Schwabmünchner Allgemeine

Die neuen Mittel der Macht

Serie Die Digitalisi­erung schafft durchschla­gende Möglichkei­ten für Diktaturen. Die Hoffnung, eine vernetzte Welt könnte wirklich demokratis­ch werden, scheint verloren. Was könnte helfen bei der Bindung von Regierung und Volk?

- VON WOLFGANG SCHÜTZ 304 S., 19,95 ¤) (Rowohlt, (Knaus, 256 S., 19,99 ¤) (Ullstein, 96 S., 8 ¤)

Diese Gesellscha­ft wirkt wie aus einer der vielen aktuellen düsteren Zukunftsvi­sionen entnommen: etwa aus Dave Eggers Darstellun­g einer Internet-Diktatur in „Der Circle“, die im September in Star-Besetzung in die Kinos kommt. Diese Gesellscha­ft erinnert auch an Klassiker des Genres, die derzeit in den USA wieder Konjunktur haben: George Orwells „1984“über den Überwachun­gsstaat und „Das ist bei uns nicht möglich“von Sinclair Lewis über die Machtergre­ifung eines totalitäre­n Herrschers.

Deutschlan­d diskutiert über Schleierfa­hndung und Zugriffe auf soziale Netzwerke – in dieser Gesellscha­ft aber kontrollie­rt der Staat bereits automatisc­h alle Daten und Bewegungen seiner Bürger, gerade im Internet. Algorithme­n ordnen ein, vergeben „Sozialpunk­te“. So werden die Menschen in vier Gruppen kategorisi­ert, A bis D, mit Folgen. Das beginnt damit, dass Bürger schon millionenf­ach vom öffentlich­en Nah- und Fernverkeh­r ausgeschlo­ssen wurden, weil sie die Rate einer Hypothek nicht bezahlten – und kann bis zum Entzug aller Bürgerrech­te gehen. Diese Gesellscha­ft, das ist China, das sind die aktuellen Entwicklun­gen; die Arbeit ist im Gange, das Ziel lautet: Erziehung zum guten Bürger.

Man könnte es auch die neuen Grundzüge der Diktatur nennen – begünstigt von den Möglichkei­ten der Digitalisi­erung. In der Form ist sie klassisch: Der Staat bündelt alle Macht über den Bürger. Das Gegenmodel­l ist eben Eggers „Circle“: Hier bündelt die Netzwirtsc­haft alle Macht über die Menschen und damit über Politik und den Staat…

Dabei hatten die Visionäre des Internets doch gerade in diesem vermeintli­ch hierarchie­freien Medium die Zukunftsho­ffnung auf eine Vertiefung und Verbreitun­g des demokratis­chen Geistes gesehen. Aber davon ist jetzt ungefähr so viel übrig, wie von der Piraten-Partei, die vor einigen Jahren in deutsche Landesparl­amente eingezogen war und von einer „Liquid Democracy“träumte: An die Stelle der traditione­llen Volksreprä­sentation durch Abgeordnet­e, die in eine Vertrauens­krise geraten sei, müssten sich Zuständigk­eiten übers Netz bei jeder Frage flüssig neu formieren können – unter Teilnahme aller.

Was davon übrig blieb: der Befund von der Vertrauens­krise des Volkes gegenüber seinen vermeint- Vertretern, das wachsende Gefühl des Sich-nicht-repräsenti­ert-Fühlens in den etablierte­n Spektren. Die aktuell auf der Hand liegenden Folgen: ein Auftreten neuer, gegen das Etablierte gerichtete­r Bewegungen, die für verschärft­en Wettbewerb und damit zunächst immerhin wieder für höhere Wahlbeteil­igungen sorgen – aber womöglich in undemokrat­ischem Geist. Und: katapultar­tige Ein-Mann-Karrieren, die ihr Programm betont als Alternativ­e zum politische­n Spektrum präsentier­en und mehr Volksnähe verspreche­n – orientiert am gesunden Menschenve­rstand statt an Ideologien, an Notwendigk­eiten statt Interessen­sverbänden. Trumps Selbstinsz­enierung weist in diese Richtung, Emmanuel Macron steht dafür.

So stehen die Zeichen zu Beginn der digitalisi­erten Zeit. Autoritäre Regime greifen über die neuen Kanäle, in denen sich Öffentlich­es und Privates mischen, tiefer ins Leben ihrer Menschen ein; in Demokratie­n ist daraus eine noch größere Lücke zwischen Volk und Regierung ent- in die Kräfte vorstoßen, die die Spaltung zu ihren Gunsten nutzen können und darum weiten wollen. Doch damit droht auch hier Radikalisi­erung. Denn wer sonst würde profitiere­n, sollte Macron scheitern, das bislang etablierte System aber inzwischen diskrediti­ert darniederl­iegen? Was könnte gegen diese gefährlich­e Lücke helfen?

Dazu in aller Kürze drei der Antworten, die derzeit am meisten verhandelt werden, jeweils beschriebe­n in aktuellen Büchern.

» Ursula Weidenfeld: Regierung ohne Volk – Warum unser politische­s Sys tem nicht mehr funktionie­rt

– Der Slogan hier lautet: „Wir müssen eine bessere Demokratie wagen.“Und zwar angelichen fangen direkt vor Ort, in den Kommunen, wo sich die Verankerun­g der Menschen im Staat als Erstes beweisen muss. Schon Ämter dürften nicht mehr hoheitlich auftreten, sondern müssten beispielsw­eise über digitale Bürgerbrie­fkästen für konkrete Hinweise offen sein. Der Staat muss seine Bürger wieder mehr einbeziehe­n, auch in komplexen Fragen – etwa mit repräsenta­tiver Beteiligun­g von Gruppen an Sachentsch­eidungen, die sonst nur von Fachleuten erörtert und entschiede­n werden. „Legitimati­on durch Kommunikat­ion“heißt das; die Politik muss also die Lücke schließen.

» George Pieper: Die neuen Ängste – und wie wir sie besiegen können

– Die Lücke wächst hier durch die komplexer werdende Welt, mit deren Gefahren die Menschen gerade durch die neuen Medien stärker konfrontie­rt sind – bei gleichzeit­ig fehlendem Vertrauen in die Lösungskom­petenz der Politik. Der Psychologe Pieper rät: Es geht nur miteinande­r – und mit kühlem Kopf. Die Politik muss Prostanden, bleme tabulos benennen, sich Wertefrage­n stellen. Und die Menschen werden um ihrer selbst Willen lernen müssen, mit unweigerli­chen Unsicherhe­iten einer sich verändernd­en Welt zu leben, ohne sich daran krank zu machen und auf einfache Lösungen zu hoffen.

»Ulrike Guérot: Der neue Bürgerkrie­g – Das offene Europa und seine Feinde

– Europa ist nicht nur das Rollenmode­ll, hier muss sich für die internatio­nale Politikwis­senschaftl­erin Guérot tatsächlic­h auch alles entscheide­n. Nur auf dieser Ebene können die akuten Probleme, die aus der neuen Wirtschaft­sund Netzwelt kommen, politisch gelöst werden. Doch dazu muss sich die Politik öffnen und die Menschen einladen, die Lücke zu überwinden – indem sie mit in Verantwort­ung und Entscheidu­ng genommen werden. So muss sich auch zeigen, wer und wie das Volk ist. Kleinere Lösungen werden auf Dauer nur die Konflikte innerhalb Europas verschärfe­n und auch die Probleme für die Demokratie in den Staaten.

 ?? Foto: akg ?? Der Klassiker einer düsteren Zukunftsvi­sion verkauft sich nicht zufällig in den USA wieder prächtig: George Orwells „1984“– hier in der berühmten Verfilmung von 1955. Wenn der „Große Bruder“allgegenwä­rtig ist: Was bleibt, als sich ihm jubelnd zu fügen?...
Foto: akg Der Klassiker einer düsteren Zukunftsvi­sion verkauft sich nicht zufällig in den USA wieder prächtig: George Orwells „1984“– hier in der berühmten Verfilmung von 1955. Wenn der „Große Bruder“allgegenwä­rtig ist: Was bleibt, als sich ihm jubelnd zu fügen?...
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