Wann ist ein Leben lebenswert?
Am Freitag gedenkt der Bayerische Landtag in Ursberg der Opfer des NS-Euthanasieprogramms. Eine Aufforderung, sich auch heute mit Grundfragen menschlicher Existenz auseinanderzusetzen
Friedrich Seyfried hofft bis zuletzt, dass er wieder in sein geliebtes Ursberg zurückkehren kann. 1935 kam er im Alter von 13 Jahren in die von Dominikus Ringeisen gegründete Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Dabei war der lebensfrohe Bub von Geburt an nicht behindert und normal begabt. Durch eine eitrige Ohrenentzündung hatte er jedoch sein Gehör verloren. Nach sieben Jahren auf der Volksschule wechselt er daher an die Taubstummenschule nach Ursberg, ehe er ab 1936 in der Korbflechterei des Ringeisenwerks eine Beschäftigung findet. Schnell lernt er die Gebärdensprache, kann sich aber auch in der Lautsprache ganz normal ausdrücken.
Für die Nationalsozialisten galten Menschen mit Behinderungen wie Friedrich Seyfried als lebensunwert. In den Schulbüchern der Zeit finden sich perfide Kosten-Nutzen-Rechnungen, wie viel ein behinderter Mensch dem Staat bringt – und wie viel er kostet. Im richtigen Leben kam ein negatives Ergebnis jedoch einem Todesurteil gleich. Im Zuge des Euthanasieprogramms wurden rund 200 000 Menschen mit körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen systematisch ermordet. Dazu wurden diese Menschen in aller Regel in sogenannte Tötungsanstalten verlegt, wo sie entweder gezielt getötet wurden oder langsam verhungerten.
Im März 1941 wird Friedrich in die Heil- und Pflegeanstalt nach Eglfing-Haar verlegt. Dort starben von 1939 bis 1945 rund 1800 Patienten an Unterernährung. 332 Kinder wurden gezielt ermordet. Mehr als 2000 wurden von der oberbayerischen Einrichtung aus in Tötungsanstalten geschickt.
Seyfried lässt man bis zuletzt in dem Glauben, er könne wieder nach Ursberg zurückkehren. In seinem letzten Brief an die Schwestern in Ursberg vom 3. Juni 1941 bedankt sich Seyfried für die Pfingstgrüße, die die Schwestern geschickt hatten, und schreibt von seiner Sehnsucht nach Ursberg: „Ich bete ja immer und beharrlich, dass wir, ich, Sporer und Meister Johann, bald wieder nach Ursberg kommen dürfen. Übrigens hab ich erfahren, dass wir bald nach Ursberg zurückkehren dürfen. Mit jedem Tag wächst meine Sehnsucht nach Ursberg.“Am 20. Juni 1941 steigen Seyfried und 44 weitere Kinder, Jugendliche und Erwachsene in einen Bus. Doch das Ziel ist nicht Ursberg, sondern die Tötungsanstalt in Schloss Hartheim. Aus den Einrichtungen des Dominikus-Ringeisen-Werks (DRW) in Ursberg, Maria Bildhausen und Kloster Holzen wurden 519 Menschen deportiert. 379 von ihnen starben in den Tötungsanstalten des Euthanasieprogramms.
Ihrer und aller anderen Opfer des Nationalsozialismus wird am kommenden Freitag, 26. Januar, bei der zentralen Gedenkveranstaltung des Bayerischen Landtags in Ursberg (Kreis Günzburg) gedacht. Neben der Landtagspräsidentin Barbara Stamm werden auch Innenminister Joachim Herrmann, Karl Freller, Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, und der ehemalige Finanzminister Theo Waigel Ansprachen halten. Bereits um 10 Uhr findet eine öffentliche KranzniederSeyfried legung am Mahnmal für die Opfer des nationalsozialistischen Tötungsprogramms im Klosterhof statt. Der
berichtet ab 11 Uhr live von der Veranstaltung.
Das Gedenken an die Opfer der Nationalsozialisten, insbesondere des Euthanasieprogramms, dient in den Augen der Verantwortlichen des Ringeisen-Werks nicht nur der Vergangenheitsbewältigung. Die „Frage, was lebenswert ist und was nicht“, werde auch heute noch gestellt und beantwortet, sagt Schwester Katharina Wildenauer, Generaloberin der Ursberger St. Josefskongregation und Mitglied im Stiftungsrat des DRW. Sie denkt dabei vor allem an die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik und die Debatte über Sterbehilfe unheilbar Kranker. „Die Selbstverständlichkeit, mit der Abtreibungen vorgenommen werden, ist schon ein Urteil über das Leben“, sagt die Franziskanerin. Es
Bayerische Rundfunk
zeuge vom Egoismus der Menschen. Wer könne denn beurteilen, welches Leben wert oder unwert sei, fragt sie.
In der Tat werde diese Frage vor allem am Anfang und am Ende des Lebens aufgeworfen, sagt auch Wolfgang Tyrychter, Mitglied im Vorstand des DRW. „Wir können nicht einfach nur sagen, das sind die grauen Bilder aus der Vergangenheit.“Im Unterschied zur systematischen Aussortierung damals durch den NS-Staat handele es sich heute um eine individuelle Entscheidung. Die Diagnose, ihr ungeborenes Kind werde behindert sein, bringe Eltern in eine ungeheuer belastende Entscheidungssituation, räumt Tyrychter ein. Allerdings liege die Zahl der durch soziale Faktoren bedingten Schwangerschaftsabbrüche mehr als dreißig Mal höher als die der aus medizinischen Erwägungen getroffenen Entscheidungen.
„Es scheint ein menschlicher Wesenszug zu sein, zu glauben, man könnte alle Lebensrisiken ausschließen. Die allermeisten Behinderungen entstehen aber erst nach der Geburt. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir als Gesellschaft dazu stehen, dass es beides gibt“, sagt Tyrychter, räumt jedoch ein: „Es ist nichts selbstverständlich und es ist nichts einfach.“Insofern sei es gut, dass der Landtag das Thema aufgreift. „Wir haben derzeit starke Stimmen, die diese Diskussion zum Verstummen bringen wollen. Aber Erinnerungskultur ist wichtig. Die Erinnerung zeigt uns, wie es gehen kann, wenn wir nicht daran arbeiten.“Die Gesellschaft brauche eine Werteund eine Rechtebasis, um mit diesem Thema und dem medizinischen Fortschritt umgehen zu können.
Ein negatives Ergebnis kam einem Todesurteil gleich