Eulenspiegel gerät in die Gräuel des Dreißigjährigen Kriegs
Sein jüngster Roman „Tyll“liest sich so drastisch wie grotesk. Er führt auch an den Ammersee und nach Schwaben
Ist es Gier oder grenzenlose Dummheit? Warum kann Kurfürst Friedrich V. diesem Angebot nicht widerstehen? Alle raten ihm ab, sein Schwiegervater, der König von England, und auch seine Vertrauten. Aber die Königskrone, die ihm auf dem Silbertablett angeboten wird, kann er einfach nicht ausschlagen. Er, Friedrich V., der Anführer der Protestanten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, wird nun auch König sein. Gegen den Willen des Kaisers krönen ihn die Böhmen 1619.
Nur ein Jahr später hat Friedrich V. alles verloren: das Königreich, sein altes Stammland, die Kurpfalz, dazu seine Kurwürde. Der Kaiser verhängte die Reichsacht. Und noch viel schlimmer: Dieser lange Krieg, der von Friedrichs Königskrönung ausgelöst wurde, endet erst 1648 mit dem Westfälischen Frieden.
In seinem neuen Roman „Tyll“führt der Schriftsteller Daniel Kehlmann seine Leser in das 17. Jahrhundert, in die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs. Die Ordnung der Welt liegt in Trümmern. Gekämpft wird im Zeichen des Glaubens, aber für die Menschen in den Dörfern und Städten macht es keinen Unterschied, ob die protestantischen oder katholischen Söldnereinheiten nun zum Schutz oder als Gegner einmarschieren: Sie morden, brandschatzen und plündern in beiden Fällen.
Eine der Hauptfiguren des neuen Kehlmann-Romans ist Friedrich V., der als Winterkönig in die Geschichte eingegangen ist. Kehlmann folgt diesem Friedrich 1632 auf einem Ritt von seinem Exil in Den Haag zum Schwedenkönig Gustav Adolf. Dort will er von König zu König verhandeln, von Protestant zu Pro- Aber das Gespräch unter Gleichen findet nicht statt, weil der eine König seine Armee in der Hinterhand hat und der andere nur ein Königreich, das er verloren hat. Wie ein Hochstapler, der als Einziger an sich glaubt, verhandelt Friedrich V. – und hätte beinahe Erfolg, denn Gustav Adolf schlägt dem Winterkönig vor, ihm seine Kurpfalz als Lehen zu geben. Aber das ist für den Winterkönig inakzeptabel, da unter seiner Würde. Als Lehen von Gustav Adolfs Gnaden will er die Kurpfalz nicht zurück.
Wie in seinem Welterfolg „Die Vermessung der Welt“wendet sich Kehlmann in „Tyll“einem historischen Stoff zu. Nur, dass er jetzt die Vorzeichen getauscht hat. Beschrieben wird nicht mehr das Zeitalter der Aufklärung, sondern die Epoche zuvor. Die Religion geht nahtlos in Aberglaube über; Gebete werden zu Zaubersprüchen; und der Großgelehrte Athanasius Kircher schreibt über seine Suche nach dem Tatzelwurm in Holstein, noch bevor er überhaupt dazu aufbricht.
Als roter Faden quer durch den Roman dient Kehlmann die mythische Figur des Till Eulenspiegel, bei ihm Tyll Ulenspiegel, den er kurzerhand aus dem späten Mittelalter ins 17. Jahrhundert verpflanzt. Dieser Tyll kommt in allen Kapiteln und Episoden vor, aber nicht immer als Hauptfigur oder Erzähler. Zu Beginn wird Tyll von einem Mädchen beschrieben. Er tritt in einem Dorf auf und bringt alle Bewohner dazu, letztlich sich gegenseitig an die Gurgeln zu gehen. So ist der Mensch. Alle leben friedlich miteinander, aber es braucht nicht viel, manchmal nur einen Narren, und alle kämpfen gegen alle.
In einem langen Kapitel wird die Geschichte erzählt, wie Tyll als Sohn eines Müllers zum fahrenden Volk wechselt. Da kommt ein Hexenprozess ins Spiel, der grotesker nicht beginnen könnte. Tylls Vater, der Müller, wollte schon immer mehr von der Welt wissen. Er las Bücher, kannte Zaubersprüche und beschäftigte sich mit dem Problem, wie viele Körner man von einem Haufen Körner wegnehmen muss, damit der Haufen kein Haufen mehr ist. Ein Problem, an dem man verrückt werden kann. Als endlich zwei gelehrte Jesuiten bei ihm an der Mühle klopfen, glaubt Claus Ulentestant. spiegel, endlich einmal ebenbürtige Gesprächspartner zu haben. So bemerkt der Müller nicht, dass er sich bei ihnen um Kopf und Kragen redet. Schließlich machen die beiden ihm den Prozess. Der Müller lernt den Henker kennen und Tyll wird ein Narr.
Raffiniert erzählt Kehlmann einzelne Episoden seines Romans: Tyll Ulenspiegel, der mit dem Winterkönig zu Gustav Adolf reist; Tyll Ulenspiegel, der von Martin von Wolkenstein, einem Nachfahren des Minnesängers Oswald, im Kloster Andechs gesucht wird, ihn dort auch findet und mit ihm zusammen in die letzte große Feldschlacht des Dreißigjährigen Kriegs gerät: zwischen Zusmarshausen und Augsburg. Später, wie der Gelehrte Athanasius Kircher in Holstein einen Tatzelwurm sucht und in der Kutsche mit dem Barock-Dichter Paul Fleming über die Vorzüge des Deutschen spricht. Zum Schluss ist es die Winterkönigin, die in die Verhandlungen zum Westfälischen Frieden mit einem unglaublichen Vorschlag hineinplatzt.
Auf der einen Seite entfaltet Kehlmann in Schlaglichtern ein Panorama dieses Kriegs, andererseits folgt er als Schriftsteller seinen ureigenen Themen: der Figur des Zauberers, der Erschaffung von Dingen aus dem Nichts, dem von seinen existenziellen und alltäglichen Problemen zerrissenen Menschen.
Mit „Tyll“ist Kehlmann ein großer Roman gelungen. Er schildert die Brutalität des Dreißigjährigen Kriegs und zaubert gleichzeitig groteske Situationen herbei. Er ist drastisch und witzig, erzählt auf der einen Seite anteilnehmend und auf der anderen postmodern, wenn der Erzähler die Lebensgeschichte des Martin von Wolkenstein kommentiert und erklärt, wo überall der Autor sein eigenes Leben kaschiert, wo er andere zitiert und sich fremde Texte aneignet.
Daniel Kehlmanns Figuren leben – und wirken nicht wie die Schachfiguren eines Schriftstellers. Die Vergangenheit dient ihm auch nicht als bloßer Spiegel für die Gegenwart. Sein Roman will keine aktuelle Parabel sein, und dies führt dazu, dass der Leser unweigerlich ständig Parallelen zieht und nachliest, welche Figuren historisch sind und ob die geschilderten Ereignisse echt sind. Immer wieder springen einen Sätze förmlich an, etwa wenn der Abt von Andechs nach einer fürchterlichen Schilderung seiner Kriegserlebnisse sagt, nur wenn man sich erinnere, habe das Leiden einen Sinn gehabt. Hat das Leiden einen Sinn? Erinnert sich heute noch jemand an die Leiden des Dreißigjährigen Kriegs? Heute ist er vergessen, obwohl er ein Trauma hinterlassen hat. Kehlmann ruft einem das auf furiose Weise ins Gedächtnis.
Vom Brandschatzen, vom Morden und vom Plündern
Verlag Rowohlt, 474 Seiten, 22,95 Euro