Wohin geht die Reise?
Christian Prokop hat sich bereits vor der Europameisterschaft angreifbar gemacht. Doch nach dem Aus wird am Trainer öffentlich kaum Kritik geübt. Fraglich, ob das nach der Analyse auch so bleibt
Das Publikum in der Arena von Neu-Ulm hat die Mannschaft gerade mit viel Applaus in Richtung Kroatien verabschiedet. Der letzte Test vor der Europameisterschaft verlief glänzend. 30:21 gegen Island. Die Frage nach der Leistungsfähigkeit des Titelverteidigers ist beantwortet, die nach der Zusammenstellung des Kaders noch nicht. Christian Prokop, seit zehn Monaten Bundestrainer der deutschen Handballer, ist beseelt davon, neue Wege zu gehen, ruft seine Jungs noch einmal zusammen. Eine letzte Besprechung, ehe sie zwei Tage zu Hause Kraft tanken sollen. 20 Spieler blicken ihren Coach gespannt an. Dann lässt er die Katze aus dem Sack: Finn Lemke, Marian Michalczik, Rune Dahmke und Fabian Wiede bleiben zu Hause. Michalczik, Dahmke und Wiede sorgen kaum für Wirbel. Das Aus für Lemke besitzt aber eine Wucht, die Prokop unterschätzt hat. Es ist sein größter Fehler. Wohl auch der Unnötigste. Vielleicht kostet er ihn sogar seinen Job. Denn diese Entscheidung setzt einen Prozess in Gang, der während des Turniers nicht mehr gestoppt werden kann. Eine Entfremdung zwischen Trainer und Mannschaft beginnt. Das Team kann in großen Teilen nicht nachvollziehen, warum ihnen der neue Chefcoach das Herz herausreißt. Lemke ist nicht bloß der Abwehrchef. Kein anderer in dieser Truppe besitzt ein höheres Standing als der 25-Jährige.
18 Tage später sitzt Prokop in Sveti Martin, rund 30 Kilometer nördlich von Varazdin gelegen, auf dem Podium. Sein Blick ist trüb. Er fühlt sich sichtlich unwohl. Es ist sein letzter Pressetermin bei dieser EM. Gleich geht es nach Hause. Heimreise statt Halbfinale. Deutschland ist krachend gescheitert. Durch glückliche Umstände besaß das Team am Mittwochabend die Möglichkeit, mit einem Sieg gegen Spanien, doch das Halbfinale zu erreichen. Dort trifft Spanien nun auf Frankreich, Dänemark spielt gegen Schweden. „Dass wir überhaupt die Chance hatten, aus eigener Kraft das Ding zu wuppen, war schon eigentlich ein Unding“, sagt Torwart Silvio Heinevetter. Er denkt wohl in diesem Moment an die Niederlage gegen Dänemark und die glücklichen Remis gegen Slowenien und Mazedonien. Normalerweise ist man bei diesen Vorleistungen schon vor dem letzten Match raus. Doch die deutsche Mannschaft bekommt diesen Joker und verspielt ihn grandios. Nach dem 15:15-Zwischenstand (34.) der Titelverteidiger acht Tore in Folge – innerhalb von zehn Minuten. „Wir haben uns verhalten wie eine Schülermannschaft“, schimpft Andreas Wolff hinterher. Viele seine Mitspieler stellen sich, sagen aber nicht viel. Von einem entrückten Verhältnis zu ihrem Trainer wollen sie in diesem Moment aber alle nichts wissen. „So eikassiert nen Scheiß will ich nicht hören“, echauffiert sich Patrick Groetzki.
„Die Leistungsträger haben es nicht geschafft, die Mannschaft zu führen“, sagt Bob Hanning. Der Vizepräsident des Deutschen Handball-Bundes redet Klartext. Er nimmt auch die Spieler in die Pflicht. „Manche waren nicht in Form.“Hanning will nun ausgiebig analysieren. „Ernst, ehrlich und hart zu uns selbst“, wie er sagt.
Am Donnerstag stärkt er dem Bundestrainer, den er unbedingt haben wollte und für den er im Sommer 500000 Euro Ablöse an den SC DHfK Leipzig überwies, den Rücken. „Er steht für mich nicht zur Disposition. Das Ziel ist es, mit ihm weiterzumachen.“Während des Turniers hat er ihn so manches Mal öffentlich vorgeführt.
Auch das gehört zu der Geschichte dieser zwei Wochen von Kroatien, in denen Prokop von Beginn an verkrampft wirkt. Er hilft seiner Mannschaft zu wenig, er verunsichert sie vielmehr. Der Leipziger, der noch einen Vertrag bis 2022 besitzt, lässt einstige Stammkräfte wie Steffen Fäth und Julius Kühn anfangs links liegen, baut unter anderem auf Maximilian Janke, der dieses Vertrauen nie zurückzahlt. Prokop findet keine Stammformation, richtet seine Taktik viel zu sehr nach dem Gegner aus. Der eine oder andere erzählt hinter vorgehaltener Hand, dass der Coach alles bis ins kleinste Details vorgibt, immer das letzte Wort haben will. „Ich habe bei diesem Turnier viele Erfahrungen sammeln können. Viel Negatives, aber daraus muss ich jetzt meine Schlüsse ziehen“, sagt Prokop, ehe er sich auf die Heimreise begibt. Dass er Finn Lemke zunächst nicht in seinen 16er-Kader berufen hat, sieht er immer noch nicht als Fehler. Schließlich hat er ihn ja nach zwei Spielen nachnominiert. „Eine richtige Korrektur“, nennt er das. Eine, die zu spät kam. Die Risse waren nicht mehr zu kitten.