Big Ben läutet nicht mehr
Um 12 Uhr verstummen am Montag die Glocken des Londoner Wahrzeichens. Und ein Abgeordneter weint
Als gestern Mittag das dunkle „Bong“aus dem Londoner Elizabeth Tower schallt, halten Taxis am Straßenrand an und deren Fahrgäste kurz inne. Die berühmten roten Doppeldeckerbusse stoppen, tausende Menschen, die sich auf den Gehsteigen versammelt haben, blicken hinauf auf die Zifferblätter der altehrwürdigen Uhr: Ihr ZwölfUhr-Läuten ist das vorerst letzte. In der Menge brandet Applaus auf.
Big Ben, die größte der fünf Glocken des Uhrturms am Westminster-Palast, der ebenfalls als Big Ben bekannt ist, gilt als „Königin aller Glocken“: Die Ikone aus viktorianischer Zeit ist 2,28 Meter groß und 13,7 Tonnen schwer – was ungefähr dem Gewicht von drei kleinen Afrikanischen Elefanten entspreche, wie eine britische Zeitung jüngst erklärte. Nach 157 Jahren im Dienst wird unter anderem die Uhr renoviert. Und die Glocke, seit 1859 in Betrieb und im Volksmund „Stimme Britanniens“genannt, soll für vier lange Jahre verstummen.
Am Turm wie in Teilen des Westminster-Palasts sind Bauarbeiter am Werk, um das vor sich hin bröckelnde Gebäude zu retten und die Fassade zu erhalten. In den Turm selbst werden ein Aufzug, eine Küche und eine Toilette eingebaut. Die Bauarbeiter sollen, so der Grund für das Verstummen der Glocken, von deren lautem Wummern nicht gestört werden. Den heftigen Reaktionen aus Politik und Medien nach zu urteilen, könnte man meinen, es handle sich dabei um eine nationale Katastrophe.
Big Ben und Großbritannien sind untrennbar miteinander verbunden – selbst die begannen zweimal täglich mit dem Schlagen von Big Ben. Live. Nicht einmal die deutsche Luftwaffe habe es während des Zweiten Weltkrieges geschafft, die Glocken zum Schweigen
BBC-Radionachrichten
zu bringen, schimpften Politiker nun und empfahlen Kopfhörer für die Arbeiter. Der gegenwärtige Aufruhr überrascht – immerhin haben drei Ausschüsse den Renovierungsarbeiten zugestimmt, die die Stilllegung von Big Ben mit sich bringen. Nur zu besonderen Anlässen, etwa zu Silvester, soll das Geläut künftig erklingen.
Der Labour-Abgeordnete Stephen Pound steht gestern in der Menschenmenge und wischt sich mit einem Taschentuch eine Träne aus dem Auge. Ob ihn da die Trauer übermannte oder er ein Schauspiel für die Medien aufführe? Natürlich meine er es ernst, sagt er beinahe beleidigt. Und tatsächlich zeigen sich die sogenannten Traditionalisten unter den Parlamentariern untröstlich. Sogar Premierministerin Theresa May schaltete sich ein.
Nach ihrer Rückkehr aus dem mehr als dreiwöchigen Wanderurlaub widmete sie sich nicht zuallererst dem Dauerthema Brexit. Sondern der alten Uhr mit ihrer imposanten Glocke. Man wolle selbstverständlich die Sicherheit der Arbeiter gewährleisten, sagte sie, aber es könne „nicht richtig sein“, dass Big Ben für vier Jahre verstumme. Entsprechende Pläne sollen jetzt noch einmal auf den Prüfstand, kündigte das Parlament mittlerweile an. „Vergesst Brexit. Wir müssen die Sache mit Big Ben regeln“, überschrieb daraufhin eine Kolumnistin der Zeitung ihren bissigen Kommentar.
Guardian