ganze Jahr, sofern die Kurve in den ersten beiden Quartalen flach blieb. Ein Rückgang um 10 Prozent von einem Ausgangswert von 100 ist gleich 90 (das entspricht 2,1 Billionen Dollar an Produktionsausfällen). Seit 1948 betrug das reale Wachstum des US-BIP nie mehr als 10 Prozent pro Jahr. Seit 1984 lag es nie höher als 5 Prozent. Die Jahre mit dem stärksten Wachstum seit Ende des Zweiten Weltkriegs waren 1950 mit 8,7 Prozent, 1951 mit 8,0 Prozent und 1984 mit 7,2 Prozent. Die Annahme, dass die Wirtschaft im Jahr 2021 mit einer jährlichen Wachstumsrate von 6 Prozent zulegen könnte, ist optimistisch, aber unrealistisch. Ein solches Wachstum könnte man sicherlich treffend als eine v-förmige Erholung beschreiben. Wenn unser neuer Ausgangswert 90 ist (im Verhältnis zu 100 im Jahr 2019) und wir die Produktion im Jahr 2021 um 6 Prozent erhöhen, bringt das die Gesamtproduktion auf 95,4. Wenn wir in das Jahr 2021 mit dem neuen Ausgangswert von 95,4 hineingehen und weitere 5 Prozent dazurechnen, kommen wir bis Ende 2022 auf eine Gesamtproduktion von 99,2. Jetzt kommt das Problem. Wenn wir für 2019 die Produktion bei 100 ansetzen, für 2021 von 6 Prozent und für 2022 von 5 Prozent Realwachstum ausgehen (das sind jährliche Wachstumsraten, wie sie seit 1984 nicht mehr verzeichnet wurden), haben wir das Produktionsniveau von 2019 immer noch nicht wieder erreicht. Die bittere Wahrheit ist: 99,2 ist kleiner als 100. Über zwei aufeinanderfolgende Jahre wäre das höchste Realwachstum seit über 40 Jahren erforderlich, um auch nur annähernd das Produktionsniveau von 2019 wieder zu erreichen. Es wäre realistischer, von einem Realwachstum von weniger als 5 Prozent pro Jahr auszugehen. Das bedeutet, dass die Wirtschaft frühestens 2023 wieder ein Produktionsniveau erreichen kann, wie es zuletzt 2019 verzeichnet wurde. Eine Studie der UCLA Anderson School of Management an der University of California in Los Angeles stützt diese Schätzung.
Sie wurde am 24. Juni 2020 veröffentlicht und kommt zu der Prognose, das Realwachstum des US-BIP werde 2021 etwa 5,3 Prozent betragen und 2022 etwa 4,9 Prozent – nicht genug, um selbst das Produktionsniveau von 2019 wieder zu erreichen. In der Studie heißt es: »Für das aktuelle Quartal prognostizieren wir einen annualisierten Rückgang des BIP um 42 Prozent, gefolgt von einer Erholung, welche die Produktion nicht vor Anfang 2023 wieder auf den 2019 erreichten Höchststand bringen wird.« Dies ist die Realität einer Depression. Sie manifestiert sich nicht in Form eines stetigen Rückgangs des BIP, sondern sie beginnt mit einem Absturz, der so tief ist, dass die Wirtschaft sich selbst durch jahrelanges kräftiges Wachstum nicht wieder aus dem Loch herausarbeiten kann. In der Debatte um die Stärke eines Aufschwungs verwenden Analysten Buchstaben, die den Verlauf einer Wachstumskurve symbolisieren. Eine v-förmige Erholung beginnt mit einem steilen Absturz, auf den ein kräftiger Aufschwung folgt, sodass die Produktion in relativ kurzer Zeit wieder das Niveau erreicht, auf dem sie vorher war. Ein u-förmiger Aufschwung beginnt mit einem steilen Absturz, auf den jedoch zunächst eine Phase der Stagnation folgt, bevor es zu einer rapiden Erholung kommt. Eine L-förmige Erholung ist ein steiler Fall, auf den auf unbestimmte Zeit niedriges Wachstum folgt. Und schließlich gibt es noch die w-förmige Erholung, bei der auf einen steilen Absturz ein schneller Aufschwung folgt und dann ein zweiter Absturz, bevor die Wirtschaft sich endgültig erholt und wieder das vorherige Produktions- und Wachstumsniveau erreicht. Nach der Rezession von 1982 war der Aufschwung von 1983 bis 1986 eine klassischer V-verlauf. Die Rezession von 1982 war schwer, doch von 1983 bis 1986 war das Wachstum extrem stark, sodass die Wirtschaft die Produktionsausfälle wettmachen konnte und zu dem Langzeittrend vor der Rezession zurückkehrte. Eine w-förmige Erholung ist selten, doch wahrscheinlich erlebten die USA in der Zeit von 1980 bis 1983 genau so etwas. Ausgehend von 3,2 Prozent Realwachstum im Jahr 1979 rutschte die Wirtschaft 1980 in eine leichte Rezession, erholte sich 1981 gut, bis 1982 noch eine Rezession kam und dann 1983 ein kräftiger Aufschwung. Dieses Runter-rauf-runterrauf-muster bildet das w. Eine u-förmige Erholung ist eine gute Beschreibung für den Übergang von einer Kriegswirtschaft zu einer zivilen Wirtschaft, der sich von 1944 bis 1948 abspielte. Im Jahr 1944, auf dem Höhepunkt des Krieges, betrug das Wachstum 8,0 Prozent. In den folgenden drei Jahren, von 1945 bis 1947, schrumpfte das reale US-BIP, während die Rüstungsindustrie abgewickelt wurde und aus dem Krieg heimkehrende Soldaten massenhaft auf den Arbeitsmarkt strömten. Auf diese rezessive Phase folgte 1948 ein kräftiger Aufschwung mit 4,1 Prozent Wachstum. Die Jahre 1945, 1946 und 1947 bildeten den länglichen unteren Bogen des u. Und schließlich war die lange Expansion von 2009 bis 2019 ein Beispiel für eine Lförmige Erholung. Die Rezession von 2007 bis 2009 war einschneidend, doch die Erholung von 2009 bis 2019 war schwach. Die Aufschwünge nach 1980 brachten im Durchschnitt ein Wachstum von 3,2 Prozent; die Erholung ab 2009 dagegen nur 2,2 Prozent. Es war eine echte Erholung, doch die Produktionslücke zwischen dem vorherigen Trend und dem neuen Trend wurde nie aufgeholt. Das führte zu Wohlstandsverlusten von über 4 Billionen Dollar, was ein gravierendes Problem für die USA war, da sie die Einkommensungleichheit verschärften und die nationale Schuldenquote erhöhten, sogar schon vor der neuen Großen Depression. Heute ist ein noch geringeres Wachstum zu erwarten als während der schwachen Erholung ab 2009. Die neue Erholung wird nicht annähernd an die 6 Prozent Wachstum aus dem oben beschriebenen Beispiel herankommen, sondern vielleicht nur ein Wachstum von 1,8 Prozent bringen, und zwar wegen einer extrem hohen Staatsverschuldung und einer hohen persönlichen Sparquote. Das liegt noch unter dem durchschnittlichen Wachstum von 2,2 Prozent pro Jahr in der zehn Jahre langen Expansion vor der Pandemie. Es ist eine weitere L-förmige Erholung, die zweite in Folge. Aber dieses Mal wird der Boden des L sich noch weiter einer horizontalen Linie annähern, und die Produktionslücke wird im Vergleich zum Langzeittrend noch größer sein. Einige der Ursachen dieses schwachen Wachstums wurden oben bereits benannt: eine zweite Entlassungswelle, staatliche Anreize, nicht so bald wieder arbeiten zu gehen, Insolvenzen, ein kollabierender Welthandel, ein Homeoffice-geschäftsmodell, das sich zunehmender Beliebtheit erfreut, eine sinkende Erwerbsquote und Abhängigkeiten, durch die in Bedrängnis geratene Unternehmen wie bei einer Kettenreaktion nach und nach ganze vorgelagerte Versorgungsketten in Mitleidenschaft ziehen. Doch davon abgesehen gibt es noch einen Faktor, der diese Trends maßgeblich beeinflussen und das Wachstum drücken könnte – und dieser Faktor ist eine hohe Sparquote. Eine hohe Sparquote klingt wünschenswert, und langfristig ist sie das auch. Ersparnisse können Investitionen finanzieren, die zur Schaffung von Arbeitsplätzen und höherer Produktivität führen, die wiederum die Wirtschaft wachsen lassen. Vorausgesetzt, diese Investitionen werden nicht in überflüssige Geisterstädte und sonstige unproduktive Infrastruktur angelegt wie beispielsweise in China. In den USA gibt es reichlich Gelegenheiten, in Projekte mit hoher Produktivität zu
[...] [die Realität einer Depression] beginnt mit einem Absturz, der so tief ist, dass die Wirtschaft sich selbst durch jahrelanges kräftiges Wachstum nicht wieder aus dem Loch herausarbeiten kann.
Die besten verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass wir uns auf 30 Jahre schwaches Wachstum einstellen sollten.
investieren, in Bereichen wie Infrastruktur, Bildung und Forschung. Insofern sind die Aussichten gut, dass Investitionen in den USA eine maßgebliche Triebfeder für Wachstum sein können. Das Problem ist, dass Investitionen zwar langfristige Renditen abwerfen, doch kurzfristig auf Kosten des Konsums gehen. Die Us-wirtschaft wird zu 70 Prozent durch Konsum angetrieben. Es ist nicht möglich, die Investitionen zu erhöhen (auf lange Sicht), ohne den Konsum abzuwürgen (auf kurze Sicht), es sei denn, die USA fahren höhere Haushaltsdefizite und leihen sich mehr Geld aus dem Ausland. Doch die Usstaatsdefizite sind schon jetzt auf Rekordniveau, und die meisten anderen Länder haben ihre eigenen wirtschaftlichen Probleme und staatlichen Defizite zu bewältigen. Darius Dale, ein Analyst des Meinungsforschungsbüros Hedgeye, weist darauf hin, dass viele der staatlichen Konjunkturprogramme, welche die Wirtschaft seit März 2020 am Leben erhalten haben, bereits ausgelaufen sind oder bald auslaufen werden. Der 15. Juli 2020 war der Tag, an dem die seit April gestundeten Einkommenssteuerschulden fällig wurden. Am 30. September 2020 lief die Stundung von Studienkredit-tilgungsraten aus. Der 31. Oktober 2020 markierte das Ende der Stundung von Hypothekentilgungsraten. Am 31. Dezember 2020 läuft die tilgungsfreie Schonfrist für Kredite aus dem Paycheck Protection Program aus. Falls diese und andere Programme nicht verlängert oder mit höheren Budgets erweitert werden, werden wichtige Stützen einer schon jetzt schwachen Erholung nach der Pandemie wegfallen. Das lässt erwarten, dass die Wirtschaft 2021 schnell wieder in die Abwärtsspirale geraten wird, die von März bis Juni 2020 durch staatliche Interventionen unterbrochen wurde. Auf Basis der fundiertesten verfügbaren Studien sind unsere Prognosen, denen zufolge einige Jahre schwaches Wachstum zu erwarten wären, zu optimistisch. Die besten verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass wir uns auf 30 Jahre schwaches Wachstum einstellen sollten. Die im März 2020 erschienene Studie »Longer-run Economic Consequences of Pandemics« von einem Ökonomen der Federal Reserve und zwei Wissenschaftlern der University of California untersucht die wirtschaftlichen Auswirkungen von Pandemien mit mindestens 100 000 Todesfällen, seit 1347 die Pest in Europa wütete und der »Schwarze Tod« ein Drittel der Bevölkerung dahinraffte. Die Autoren kommen zu diesem Schluss: »Signifikante makroökonomische Nachwirkungen der Pandemien hielten etwa 40 Jahre lang an. In solchen Zeiten lagen die realen Renditen deutlich niedriger als sonst.« Und weiter: »Pandemien richten Schäden an, die sich jahrzehntelang auswirken können. […] Diese Ergebnisse sind erschütternd.« Um das zur aktuellen Entwicklung ins Verhältnis zu setzen: Covid-19 ist auf dem Weg, mehr Todesfälle zu verursachen als 11 der 15 untersuchten Pandemien. An diesem Punkt sind Kompromisse zwischen Sparen und Geldausgeben rein akademische Übungen, da die Amerikaner bereits mit der Brieftasche abgestimmt haben. Im Mai 2020 schoss die Sparquote als Anteil des verfügbaren Einkommens von 7,5 auf 33,0 Prozent hoch. Die Amerikaner sparten, anstatt zu konsumieren. Das ist eine vernünftige Strategie, wenn Sie arbeitslos sind und nicht wissen, wie Sie die nächste Kfz-rate oder Miete bezahlen sollen. Und es ist auch dann vernünftig, wenn Sie noch nicht arbeitslos sind, aber befürchten müssen, es bald zu werden. Und selbst wenn Ihr Job und Einkommen sicher sind, könnten Sie sich trotzdem entschließen, mehr zu sparen, weil Sie eine Deflation erwarten. In einer Deflation ist Cash die profitabelste Geldanlage, weil der reale Wert des Geldes steigt, während die Lebenshaltungskosten sinken. All diese Faktoren – mehr Entlassungen, mehr Insolvenzen, Feedbackschleifen und ein Konsumstreik in Form von höheren Sparquoten – bedeuten, dass der Aufschwung schleppend verlaufen und die Arbeitslosigkeit hoch bleiben wird. Es wird keine v-förmige Erholung geben. Es gibt keine »green shoots«, keine »grünen Triebe«, auch wenn Sie das in den Medien immer wieder hören. Wir sind in der neuen Großen Depression und werden das auf Jahre hinaus bleiben.