Eines langen Tages Reise in die Nacht
Chronik Schafft man es noch rechtzeitig oder bleibt man lieber, wo man ist? Am Samstag waren Tausende in der Stadt unterw wegs, um die Lange Nacht der Freiheit, den Evangelischen Kirchentag und das Theaterfestival „In Gottes Namen“zu erleben
Auf dem Elias Holl Platz gibt es zwei Äpfel als Wegzehrung in den Himmel und vor der Kresslesmühle zeigt sich: Satt wird nur, wer mit dem richtigen Pass durch die Welt reist.
Es ist die Nacht der Nächte in Augsburg: Zur Langen Nacht der Freiheit gibt es in diesem Jahr noch den Evangelischen Kirchentag und das Theaterprojekt „In Gottes Namen“. Wer da den Überblick behalten wollte, musste einen kühlen Kopf bewahren – fast unmöglich bei karibischen Temperaturen. Begleiten Sie uns auf unserem Marathon durch die Stadt.
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Er beginnt schon am Nachmittag, mit dem Höhepunkt des Projekts „In Gottes Namen“vom Theater Augsburg. Regie- und Schauspielstudenten der Akademie für Darstellende Kunst in Ludwigsburg untersuchen Schillers Monumentaldrama „Wallenstein“und stellen Teile davon in historische oder thematisch-aktuelle Bezüge. Sie zitieren, kompilieren, schreiben das Schauspiel fort. Im Kreuzgang des
Klosters Maria Stern – so abgeschieden wie zentral – ereignet sich die erste theatrale Umsetzung, ein „szenisches Hörspiel“rund um die Familie Wallenstein plus Max, Schwiegersohn in spe. Gegengeschnitten zu ihren politischen und privaten Problemen wird das Thema Mütterlichkeit, speziell dessen Neuausleuchtung durch Luther. Per Kopfhörer verfolgt das Publikum „Wallenstein“-Dialoge sowie lokalhistorische Erläuterungen – und betrachtet parallel dazu stumme szenische Aktionen im Kreuzgang und auf dem Rasengeviert. Das Ei spielt bei diesem Thema natürlich eine Rolle, der Einkaufs- und Kinderwagen, das Spieltier – und die Verstrickung. Die Aufführung hat stark performativen Charakter im Sinne zeitgenössischer Bildender Kunst,
und die Maria-Stern-Schwestern gliedern sich dienend in die Aufführung ein (Regie: Jasmin Schädler). Sie gießen still den Klostergarten und überhöhen das Finale mit mehrstimmigem Gesang. Ein Körperspiel, ein Gedankenimpuls.
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Heiß ist es um kurz vor fünf im An
nahof. Auf der Terrasse ist der Platz unter den Sonnenschirmen so knapp wie der freie Platz auf der Liegewiese im Freibad. Mehr Platz dafür vor der Bühne. Deutscher Hip-Hop beschallt den Platz. Man kann es nicht sehen, sich aber gut vorstellen: Dass mit jedem Bass, der über den Platz wummert, eine Reihe kleiner Ringe durch die Kaffeetassen der Terrassengäste schwappt. Bumm, bumm. Dann Pause, Ansage des nächsten Stücks: „Martin hat Gutes geleistet damals. Auf jeden Fall tragen wir das Werk weiter, für Jesus!“Die Evangelische Jugend tobt sich aus. Neben der Bühne köcheln die Mitglieder des Bikerstammtischs in dunkler Lederkluft. Ältere Herren vor blitzenden Maschinen. Die Hell’s Angels sind nicht dabei.
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Jetzt Fortsetzung „Wallenstein“im Hoffmannkeller. „Wallensteins Lager“, Teil 1 der Trilogie, liegt zugrunde. Aber weder draußen, im Ruhe- und Versorgungslager der gesperrten Kasernstraße, noch drinnen, tief im Gewölbe, drängeln sich Bataillone aus aller Herren Länder. Ein Massenlager wird zum Kammerspiel. Das Schauspieler-Quartett wirft sich mit Verve ins imaginierte Getümmel, tauscht die Rollen wie Hemden bzw. Brustpanzer, agiert auftritts- und körperbetont.
Klasse mimt in dieser Kleingruppen-Dynamik die burschikose Zoe Valks einen neu gekauften Soldaten, mit dessen Hoffnungen auf flottes Leben, Manneswert im Feld und lachendes Glück gleichzeitig Schandtaten gegenüber allen einhergehen, die Oberweite und Rock tragen. Der junge Soldat lernt schnell, sich zu nehmen, was er begehrt… Die Vorstellung (Regie: Johann Diel) schwebt angemessen tragikomisch.
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Eine Kirchturmuhr schlägt 18 Uhr. Auf dem Elias Holl Platz liegen 50 Holzstangen auf einem Haufen zusammen. „Heinz baut“heißt die Performance, aber der junge Mann, der sich mit den Stangen Stück für Stück in die Höhe knüpft, heißt Julian Bellini. Zwei Äpfel liegen neben den Stangen: Wegzehrung auf dem Weg in den Himmel.
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Und jetzt geht auch die Lange Kunstnacht endlich los – im Golde
nen Saal mit einem Streifzug durch Konzert und Oper, deren Schauplätze oft weniger freiheitlich sind als die in der heutigen Fuggerstadt. Was die Komponisten nicht daran hinderte, großartige, schöne Musik zu schreiben. Theaterchorleiterin Katsiaryna-Ihnatsyeva-Cadek dirigiert ein umjubeltes Programm: Natürlich Beethovens Gefangenenchor
aus „Fidelio“, dazu Luigi Cherubinis pralles Freiheitsdrama „Lodoiska“, Verdis „Traviata“, Bizets „Carmen“und vieles mehr.
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Vom Saal hinaus auf den Rathaus
platz: dort Gesang aus vielen Kehlen. Gezählt hat sie niemand, doch es dürften annähernd 2017 Sängerinnen und Sänger sein, die sich um Viertel nach sieben auf dem Rathausplatz einfinden. Ein Lied auf die Freiheit sollen sie anstimmen. Allerdings müssen sie sich zunächst gedulden, denn Irene Sperr und ihre Band testen erst mal die Verstärkeranlage aus, ehe die Vox Humana sich entfalten darf. Mächtig klingt schließlich das trotzige Volkslied „Die Gedanken sind frei“aus den Kehlen. Auch die weniger aufständische Strophe „Ich liebe den Wein, mein Mädchen vor allem“, die bitte vor allem die Herren singen sollen. Ach, wäre doch auch Luthers Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“im Repertoire, denn undurchdringlich verbarrikadiert ist der Festplatz zum Rathaus hin durch eine Kette von Lastwagen und Anhängern. Freiheit sieht anders aus.
*** „Wallenstein“zum Dritten. In der Brechtbühne wird es bei „Entscheide dich! mit Friedland Wallenstein“erst staunenswert satirisch – und dann bitterbös-zynisch. Die Idee dahinter: Wofür oder wogegen würde Wallenstein heute kämpfen? Die Antwort von Regisseurin Amelie Hafner und ihrem Schauspielerquartett: Wallenstein und seine Frau würden heute die Galionsfiguren einer illustren Charity-EventGesellschaft abgeben, die – mit positiven Pathossignalformeln wie „Hoffnung“, „Herz“, „Potenzial“, „Chance“, „Vertrauen“, „Leitstern“, „Kinder“, „Emotion“, „Herausforderung“, „Investition“, „Glück“– dem gutgläubigen Volk Spendengelder für eine tolle Zukunft der Bundesrepublik Deutschland aus der Tasche ziehen. Großartige, überdies sprachlich geschliffene Idee! Das würde mit Sicherheit auch klappen – wenn es nicht Störfeuer seitens der Gräfin Terzky und seitens Max Piccolomini geben würde, die linkssozial für das Volk und gegen die schwerreiche Machtspitze im Land antreten. Der Plot ist stark im ersten Drittel und im Finale, zwischenrein purzelte manches etwas unübersichtlich durcheinander. Am Ende aber blieb die herzlich lapidare Frage offen, ob es sich überhaupt lohne, diese Welt zu retten. Im Trubel der langen Kunstnacht wurde die Auseinandersetzung darüber erst einmal vertagt.
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Auf dem Weg zur Kresslesmühle noch einmal schnell bei „Heinz baut“auf den Elias Holl Platz vorbei. Julian Bellini hat begonnen, sieben Stangen sind mit Seilen schon aneinandergeknüpft, der Weg zum Himmel ist noch weit.
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Schafft man es noch rechtzeitig zu