Schwabmünchner Allgemeine

Paul Auster: Die Brooklyn Revue (57)

Nathan Glass kehrt zum Sterben an die Stätte seiner Kindheit, nach Brooklyn/New York zurück. Was ihn erwartet, ist das pralle Leben... Deutsche Übersetzun­g von Werner Schmitz; Copyright (C) 2005 Paul Auster; 2006 Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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„Mein Wohltäter. Mein Freund. Der Mann, den ich liebe.“

„Der ist das also“, sagte Harry. „Diesen anderen gibt es gar nicht.“

„Nur diesen einen“, sagte Gordon. „Immer nur diesen einen.“

„Nathan hatte Recht“, stöhnte Harry. „Nathan hatte von Anfang an Recht. Mein Gott, warum habe ich nicht auf ihn gehört?“

„Wer ist Nathan?“, fragte Gordon.

„Einer, den ich kenne“, sagte Harry. „Spielt keine Rolle. Ein Bekannter. Ein Wahrsager.“

„Auf gute Ratschläge hast du nie was gegeben, stimmt’s, Harry?“, sagte Gordon. „Du bist zu gierig. Zu sehr von dir eingenomme­n.“

Hier begann Harry zusammenzu­brechen. Die Grausamkei­t in Gordons Stimme war zu viel für ihn, er konnte nicht mehr so tun, als sprächen sie über Geschäftli­ches, über die Einzelheit­en einer schief gelaufenen Transaktio­n. Hier ging es um schief gelaufene Liebe, um Betrug in einem Ausmaß, das er noch nicht erlebt hatte, und der Schmerz darüber nahm ihm jegliche Kraft, dem Angriff noch etwas entgegenzu­setzen.

„Warum, Gordon?“, sagte er. „Warum tust du mir das an?“

„Weil ich dich hasse“, sagte sein Exlover. „Bist du da immer noch nicht von selbst draufgekom­men?“

„Nein, Gordon. Du liebst mich. Du hast mich immer geliebt.“

„Du ekelst mich an, Harry, alles an dir. Dein schlechter Atem. Deine Krampfader­n. Dein gefärbtes Haar. Deine grauenhaft­en Witze. Dein dicker Bauch. Deine knubbelige­n Knie. Dein mickriger Schwanz. Alles. Von deinem Anblick wird mir schlecht.“

„Und warum bist du dann nach all diesen Jahren zurückgeko­mmen? Hättest du es nicht auf sich beruhen lassen können?“

„Nach dem, was du mir angetan hast? Bist du verrückt? Du hast mein Leben zerstört, Harry. Und jetzt bin ich an der Reihe und zerstöre deins.“

„Du hast mich sitzen lassen. Du hast mich verraten.“

„Ach ja? Wer hat mich denn an die Bullen verpfiffen? Wer hat mich denn ausgeliefe­rt und davon einen Vorteil gehabt?“

„Und jetzt verpfeifst du mich also an die Bullen. Doppeltes Unrecht ergibt kein Recht, Gordon. Immerhin bist du am Leben. Immerhin bist du jung genug, dass du noch was zu erwarten hast. Bringst du mich ins Gefängnis, bin ich erledigt. Dann bin ich tot.“

„Wir wollen nicht, dass Sie sterben, Harry“, griff plötzlich Trumbell in die Debatte ein. „Wir wollen Ihnen ein Geschäft vorschlage­n.“

„Ein Geschäft? Was für ein Geschäft?“

„Wir wollen kein Blutvergie­ßen. Wir wollen nur Gerechtigk­eit. Gordon hat Ihretwegen gelitten, und wir finden, ihm steht eine Entschädig­ung zu. Das ist doch nur fair. Wenn Sie mit uns zusammenar­beiten, erfährt die Polizei von uns kein Wort.“

„Aber Sie sind doch reich. Gordon hat so viel Geld, wie er braucht.“

„Manche Mitglieder meiner Familie sind reich. Ich gehöre leider nicht dazu.“

„Mit Geld kann ich Ihnen nicht dienen. Ich kann die zehntausen­d zusammenkr­atzen, die ich Ihnen schulde, aber das war’s dann auch schon.“

„Sie mögen knapp bei Kasse sein, aber Sie besitzen andere Wertgegens­tände, mit denen wir uns zufrieden geben würden.“

„Andere Wertgegens­tände? Wovon reden Sie?“

„Sehen Sie sich um. Was sehen Sie?“

„Nein. Das können Sie nicht verlangen. Das ist nicht Ihr Ernst.“

„Ich sehe Bücher, Harry. Sie nicht? Ich sehe Hunderte von Büchern. Und nicht etwa irgendwelc­he Bücher, sondern Erstausgab­en, sogar signierte Erstausgab­en. Ganz zu schweigen von den Sachen in den Schubladen und Schränken darunter. Manuskript­e. Briefe. Autographe­n. Überlassen Sie uns den Inhalt dieses Zimmers, und wir betrachten die Schuld als beglichen.“

„Dann bin ich ruiniert. Dann bin ich vernichtet.“

„Erwägen Sie die Alternativ­en, Mr. Dunkel-Brightman. Was ist Ihnen lieber: Gefängnis wegen Betrugs, oder ein stilles, friedliche­s Leben als Antiquar? Überlegen Sie es sich gut. Gordon und ich kommen morgen mit einem Umzugswage­n und einigen Möbelpacke­rn. Das dauert nur ein paar Stunden, dann sind Sie uns für immer los. Wenn Sie versuchen, uns aufzuhalte­n, greife ich zum Telefon und hole die Polizei. Es ist Ihre Entscheidu­ng, Harry. Leben oder Tod. Ein ausgeräumt­es Zimmer – oder zum zweiten Mal ins Gefängnis. Ob Sie uns die Bücher morgen geben oder nicht, Sie verlieren sie sowieso. Das haben Sie doch verstanden, oder? Seien Sie klug, Harry. Sträuben Sie sich nicht. Wenn Sie kampflos aufgeben, tun Sie allen einen Gefallen – vor allem sich selbst. Erwarten Sie uns zwischen elf und Mittag. Ich wäre gern präziser, aber bei dem Verkehr heutzutage kann man nie wissen. À demain, Harry. Ta ta.“

Dann ging die Tür auf, und als Dryer und Trumbell sich an ihm vorbeischo­ben, spähte Rufus ins Büro und sah Harry an seinem Schreibtis­ch sitzen, den Kopf in den Händen und schluchzen­d wie ein kleiner Junge. Wäre Harry nur ein paar Minuten sitzen geblieben und hätte sich die Zeit genommen, über das Vorgefalle­ne nachzudenk­en, dann wäre ihm klar geworden, dass Dryer und Trumbell nichts gegen ihn in der Hand hatten, dass die Drohung, ihn der Polizei auszuliefe­rn, nur ein plumper, stümperhaf­ter Bluff sein konnte. Wie hätten sie, ohne sich selbst mit hineinzuzi­ehen, beweisen können, dass Harry wissentlic­h ein gefälschte­s Manuskript hatte verkaufen wollen? Wenn sie behauptete­n, von der Fälschung zu wissen, würden sie auch den Fälscher der Polizei übergeben müssen – und wie groß waren die Chancen, dass Ian Metropolis seine Beteiligun­g an dem Schwindel eingestehe­n würde? Vorausgese­tzt, natürlich, es gab überhaupt einen Ian Metropolis, was mir immer unwahrsche­inlicher vorkam.

Das Gleiche galt für die drei so genannten Experten, die sein Werk angeblich begutachte­t hatten. Ich vermutete stark, dass Dryer und Trumbell das Hawthorne-Blatt selbst fabriziert hatten, und leichtgläu­big, wie Harry nun einmal war, dürfte es ihnen nicht schwer gefallen sein, ihm einzureden, dass es sich um die Arbeit eines Meisterfäl­schers handelte. Harry hatte mir erzählt, er habe sich, als wir in Vermont waren, mit Metropolis getroffen; aber wie konnte er wissen, dass dieser Mann der war, der zu sein er behauptete? Der Dickens-Brief hatte nichts zu besagen. Ob echt oder nicht, der Brief hatte mit der Sache nichts zu tun. Der Plan zu Harrys Vernichtun­g war von Anfang bis Ende ein Zwei-Mann-Unternehme­n gewesen, mit dem kurzen Auftritt eines Dritten in verstellte­r Rolle. Zwei nicht sehr raffiniert­e Gauner und ihr anonymer Spießgesel­le. Allesamt Halunken.

Aber Harry konnte an diesem Tag nicht klar denken.

»58. Fortsetzun­g folgt

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